Die Verdrängung von Jüdinnen und Juden aus ihren Wohnungen ab 1939
Die Errichtung des Zwangswohnheims im November 1941 gehörte zu den Maßnahmen, mit denen die NS-Verwaltungen massiv ins Leben der jüdischen Deutschen eingriffen. Schon mit dem ‚Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden‘ vom 30. April 1939 war die ‚rechtliche‘ Grundlage für das folgende Unrecht gelegt, nämlich jüdischen Deutschen die freie Wahl der Wohnung zu verwehren.
Mit den folgenden Maßnahmen verfolgte die NS–Verwaltung mehrere Ziele: Jüdische Deutsche von Nichtjuden räumlich und sozial zu trennen, sie in beengten Wohneinheiten zusammen zu drängen und den ‚frei‘ gewordenen Wohnraum ‚Ariern‘ zur Verfügung zu stellen, wobei mit Kriegsbeginn der Wohnungsbedarf von Rüstungsarbeitern und ihren Familien Vorrang bekam. In vielen Städten hatten nichtjüdischen Vermieter ihren jüdischen Mietern gekündigt. Diese konnten jetzt nur in ‚jüdischen‘ Häusern eine neue Wohnung finden, wobei die ‚jüdischen‘ Hauseigentümer den Zuzug dulden mussten. Oft entstand somit in den ‚Judenhäusern‘ drangvolle Enge, was eine gewollte Schikane und Demütigung darstellte.
Auch wurden bestehende jüdische Einrichtungen gezwungen, weit mehr Personen aufzunehmen als es die räumlichen Voraussetzungen eigentlich erlaubten, so z.B. beim jüdischen Altersheim ‚Wilhelmspflege‘ in Sontheim bei Heilbronn. Zum Teil wurden jüdische Einrichtungen auch mehr oder weniger zwangsweise umgewidmet, so in Herrlingen bei Ulm, wo das jüdische Landschulheim zum Altersheim wurde.
Eine weitere Zwangsmaßnahme bestand darin, jüdische Einwohner aus Städten in Landgemeinden zwangsweise einzuquartieren, wo traditionell eine jüdische Bevölkerung lebte, so z.B. in Haigerloch.
Schließlich wurden (weitgehend leer stehende) herunter gekommene Schlösser als Zwangswohnheime für meist ältere jüdische Menschen missbraucht. In Württemberg waren das die Schlösser von Dellmensingen, Eschenau, Oberstotzingen, Tigerfeld und Weißenstein. Das Schloss Weißenstein gehört mit 60 „Umgesiedelten“ (nur etwa 40 lebten aber gleichzeitig im Schloss) zu den kleineren Einrichtungen, bestand aber länger als andere, nämlich von Ende Oktober 1941 bis August 1942.
Das Schloss Weißenstein in der einstigen Stadt Weißenstein
Weißenstein, das seit 1974 eine Teilgemeinde der Stadt Lauterstein ist, befindet sich im Osten des Landkreises Göppingen, der 1938 etabliert worden war. Die Stadt liegt ca.20 km östlich von Göppingen in einem tief eingeschnitten Tal der Schwäbischen Alb. Weißenstein hatte im Jahr 1941 etwa 800 Einwohner und war von der Land- und Forstwirtschaft, von gräflichen Bauwerken und vom katholischen Glauben geprägt. Bei der letzten, kaum noch demokratischen Reichstagswahl von 5. März 1933 gingen 48 % der Wählerstimmen in Weißenstein an die katholisch orientierte Zentrumspartei, 6 % die SPD und 45 % die NSDAP.
Dass die NSDAP damals nicht die relativ stärkste Partei wurde, ist im reichsweiten Vergleich außergewöhnlich. In Weißenstein gab es im 20. Jahrhundert keine eingesessene jüdische Bevölkerung. Juden konnten in der frühen Neuzeit allerdings zeitweilig auf dem Territorium der Herren von Rechberg siedeln, anders als in den umliegenden württembergischen und ulmischen Gebieten. Ein negativ herausragendes Ereignis in der Ortsgeschichte Weißensteins war die grausame Hinrichtung des jüdischen Straftäters Ansteet im Jahr 1553 am Fuße des Galgenbergs. Auch wenn die Weißensteiner im Ort keine jüdischen Nachbarn hatten, war eine persönliche Begegnung zwischen Nichtjuden und Juden möglich, denn in der nur 11 km entfernten Gemeinde Süßen lebten mehrere jüdische Familien, darunter die Viehhändler Lang.
Zudem: Als ‚Luftkurort‘ hatte Weißenstein seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts auch jüdische Feriengäste aus Stuttgart und Umgebung angezogen. Die einzige Synagoge im Landkreis stand in Göppingen, war aber in der Pogromnacht vom 9. zum 10. November 1938 von Nazi-Banden zerstört worden. Der letzte Göppinger Rabbiner war danach aus Deutschland geflohen.
Das Schloss Weißenstein, wie es sich 1941 präsentierte, basierte auf Erweiterungsbauten und Renovierungen aus dem 17. und dem 19. Jahrhundert. Es liegt oberhalb der Stadt am steilen Berghang auf einer Tuff-Terrasse, welche durch Kalkablagerung des Wassers aus dem nahen Forellenloch (Karstquelle) entstanden ist.
Seit Jahrhunderten war das Schloss im Besitz der adligen Familie(n) von Rechberg, es war neben dem Schloss Rechberg (seit 1865 eine Ruine) deren zweites Stammschloss, wurde aber von der Familie schon seit den Zwanzigerjahren nicht mehr bewohnt. Das Donzdorfer Schloss wurde zum Hauptwohnsitz. Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts stellten die von Rechberg auch die Ortsherrschaft in Weißenstein und Umgebung. Im Jahr 1941 war der 1885 in Weißenstein geborene Joseph Graf von Rechberg und Rothenlöwen Eigentümer des Weißensteiner Schlosses, weiterer Schlösser, großer Gutshöfe und vieler Land- und Forstflächen im Umland.
Durch Vertrag zum Zwangswohnheim erklärt
Im Sommer 1941 fanden Beratungen statt, ob im Schloss Weißenstein ein ‚Wohnheim‘ für Juden eingerichtet werden könnte. An einem Treffen im Donzdorfer Schloss des Grafen von Rechberg nahmen teil: Der Graf als Eigentümer des Weißensteiner Schlosses, Vertreter des Landratsamts Göppingen, des württembergischen Innenministeriums, der Gauleitung, der Gestapo, der Hirth–Motorenwerke sowie der Weißensteiner Bürgermeister August Wahl. Die Beratungsrunde erachtete (mehrheitlich?) das Schloss für geeignet. Neben den Kriterien wie ‚leerstehend, billig und ohne Nutzungsalternative’ dürfte auch die Gegebenheit zur Auswahl beigetragen haben, dass der Bahnhof von Weißenstein nur gut einen Kilometer vom Schloss entfernt lag, denn der NS-Staat plante schon damals die Deportation und Ermordung der deutschen Jüdinnen und Juden.
Im Weißensteiner Ratsprotokoll vom 19. September 1941 wird deutlich, dass die Stadt Weißenstein drei Teilverträge abzuschließen hatte:
- Mit der Gräflich von Rechberg’schen Zentralkanzlei über die Nutzung des Südostflügels des Schlosses.
- Mit der Jüdischen Kultusgemeinde Württemberg e.V. (die den NS-Behörden gegenüber weisungsgebunden war).
- Mit der Hirth–Motoren G.m.b.H Stuttgart–Zuffenhausen.
Ein vierter, entscheidender ‚Vertragspartner‘ wird nicht genannt: Der NS-Staat mit seinen staatlichen und parteilichen Organisationen wie Gestapo und SS, die das letzte Wort hatten.
Eine kurze Zusammenfassung der Verträge:
1. Der Vertrag vom 18.08.1941 zwischen Stadt der Weißenstein und der Rechberg’schen Zentralkanzlei besagt: Der Schlosseigentümer, die Rechberg’sche Zentralkanzlei, erhält von der Stadt Weißenstein eine vergleichsweise geringe Pacht von 600 Reichsmark (RM) jährlich. Das wird deutlich, wenn man diesen Betrag mit den ca. 5000 RM vergleicht, die Alexander von Bernus als Eigentümer des vergleichbaren Schlosses in Eschenau für 9 Monate Nutzung als Zwangsaltenheims einstreichen konnte. Wahrscheinlich handelt es um ein Entgegenkommen des Grafen gegenüber der Stadt Weißenstein. Im besten Fall war es dem Nicht-Nazi Josef von Rechberg auch unangenehm, sich indirekt an der Zwangslage der jüdischen SchlossbewohnerInnen zu bereichern. Die Stadt zahlte wahrscheinlich insgesamt 525,– RM an die Rechberg’sche Zentralkanzlei, weil der Monat August 1942 voll mitgezählt wurde.
2. Der Vertrag vom 26.09.1941 zwischen der Stadt Weißenstein und der Jüdischen Kultusvereinigung Württemberg e.V.: Die Stadt erhält 9, –RM pro Person monatlich von der JKVW, mindestens aber 360 RM pro Monat. Der Vertrag ging also von einer maximalen Belegung der Räume von 40 Personen aus, was auch der Realität entsprechen sollte. An zwei Monaten (November 1941 und Februar 1942) dürften etwas mehr als 40 Personen im Schloss gelebt haben, der monatliche Abrechnungsbetrag überstieg aber nie 360 RM. Im Vertrag hatte sich die Stadt verpflichtet, einige Verbesserungen und Erweiterung der Infrastruktur im Schloss durchzuführen: Errichtung einer Küchenanlage, eines Waschraumes, Verbesserung der Klosettanlage, Verbesserung an der Wasserzuleitung und bei der elektrischen Lichtleitung. Inwieweit und in welcher Qualität diese vertraglichen Verpflichtungen erfüllt wurden, lässt sich nicht mehr sicher nachvollziehen. Insgesamt erhielt die Stadt Weißenstein einen Gesamtbetrag von 4864,50 RM von der Jüdischen Kultusgemeinde Württemberg. Der Oktober 1941 wurde schon als halber Monat berechnet und mit fiktiven 41 BewohnerInnen in Rechnung gestellt.
Nicht unerwartet und bösartig: Die jüdische Kultusgemeinde musste für die Zwangsunterkunft ihrer Mitglieder (einschließlich der Christen unter den Bewohnerinnen, die natürlich keine Mitglieder waren) auch noch zahlen. Sogenannte ‚Heimkaufverträge‘ bei denen einzelne BewohnerInnen für die Unterkunft im Schloss zahlen mussten, sind aber nicht bekannt.
3. Der Vertrag vom 12.11.1941 zwischen der Stadt Weißenstein und der Firma Hirth-Motoren G.m.b.H. Stuttgart-Zuffenhausen. Im 3. Absatz des Vertrags verpflichten sich die Hirth-Motoren G.m.b.H jene Aufgaben zu übernehmen und zu erfüllen, die die Stadt Weißenstein der Jüdischen Kultusgemeinde Württemberg vertraglich zugesichert hatte, nämlich einrichten von Küche, Waschraum usw. Das freilich ging nicht kostenlos:
„Die Stadt Weißenstein überlässt der Firma Hirth-Motoren G.m.b.H. 50% der von der Jüdischen Kultusvereinigung Württemberg e.V. monatlich zukommenden Miete, und zwar so lange, bis die Firma Hirth-Motoren-G.m.b.H. für ihre Aufwendungen befriedigt ist.“
Wann das genau der Fall war, welchen Betrag die Hirth-Motorenwerke also zur Renovierung aufgewendet haben, ist nicht überliefert. Zum 10.April 1942 überwies die Stadt Weißenstein 992,25 RM an die Hirth–Motorenwerke, genau die Hälfte des Betrags, den sie bis dahin von der Jüdischen Kultusgemeinde Württemberg erhalten hatte. Wie die Folgemonate abgerechnet wurden, ist nicht überliefert. Somit ist auch nicht klar, wie viel Reichsmark die Stadt Weißenstein am Zwangswohnheim letztlich ‚verdient‘ hat.
Die Stadt Weißenstein wie die Rechberg’sche Zentralkanzlei sind ‚Nebendarsteller‘ im bösen Spiel, auch vom finanziellen Aspekt her. Gewinner ist der Rüstungsbetrieb Hirth, der auf diese Weise zu wertvollem Wohnraum in Stuttgart gelangte. Hintergrund: Die Hirth-Werke waren im Juni 1941 von den Heinkel–Flugzeugwerken übernommen worden und 80 Familien von Heinkel-Rüstungsarbeitern sollten von Rostock nach Stuttgart wechseln. Verlierer sind die Jüdische Kultusgemeinde Württemberg und natürlich die Menschen, die im Schloss zwangsweise einquartiert wurden.
Die bauliche Situation des Schloßes
Zunächst mussten zumindest zwei Stockwerke des südlichen und teilweise des östlichen Flügels für den Zwangsaufenthalt vieler Personen notdürftig hergerichtet werden, wohl auch unter Mitwirkung der örtlichen Handwerksbetriebe. Der von der Firma Hirth/Heinkel zur Verfügung gestellte Geldbetrag hatte jedoch nicht ausgereicht. Die Jüdische Kultusgemeinde Württemberg musste noch mehr als die Hälfte des Hirth/Heinkel-Betrags beisteuern und war verpflichtet, für den weiteren Unterhalt zu sorgen.
Es ging um die provisorische Installation von Beleuchtungskörpern, Wasser- und Abwasserleitungen, Öfen und Kochgelegenheiten sowie um Raumteilungen. Der zur Zeit der (nach dem Krieg im Schloss einquartierten) Heimatvertriebenen noch vorhandene Waschraum im Erdgeschoss wurde wohl damals eingerichtet. Hier konnten sich an einem runden Becken, in der Mitte eine Säule mit acht Wasserhähnen, mehrere Menschen zugleich waschen. Die gesamte Wohnfläche, die den jüdischen Insassen zur Verfügung stand, betrug etwa 400 qm, die jeweilige Nutzung der Räume lässt sich nicht mehr sicher nachweisen.
Nur eine einzige Toilette, im ersten Stock gelegen, stand den zeitweilig über 40 Insassen zur Verfügung – möglich sind weitere provisorische Toiletten außerhalb des Gebäudes. Die primitive Beheizung bestand aus alten Kachelöfen und Einzelöfen.
Nach den baulichen Vorbereitungen, die gewollt unzureichend waren, setzten die Möbeltransporte aus Stuttgart ein, wohl mit der Bahn und anschließend mit Lastwagen, Möbelwagen oder bäuerlichen Fuhrwerken bis ins Schloss.
Leben in einer erzwungenen Gemeinschaft
Vermutlich bis 1. November 1941 wurde 42 StuttgarterInnen vorwiegend in den Süd- und (teilweise) den Ost-Flügel des Schlosses eingewiesen. Offiziell war es den meist aus „Judenhäusern“ Vertriebenen nur gestattet, pro Person einen Tisch, einen Stuhl, ein Bett und einen Schrank mitzubringen. Demnach, was Weißensteiner Bürger jedoch nach der Auflösung des Zwangswohnheims im August 1942 ersteigern konnten, wurde die Anordnung nicht streng gehandhabt. Es waren auch Teppiche und dekorative Schränkchen darunter, kurzum ‚schöne Sachen‘, mit denen die neuen Insassen ‚Heimat‘ verbanden.
Einen vagen Einblick in die Raum- und Wohnsituation zu Anfang des Zwangswohnheims gibt der Brief, den Sofie Kroner am 14.11.1941 an ihre in die USA geflohene Tochter geschrieben hat:
„Der Schlafraum – wir sind dort zusammen und auch der Speisesaal sind sehr angenehm erwärmt. Über mir liegt das Frl. Levi, das immer mit dem Gutmann ging, liebe Nelly. Ich habe mir mein Eckchen schon recht nett eingerichtet, wie die Leiterin Frau Falk – früher Wäscherei Stuttgart mich sehr lobte. Etliche Insassen betonen schon, ich sei eine tapfere und brave und bescheidene Frau – was kann man noch mehr verlangen! Sonst gibt es bei ‚Menschen untereinander‘ lebhafte Meinungsverschiedenheiten, über 40 Personen sind wir im Ganzen. Ich halte mich neutral, weil ich den Frieden liebe.“
Frau Kroner gibt sich sichtlich Mühe, ihre Lebenssituation gegenüber der besorgten Tochter zu beschönigen. Deutlich wird dennoch, dass es im Schloss ‚Privatsphäre‘ kaum gegeben und dass die Wohnsituation konfliktträchtig war. Viel entspannter erscheint die Wohnsituation im Protokoll vom 6.10.1948, als der Finanzbeamte Paul Mayer vernommen wurde:
„Die Juden, es waren durchweg ältere Personen, die Anzahl ist mir nicht bekannt, wohnten im Schloss in einem Flügel desselben in drei Stockwerken. In den einzelnen von den Juden bewohnten Zimmern hatten dieselben ihr privates Mobiliar, was sie von ihren früheren Wohnungen in Stuttgart mitbrachten, abgestellt. Sie selbst schliefen in ihren eigenen Betten und ich hatte den Eindruck, dass die Juden seinerzeit noch sehr gut mit Aussteuer und dergleichen versehen waren, wenn auch zum Teil viele ältere Sachen dabei waren.“
Es finden sich Hinweise darauf, dass Mayer aber einen anderen Zeitabschnitt des Zwangswohnheims beschreibt als Frau Kroner. Er erwähnt nämlich ‚Heilig‘ als Namen des Bürgermeisters, der erst im März 1942 ins Amt kam. Sollten sich Mayers Erinnerungen auf die Zeit vor der letzte Deportation im August 1942 beziehen, dann lebten nur noch 27 Personen im Schloss und im verbliebenen Raum wäre mehr Privatsphäre möglich gewesen.
Viele der Insassen dürften sich schon von Stuttgart her gekannt haben, wo die meisten in zugewiesenen Wohnungen gelebt hatten. In zwei Stuttgarter ‚Judenhäusern‘ allein wohnten insgesamt 13 Personen, die sich später in Weißenstein wieder trafen: Acht in der Rosenbergstr. 105, fünf in der Wielandstr. 17. Abgesehen von Freund- und Bekanntschaften lebten im Schloss auch Menschen, die eng verwandt waren. Als einzige Familie: das jüdische Verwalter-Ehepaar Johanna und Isak Falk mit ihrer Tochter Carry. Geschwisterpaare waren: Julius Stern und Anna Einstein, geb. Stern, Marianne und Suse Weil und Ida und Elsa Wormser.
Mütter und Töchter: Sofie Rosenthal und Johanna Harburger, geb. Rosenthal, Kornelia Mayer und Lucie Mayer, eventuell auch Babette Leiter und Bella Weil, geb. Leiter. In verwandtschaftlicher Beziehung standen Hermann Wolf und Frime Rosenrauch: Deren Sohn Heinrich Rosenrauch war mit Hermann Wolfs Tochter Alice verheiratet. (Die junge Generation lebte aber nicht auf dem Schloss.)
Wenn auch insgesamt 60 Personen das Zwangswohnheim in der Zeit seines Bestehens bewohnt haben, konnten sich dort nur 43 von ihnen begegnet sein. Grund ist, dass 17 der 42 Personen, die (nachweislich) von November 1941 an im Schloss lebten, schon am 01.12.1941 nach Riga / KZ Jungfernhof deportiert wurden. 15 weitere StuttgarterInnen kamen erst Anfang Februar 1942 aufs Schloss, wann die beiden nicht von Stuttgart stammenden Personen eintrafen, lässt sich nicht genau bestimmen. Nur 16 Personen verblieben hier 10 Monate lang von Anfang bis zur Auflösung der Einrichtung Ende August 1942.
Von anderen Zwangswohnheimen ist überliefert, dass die Bewohner Besuch empfangen durften. Zumindest ein Besuch ist auch für Schloss Weißenstein dokumentiert: Heinrich Rosenrauch traf sich hier mit seiner Mutter Frime etwa 6 Wochen vor ihrer Deportation.
Frauen, Männer, Alte, Jüngere, Hausfrauen und Künstlerinnen
Den beengten Wohnraum im Schloss teilten sich im Ganzen 48 Frauen mit 12 Männern. Die jüngste von allen war die 1925 geborene Carry Falk, am anderen Ende des Altersspektrums stand die 1855 geborene Sofie Rosenthal. Während das Durchschnittsalter 56 Jahre betrug, was uns davon abhielt, von einem ‚Altenheim’ zu sprechen, stellten die 70 bis 79-Jährigen mit 24 Personen das zahlenmäßig stärkste Geburtsjahrzehnt, gefolgt von den 60 bis 69-Jährigen mit 15 Personen. 31 Personen hatten ihren Ehepartner schon verloren, 19 Personen waren ledig, 6 geschieden und nur 4 verheiratet. Bei der sozialen Zugehörigkeit dominierte die gehobene Mittelschicht, oft Kaufmannsfamilien, darunter viele Selbstständige.
Die soziale Spannweite reichte von Angehörigen des Großbürgertums wie Johanna Kaulla oder Rosa Lindauer bis zu gering Privilegierten wie der Hausangestellten Mathilde Gärtner. Einziger Akademiker war der Arzt im Ruhestand Dr. med. Max Hommel. Unter den Frauen fallen jene in auf, die in kreativen Berufen tätig waren: Die Malerinnen Elisabeth Kaltenbach und Käthe Löwenthal, die Schriftstellerin Ida Wormser, die unter dem Pseudonym ‚Linden‘ veröffentlichte, sowie die selbstständige Fotografin Erna Bellson.
Wie verbrachten die Insassen die Zeit im Schloss? Langeweile dürfte vorgeherrscht haben und die Angst um das eigene Leben, zugleich um das von Freunden und Verwandten. Wahrscheinlich wurden so viele Briefe geschrieben wie möglich – die einzige Chance zum Kontakt mit der ‚Außenwelt‘. Leider liegt uns bis jetzt nur der oben zitierte Brief vor. Wer Nähen und Stricken konnte, dürfte viel zu tun gehabt haben, falls es nicht an Material mangelte: Schon seit Januar 1940 waren die ‚Reichskleiderkarten‘ für Juden und Jüdinnen gestrichen worden. Neue Kleidung konnte nicht mehr erworben werden, es galt, die vorhandene so gut es ging zu erhalten.
Allgemeine Verwaltung
Zuständig und verantwortlich für alle Belange der Heim-Insassen war über die ganze Zeit der als „Verwalter“ und „Hausmeister“ bezeichnete Isak Falk (54). Als Betreuungs- und Küchenpersonal standen ihm seine Frau Johanna (45) und seine Tochter Carry (17) zur Seite. Das Ehepaar Falk hatte von 1932 bis 1939 in Stuttgart eine Wäscherei betrieben, anschließend arbeiteten sie in der Verwaltung des jüdischen Altenheims in Sontheim bei Heilbronn bis zu dessen erzwungenen Schließung. Johanna Falk wird von Sofie Kroner im oben wiedergegebenen Briefausschnitt als ‚Leiterin‘ bezeichnet. Das deutet darauf hin, dass das Ehepaar Falk seine Arbeitsschwerpunkte (Innendienst und Außendienst) als gleichwertig betrachtete. Ihre Tochter Carry, die ab 1939 das jüdische Internat (ursprünglich Waisenhaus) ‚Wilhelmspflege’ in Esslingen besucht hatte, wird dort eine hauswirtschaftliche Ausbildung erhalten haben – pragmatische Vorbereitung für ein erhofftes Leben in der Emigration.
Die Familie Falk gehörte damit zu den wenigen jüdischen Deutschen, die 1941 / 42 eine Berufsarbeit ausüben durften, die nicht als Zwangsarbeit bezeichnet werden kann. Freilich unterschieden sich ihre Lebensumstände letztlich nur wenig von denen der ‚normalen‘ Insassen, deren Schicksal sie auch teilten.
Auch die 34-jährige Berta Bona Rosenfeld dürfte in den ersten zweieinhalb Monaten zum ‚Personal‘ gehört haben. Sie musste aber am 17.1.1942 jedoch als Hilfskraft ins Zwangswohnheim Schloss Eschenau bei Heilbronn wechseln und Ende April von dort ins Zwangsaltenheim Schloss Dellmensingen.
Nur dem Ehepaar Falk war es gestattet, zu Versorgungszwecken in umliegende Orte zu gehen. Bürgermeister Wahl hatte erwirkt, dass die Wäsche der Schossinsassen vornehmlich in der gemeinschaftlichen Waschanlage der Spar- und Darlehenskasse Nenningen (dem Nachbarort von Weißenstein) gewaschen werden konnte. Diese Aufgabe wird wahrscheinlich die fachkundige Johanna Falk organisiert und auch zum Teil übernommen haben.
Im Vergleich mit dem Zwangsaltenheim Schloss Dellmensingen fällt auf, dass in Weißenstein wenig Betreuungspersonal bereit stand: Anders in Dellmensingen: Dort betreuten mindestens 16 Personen, darunter beruflich qualifizierte, die 128 Insassen. Waren die (durchschnittlich jüngeren) Insassen von Schloss Weißenstein eher in der Lage, für sich selbst zu sorgen?
Eine Ausnahme: Der Frisör kommt ins Schloss
Ab 29. Mai 1942 galt in Nazi-Deutschland: Juden ist der Besuch von Friseurgeschäften verboten. Eine Entscheidung, die zur Demütigung und weiteren Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung beitragen sollte. Die Insassinnen des Schlosses konnten sich aber über regelmäßig gepflegtes Haar freuen. Den Grund erfährt man aus der eidesstattlichen Erklärung des Friseurmeisters Franz Biegert, Böhmenkirch, einem NSDAP-Mitglied:
„Im Herbst 1941 beauftragte mich Ortsgruppenleiter und Bürgermeister August Wahl, dass ich die im Schloss Weißenstein untergebrachten Juden bedienen soll, was ich annahm und dieselben (Herren und Damen) jeden Montag bediente. Im Januar oder Februar 1942 wurden A. Wahl und ich bei der Kreisleitung angezeigt und mit dem Ausschluss aus der Partei gedroht, ich ging aber trotzdem auf Verlangen des Herrn Ortsgruppenleiters und Bürgermeisters weiterhin zum Bedienen der Juden.“
Kälte
Die hohen Räume im Schloss warmzuhalten, wie es Frau Kroner noch lobend erwähnte, wurde im Lauf des Winters von 1941 auf 1942 zum Problem. Mit dem Dezember setzte ein sehr strenger, schneereicher Winter ein, der bis in den Februar 1942 dauerte. Die mittlere Temperatur betrug –4°, an manchen Tagen sank das Thermometer auf minus 15° C. Das von der SS den Schlossinsassen zugestandene Kontingent an Heizmaterial hatte nicht ausgereicht, denn es war noch bis Anfang April außergewöhnlich kalt.
Der damalige Bürgermeister und NSDAP-Ortsgruppenleiter August Wahl, seit 1930 ein begeistertes Mitglied der Nazi-Partei, hatte sich dem ungeachtet für die Juden im Schloss eingesetzt und 150 Zentner Kohlen und zusätzliches Brennholz beschafft. Ab 10.Januar 1942 mussten jüdische Deutsche per NS–Dekret alle Woll- und Pelzsachen abliefern, wie streng dies in Weißenstein gehandhabt wurde, geht aus den Akten nicht hervor. Als sich herausgestellt hatte, dass die Menschen im Schloss unter Kälte litten, wurden vom Gasthof ‚Schenke‘ und Freunden der Wirtsfamilie Nagel heimlich Decken aufs Schloss gebracht.
Genug zu Essen?
Mit Beginn des 2.Weltkriegs durch den Überfall auf Polen (Anfang September 1939) durften Lebensmittel generell nur gegen Vorlage von Lebensmittelmarken abgegeben werden. Jene für die jüdischen Deutschen waren mit einem roten „J“ gekennzeichnet. Die Bezugsmengen an Grundnahrungsmitteln waren für sie allerdings bedeutend geringer als für die nichtjüdischen Bürger. Hunger dürften die Schlossinsassen schon von Stuttgart her gekannt haben, zumal sie ab April 1941 gezwungen wurden, im einzigen ‚Judenladen‘ Stuttgarts einzukaufen, der nur unzureichend mit Lebensmittel versorgt wurde.
Zudem wurde ab dem 6. April 1942 in ganz Deutschland die wöchentliche Brot- und Fleischration für die Bezugskarten verringert. Das wird sich auch auf die ohnehin schon reduzierten Essrationen der Juden ausgewirkt haben. Vermutlich wurde der Hunger auch im Schloss ein ständiger Begleiter, auch wenn die drastischsten Einschränkungen (kein Fleisch, keine Milch, keine Eier) für ‚Juden‘ erst im September 1942 erlassen wurden, als das Zwangswohnheim schon aufgelöst worden war. Bis dahin dürften die Fleischversorgung wenigstens im engen Rahmen der ‚J‘–Lebensmittelkarten erfolgt sein. Bürgermeister Wahl hatte die Ladenbesitzer angewiesen, die Jüdinnen und Juden „im Turnus regelmäßig zu beliefern“.
Bekannt ist, dass die Metzger Julius Schielein und Bernhard Kuhn (Sonnenwirt) die Heimbewohner mit Fleisch (Rindfleisch in der Regel) versorgt haben, wobei die Tiere allerdings nicht durch Schächten getötet wurden, wie es die jüdischen Religionsgesetze verlangen. Weitere Lebensmittel auf Bezugskarten konnte der Verwalter Isak Falk in den Weißensteiner Ladengeschäften beziehen.
Zum Thema Lebensmittelversorgung gibt auch die Spruchkammerakte vom 26.1.1948 zu Bürgermeister August Wahl Auskunft. Zu seiner Entlastung wird ausgeführt:
„In einer Gärtnerei besorgte er laufend Obst und Gemüse und hat bei der anfänglichen Weigerung des Gärtners die Lieferung doch möglich gemacht, indem er die Rechnungen auf seinen Namen schreiben ließ. Wegen dieses Verhaltens wurde er von der Kreisleitung gemaßregelt. Der Betroffene bringt seine plötzliche Einberufung zur Wehrmacht mit diesem seinen Verhalten in Zusammenhang.“
Bei dem Gärtnereibetrieb handelte es sich um den Gartenbaubetrieb von Walter Bleich in Donzdorf. Dieser erklärte am 15.12.1946 an Eides statt:
„Als im Jahre 1941 das jüdische Wohnheim in Weißenstein eingerichtet wurde, hat Herr Wahl, der seinerzeit Bürgermeister von Weißenstein war, mir, dem Gartenmeister Walter Bleich in Donzdorf, persönlich die Gemüseversorgung für dieses Wohnheim übertragen. Er ging mit mir völlig überein, dass ich diese Lieferungen reichhaltig und ausreichend durchführte. Mit seinem Wissen und Einverständnis – die Rechnungen und Belege gingen ja sämtlich durch seine Hand – wurde die Küche mit Gemüsen und Salaten, Äpfeln und Zitronen und Gewürzen den ganzen Winter hindurch bis zur Auflösung dieses Wohnheims im Sommer 1942 ausreichend versorgt. Für ihn als verantwortlichen Bürgermeister bedeutete diese Handlungsweise ein großes Risiko, denn der nationalsozialistische Staat hatte dafür gar kein Verständnis.“
Bürgermeister Wahl hatte auch einen Brauereikeller angemietet, um die heimlich von ihm privat gekaufte Menge an Kartoffeln für die Schlossbewohner lagern zu können. Als ‚Arier‘ und NSDAP-Mitglied in einem politischen Amt durfte sich Herr Wahl einiges erlauben: Sogar ‚nett zu den Juden‘ zu sein – letztlich auch nur ein Indiz der Willkür, denen jüdische Deutsche ausgeliefert waren.
Couragiert hatten sich in den ersten Monaten des Zwangswohnheims die Betreiber des Gasthofs ‚Schenke‘ um die Essensversorgung der Schlossinsassinnen bemüht: Hedi Nagel, die noch minderjährigen Tochter der Wirtsfamilie, (von einem örtlichen Nazi im Brief als ‚Vorkämpferin des politischen Katholizismus‘ bezeichnet), brachte heimlich Essen aus der Gasthofküche ins Schloss. Auch sollen Einheimische Milch in Behältern an einem verborgenen Ort hinter dem Schloss deponiert haben.
All die Erinnerungen und Aussagen über eine hinreichende Lebensmittelversorgung stammen von einheimischen Zeitzeugen oder von den politisch Verantwortlichen wie dem Bürgermeister Wahl und seinen ‚Entlastungszeugen‘. Es bleiben aber viele Fragen offen, die nur von den ehemaligen Schloss–Insassen hätten beantwortet werden können. Denn es gibt Indizien, dass der Hunger für sie doch eine ständige Bedrohung geblieben war.
So versuchten Schlossinsassen, die noch gut zu Fuß waren und das Risiko eingingen, wegen Verlassens des Schlosses denunziert zu werden, Wertgegenstände gegen Lebensmittel einzutauschen. Darunter war auch Frau Chana Eugenie Grünwald (66), als sie, vermutlich ohne den diskriminierenden ‚Judenstern‘ zu tragen, den vom Schloss aus etwa 1,5 km entfernten Ort Treffelhausen aufsuchte. Solche Versuche, zusätzliche Lebensmittel einzutauschen, waren laut der Vernehmungsaussage von Oberwachtmeister der Reserve Moll vom Polizeiposten Weißenstein „allgemein bekannt“, was heißt, schon mehrfach vorgekommen. Es wurde wohl einige Male toleriert, doch in diesem Fall nicht: Frau Grünwald wurde anlässlich ihres heimlichen Ausflugs angezeigt, verhaftet und am 14.August 1942 als ‚politische‘ Gefangene ins KZ Ravensbrück verbracht. Ihr Leben endete am 7.Oktober 1942 im Vernichtungslager Auschwitz.
Ein weiteres Indiz zur unzureichenden Versorgungslage: Die Diagnose „Skorbut“ (Mangelerkrankung bei fehlendem Vitamin C) wurde beim Tod von Therese Fried eingetragen. Sie war die einzige Person, die direkt auf dem Schloss gestorben ist.
Ärztliche Betreuung
Während im Zwangsaltenheim Schloss Dellmensingen (und weiteren Einrichtungen) der Stuttgarter jüdische Arzt Dr. Viktor Steiner für die Gesundheit der Insassen sorgen konnte, blieben die in Weißenstein ohne ärztliche Versorgung. Der fürs Weißensteiner Schloss zuständige Arzt, Dr. Josef Mangold aus Donzdorf, durfte bzw. musste nur von Zeit zu Zeit im Schloss Kontrollbesuche durchführen, um zu ermitteln, ob es einen Parasitenbefall oder Seuchenausbruch gab. (Dass in der lokalen Überlieferung von ‚Geschlechtskrankheiten‘ gesprochen wurde, weist auf judenfeindliche Vorurteile hin.) Ob Dr. Mangold ohne ‚Auftrag‘ medizinische Hilfe leistete, ist nicht bekannt. Eine zahnärztliche Betreuung ist nicht überliefert.
Freilich gab es auch einen Mediziner unter den Weißensteiner Insassen: Dr. med. Max Hommel, praktischer Arzt im Ruhestand. Anders als Dr. Steiner hatte er aber kein Mandat zum Praktizieren und somit auch keinen Zugang zu Medikamenten und ärztlichem Gerät. Vermutlich halfen seine Ratschläge den Leidenden aber in ‚leichten Fällen‘. Dem Schlossbewohner Friedrich Siegel (67) konnte er anscheinend nicht hinreichend helfen. In seiner Not hielt sich Herr Siegel nicht an die Ausgangsbeschränkungen und suchte einen Arzt im ca. 4-5 km entfernten Ort Böhmenkirch auf. Anschließend kehrte Herr Siegel dort noch in einer Wirtschaft ein, wo er ‚pazifistische Äußerungen‘ getätigt haben soll. Ein Wirtshausbesucher muss ihn denunziert haben, der örtliche Polizist nahm hierauf Herrn Siegel fest. Er wurde kurz verhört, dann aber für den Rückmarsch nach Weißenstein entlassen. Eine Woche später hat ihn im Schloss ein Donzdorfer Gendarm festgenommen. Am 21. August 1942 wurde er ins KZ Dachau eingeliefert. Dort starb er am 11. Oktober 1942, offiziell an „Versagen von Herz und Kreislauf bei Darmkatarrh“ im Häftlingskrankenbau.
Im Schloss direkt starb aber, wie oben erwähnt, am 20. März 1942 Therese Fried, geb. Falk an Skorbut. Ihr Tod wirft nicht nur Fragen zur Ernährungssituation auf, er klagt auch die mangelhafte medizinische Betreuung der Schlossinsassen an. Heute findet man ihr Grab auf dem Göppinger Hauptfriedhof, Israelitische Abteilung. Es ist aber möglich, dass Frau Frieds Leichnam zunächst in Weißenstein beerdigt und erst später nach Göppingen umgebettet wurde.
Während im Zwangsaltenheim Schloss Dellmensingen 14 der 128 Insassen gestorben sind, blieb es in Weißenstein bei dem einem Todesfall. Ob diese Diskrepanz mit dem unterschiedlichen Altersdurchschnitt zu erklären ist, (in Dellmensingen waren die Menschen durchschnittlich 12 Jahre älter) oder ob die Versorgungslage in Weißenstein doch vergleichsweise besser war, muss offen bleiben. Die bessere medizinische Versorgung in Dellmensingen garantierte jedenfalls keine größeren Überlebenschancen.
Zum Glauben
Nach den rassistischen Wahn-Kriterien der Nazis galten ab 1938 auch Christinnen und Christen als ‚Juden‘ wenn sie jüdisch-gläubige Eltern und Großeltern hatten. (Ihnen allen wurde im Ausweis der zusätzliche Vorname Israel bzw. Sarah beigefügt.) Aus diesem Grund befanden sich auch mehrere evangelische Christinnen unter den Insassen des Zwangswohnheims. Bekannt sind bislang: Elisabeth Kaltenbach, Johanna Kaulla, Käthe Löwenthal, Meta Oppenheimer und Elisabeth Stein. Dass sich andere Insassen als religionsfrei definierten, ist möglich.
Die große Mehrheit hing dem jüdischen Glauben an, eine seelsorgerische Betreuung durch einen Rabbiner war aber nicht möglich. Um einen jüdischen Gottesdienst abzuhalten, verlangen die Religionsgesetze den ‚Minjan‘, ein Quorum von zehn oder mehr im religiösen Sinn mündiger Juden. Diese Voraussetzung war (rechnerisch) im Zwangswohnheim nur für kurze Zeit gegeben, nämlich zwischen Anfang und Ende November 1941. Danach lebten zu keinem Zeitpunkt mehr 10 jüdische Männer im Schloss. Da Sophie Kroner Witwe eines Rabbiners war, ist es denkbar, dass sie als Ansprechpartnerin bei Glaubensfragen aufgesucht wurde. Vielleicht leitete sie auch eine Gebetsgruppe. Im Erdgeschoss, mitten zwischen den Wohnräumen der SchlossbewohnerInnen lag die Schlosskapelle, die jedoch nicht zur Verfügung stand.
Der katholische Ortspfarrer Josef Mühleisen berichtet in einem nach dem Krieg nieder geschriebenen Pfarrbericht, dass er eine Katholikin jüdischer Herkunft kurz vor deren Deportation aus dem Schloss heimlich in seiner Kirche zur Beichte und Kommunion empfangen habe. Leider konnten seine Aussagen zur Person: „katholische Konzertsängerin aus Mainz“ bislang keiner der Insassinnen zugeordnet werden.
Kontakt zur einheimischen Bevölkerung
Der Bewegungsraum für die Insassen des Schlosses war sehr beschränkt. Für den Ausgang zugelassen (von Spaziergängen kann man eher nicht sprechen) waren offiziell nur der Innenhof des Schlosses, ausgenommen die Altane, sowie die Zufahrtsstraße am Nordflügel bis über die Brücke, zudem noch der Weg hinten ums Schloss, dem Berghang entlang. So war für die Weißensteiner Bürger vom Ort aus kaum etwas von den Insassen zu sehen. Diese lebten auch ohne Einzäunung in einem Ghetto. In den Ludwigsburger Spruchkammerakten ‚In Sachen August Wahl‘ vom 26. Januar 1948 wird dem damaligen Bürgermeister zugutegehalten: „Auch hat er auf eigene Verantwortung den Evakuierten eine größere Bewegungsfreiheit gegeben.“ Genaueres fehlt leider.
Auch wenn die Insassen das Schlossareal generell nicht verlassen durften, gab es doch wenige Orte außerhalb, die sie aufsuchen durften. Ihre finanziellen Angelegenheiten konnten sie z.B. in der Zweigstelle der Württembergischen Landessparkasse regeln. Geführt wurde diese von Emma Wamsler (Haus in der Hauptstraße gegenüber der Post) während der Öffnungszeiten ihres Lebensmittelladens. Generell scheinen im Geschäft der Familie Wamsler die meisten Kontakte zustande gekommen sein.
Der Verwalter, Herr Falk brauchte für seine regelmäßigen Einkäufe wahrscheinlich einen Helfer oder eine Helferin zum Tragen der gekauften Ware. Der Gedanke ist naheliegend, dass er somit wechselweise dem einen oder der anderen ermöglichte, das Schloss einmal ‚legal‘ zu verlassen. Sehr wahrscheinlich ist auf diese Art der freundschaftliche Kontakt zwischen Julius Stern und der Familie Wamsler entstanden.
Die mehrfachen Besuche von Julius Stern bei der Familie Wamsler sind ein Zeichen des Muts (beiderseits) und stellen die Ausnahme von der Regel dar.
In der Erinnerung von Zeitzeugen wird auch noch von zwei ca. 15-jährigen und zwei ca. fünf- bis siebenjährigen‚ jüdischen‘ Mädchen gesprochen, die auf dem Schloss gelebt und auch die Weißensteiner Schule besucht hätten.
Da die Liste der jüdischen Schloss–Insassen inzwischen eindeutig feststeht und abgesehen von Carry Falk keine Jugendlichen darunter waren, ist es unwahrscheinlich, dass es sich bei den Erinnerten um ‚volljüdische‘ Kinder handelte, deren Eltern im Zwangswohnheim lebten. Erst recht, wenn die Erinnerung an den Schulbesuchs zutrifft: Jüdische Kinder mussten schon nach der Pogromnacht 1938 die öffentlichen (Volks-) Schulen verlassen.
Deportiert, ermordet und ausgeraubt
Der Aufenthalt im Schloss Weißenstein war für alle Insassen ein bedrücktes Warten auf die Deportation und Ermordung. Die Gedenktafel auf dem Weißensteiner Kirchplatz gibt Auskunft, wer wann und wohin deportiert wurde. Nur drei der 60 Menschen, die im Schloss untergebracht waren, überlebten die Shoah.
Die letzten Stunden der Schloss-Insassen in Weißenstein sind zumindest für die erste Deportation Ende November 1941 durch spätere Vernehmungsprotokolle belegt. (Ausführlich dargestellt in Karl-Heinz Rueß, Die Deportation der Göppinger Juden, S. 29ff.) Es waren wenige Amtspersonen, die jeweils am ersten Schritt der drei Deportationen, d.h. der Vertreibung aus dem Schloss, aktiv beteiligt waren: die Polizisten Michael Frank vom Donzdorfer Polizeiposten und sein Weißensteiner Kollege Andreas Moll. Sie taten ‚Dienst nach Vorschrift‘, durchsuchten das Gepäck der Jüdinnen und Juden nach ‚Unerlaubtem‘ und führten bei den Männern eine Leibesvisitation durch. Bei den Frauen sollte das die Weißensteiner Hebamme Maria Hänle übernehmen. K.-H. Rueß (s.o. S.32) schreibt dazu:
„Als sie um 4.30 Uhr morgens im Schloss eintraf, wurde ihr erst vor Ort der Grund der Einbestellung eröffnet und die erwartete Aufgabe erläutert. Marie Hänle weigerte sich, im Beisein von Männern die Leibesvisitation vorzunehmen. Schließlich wurde ihr bedeutet, dass ein Abtasten der Kleidung genüge. Als sie bemerkte, dass der Untersuchung wenig Wert beigemessen wurde, ließ sie, nachdem sie einige Frauen abgetastet hatte, ihre Aufgabe ruhen. Bei den späteren Deportationen wurde sie nicht mehr aufs Schloss gerufen.“
Die Polizisten begleiteten die Verstoßenen zum Bahnhof und fuhren im Zug bis Stuttgart mit, um sie und ihr letztes Bargeld der Gestapo ‚zu übergeben‘. Es ist glaubhaft, dass sich keiner der Polizisten unfreundlich oder gar grausam verhalten hat. Beide Männer ‚funktionierten‘ unauffällig als Rädchen im Getriebe der Raub- und Mordmaschine, die die Nazi-Deutschen in Gang gesetzt hatten. Zu den noch erwähnten Männern gehörten der Oberinspektor Niess vom Geislinger Finanzamt und sein Kollege, der Vollstreckungsbeamte i.R. Paul Mayer. Beide ‚verwalteten’ die Beraubung der Jüdinnen und Juden. Noch ganz in der Sprache der NS–Zeit verhaftet, gab Paul Mayer im Jahr 1948 zu Protokoll:
„Bereits bei dem ersten Abtransport der Juden haben wir das Judengut aufgenommen und die einzelnen Stücke wie Möbel, Aussteuer und sonstiges mit Herrn Rösch, dem städtischen Versteigerer von Geislingen bewertet. Damals kam es nach Abgang der ersten Juden zu einer Versteigerung, bei der ich selbst mit Herrn Niess und Herrn Rösch anwesend war. Die Versteigerung fand im Schloss statt. Der Erlös der versteigerten Gegenstände wurde von Herrn Rösch in einer Akte geführt und der Barerlös mit dem Finanzamt abgerechnet. Die Putzfrauen (aus Weißenstein) erhielten für ihre Tätigkeit von Herrn Niess einige alte Stücke des Judennachlasses. Ich selbst, wie auch Herr Niess, nahm von den Sachen nichts weg.“
Von diesen Versteigerungen profitierten, abgesehen vom Deutschen Staat auch einige Weißensteiner Familien.
Wie eine Rechnung bezeugt, kaufte auch die Stadt Weißenstein ein paar Teppiche, die den ehemaligen Schloss-Insassen gehört hatten.
Erinnerung vor Ort
Familienerinnerungen an das Zwangswohnheim und seine Insassen gab und gibt es in Weißenstein bis heute. Doch in den Jahrzehnten nach seiner Auflösung machte sich niemand zur Aufgabe, sie zu sammeln und in einem lokalgeschichtlichen Rahmen zu dokumentieren.
Erst 1988, im Anhang zur Neuauflage von Dr. Aron Tänzers Buch ‚Juden in Jebenhausen und Göppingen‘ veröffentlichte der damalige Göppinger Stadtarchivar Dr. Karl-Heinz Rueß eine vorläufige Liste mit Namen und Lebensdaten von Weißensteiner Schlossinsassen. Herr Rueß vertiefte seine Recherchen und konnte im Jahr 2001 einen fünfseitigen Text in die von ihm verfassten Broschüre ‚Die Deportation der Göppinger Juden‘ einbringen.
Zunächst unabhängig voneinander begannen seit etwa 2018 Franz Sickert, ein gebürtiger Weißensteiner, wohnhaft in Mutlangen, und Klaus Maier-Rubner von der Initiative Stolpersteine Göppingen sich mit dem Thema Zwangswohnheim Schloss Weißenstein zu befassen. Franz Sickert kam zugute, dass er auf Kontakte im Ort zurück greifen konnte.
Auf der Basis der Veröffentlichungen von Dr. Rueß wurden die Recherchen gemeinsam fortgesetzt. Da die meisten der Schlossinsassen zuvor in Stuttgart gelebt hatten, konnten man sich in vielen Fällen in den biografischen Texten informieren, welche von Mitgliedern der Stuttgarter Stolperstein–Initiativen verfasst worden waren. Hilfreich im Gesamt-Kontext der Zwangswohnheime waren auch die qualifizierten Veröffentlichungen zu den ähnlichen Einrichtungen in Dellmensingen, Eschenau und Herrlingen.
Im Jahr 2021 kam es zu einem engen Austausch mit der Stadtverwaltung von Lauterstein, wo Weißenstein heute eine Teilgemeinde ist, vor allem mit Bürgermeister Lenz. Es entstand die Idee, mit einer Gedenktafel an die Insassen des Zwangswohnheims zu erinnern.
Am 18. September 2022 wurde diese Tafel, die von der aus Weißenstein stammenden Graphikerin Ina Ludwig (Stuttgart) gestaltet wurde, auf dem Kirchplatz enthüllt. Seit Ende Oktober 2021 (nach genau 80 Jahren) wurde die Geschichte des Heims und seiner Insassen von Franz Sickert in 20 Folgen im Mitteilungsblatt von Lauterstein veröffentlicht.
2022 erhielten Interessierte bei einem ökumenischen Gottesdienst in der Weißensteiner Kirche und in einer öffentlichen Informationsveranstaltung der Gemeinde in der TV-Halle intensive Einblicke in diesen bedrückenden Abschnitt der lokalen Geschichte. Im Schloss selbst erinnern die heutigen Eigentümer, die Familie Kage, an die Geschichte des Gebäudes in der NS–Zeit mit einer Informationstafel. In Zukunft sollen die noch fehlenden Biografien von Schloss–Insassen recherchiert und hier veröffentlicht werden.
(24.04.2023 Klaus Maier-Rubner und Franz Sickert)
Schreibe einen Kommentar