Göppinger Hauptfriedhof, Jüdisches Gräberfeld

Sehr geehrte Damen und Herren, werte Ehrengäste, sehr geehrter Herr OB Till, sehr geehrter Herr OB Dehmer aus Geislingen, liebe Mitbürger*innen, liebe Schülerinnen,

der vor 2 Monaten verstorbene Dichter Günter Kunert, ein Zeitgenosse der Toten von Geislingen, derer wir heute gedenken, und von den Nazis als „Halbjude“ klassifiziert, verknüpft in seinem 2002 in einer Anthologie erschienenen Gedicht mit dem Titel „Menetekel“ hellsichtig Vergangenheit und Gegenwart mit einer Projektion in die Zukunft und fordert so unsere Reaktionen heraus. Ich möchte es Ihnen vortragen:

Menetekel

Sterne droben. Und an Jacken genäht.

Die Geschichte ein Mordfall. Lamento der Täter.

Die Armbanduhr zeigt: Ein Jahrtausend vergeht.

Und Söhne werden wie ihre Väter.

Die Unschuld dahin. Für Reue zu spät.

Niemand ruft Tote wieder ins Leben zurück.

So werden auch wir vom Winde verweht,

obwohl wir nach Dauer streben.

Vorwärts ins Nichts und Unheil gesät

für die kommenden Generationen.

Die Schrift an der Wand, das Gedicht verrät,

die Zukunft wird keinen verschonen.

Die Initiatoren unseres Erinnerungsprojekts wollten der düsteren Prophezeiung in dieser Stadt erneut etwas entgegensetzen, was zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit einlädt.

Es ist berührend für mich, dass diese jüdischen Mitbürger, die lange unerkannt in unserer Mitte ruhten und so viele Tode zu durchleiden hatten, durch den Gedenkstein dem Vergessen entrissen werden können. Sie durchgingen den Tod der Anfeindungen, der Ausgrenzung, entwürdigender Behandlung einschließlich Misshandlungen, der Ausbeutung bis zur Auslöschung in einem anonymen Massengrab. So verschwanden sie selbst aus dem Blickfeld der überlebenden Mithäftlinge, die wie sie der vielfach tödlichen Gleichgültigkeit der Mitmenschen ausgesetzt waren.

Die Erinnerung an die Lage der Gräber auf dem hiesigen Friedhof war verschüttet. In dem bedeutenden Werk über unseren Friedhof von Naftali Bamberger aus dem Jahr 1990 sind diese Ruhestätten als „unbekannte Grabflächen ohne Grabstein von Unverheirateten aus Heidenheim“ verzeichnet. Erst mit Hilfe mir 2018 vom Friedhofsverwalter, Herrn Swoboda, zur Verfügung gestellter alter Dokumente konnten die 9 Gräber dieser Gräberzeile lokalisiert werden, die die Asche bzw. die Gebeine der 12 in Geislingen verstorbenen erwachsenen weiblichen Häftlinge bergen.

Das erste unbezeichnete Grab der Reihe enthält die Asche von 4 Jüdinnen aus Ungarn, deren Leichen zwischen August und Oktober 1944 im Göppinger Krematorium eingeäschert wurden.

Fani Schwarz starb 38jährig am 8.8.44, also kurz nach ihrer Ankunft aus Auschwitz als Erste in Geislingen, noch bevor sie zur Zwangsarbeit in der WMF eingesetzt werden konnte.

Ihre jüngeren Kameradinnen Ilona Herkovits (21 J.) und Sara Weisz (30 J.) verstarben im Oktober und wurden nach ihrer Einäscherung zusammen mit einer unbekannten Jüdin im selben Grab beigesetzt. Die unmittelbaren Todesursachen sind wie bei den meisten anderen Verstorbenen unbekannt.

In die übrigen 8 Einzelgräber dieser Zeile wurden 1946 auf Wunsch der israelitischen Gemeinde die zunächst in einem Massengrab an der Geislinger Friedhofsmauer  beigesetzten jüdischen Zwangsarbeiterinnen der WMF umgebettet, die zwischen dem 1.12.44 und dem 4.4.45 gestorben waren. Nur 2 von ihnen konnten einem Einzelgrab direkt zugeordnet werden, und zwar Gizela Perl und Lenke Kovacs.

Gizela Perl wurde wohl von ihrem überlebenden Ehemann identifiziert, der ihrem mit 30 Jahren jäh endenden Leben mit einer abgebrochenen Säule ein Denkmal setzte. Die Erwähnung des in Auschwitz im Alter von 4 Jahren ermordeten Sohnes auf der Grabinschrift legt nahe, dass diese Tragödie nicht minder zu ihrem Ableben beitrug als die Schwere der Zwangsarbeit und eine vom WMF-Betriebsarzt diagnostizierte Nierenerkrankung.

Rechts neben ihr wurde die ungarische Häftlingsärztin Lenke Kovacs bestattet, wie ihre entgegen den Vorschriften festgehaltene Häftlingsnummer im Friedhofsver-zeichnis bekundet. Dr. Kovacs ist die älteste in Geislingen verstorbene Zwangsarbeiterin und wurde doch nur 42 Jahre alt.

Lenke Kovacs ist im Dezember 1902 in einem kleinen Dorf im Karpatenvorland geboren, von wo der größte Teil der zur Zwangsarbeit bei der WMF eingesetzten Jüdinnen stammte. Ihr genaues Schicksal ist nicht bekannt, doch wurde sie wie ihre Leidensgenossinnen nach einem zwangsweisen Ghettoaufenthalt etwa im Mai 1944 nach Auschwitz deportiert und Ende Juli von dort zusammen mit 700 Frauen und Mädchen aus ihrer Heimat für die Zwangsarbeit in der WMF Geislingen selektiert, wo sie im Krankenrevier des KZ-Außenlagers eingesetzt wurde. Ihre 21-jährige Nichte Aranka Fogel war mit ihr nach Geislingen deportiert worden und berichtet nach dem Krieg über einen Vorfall, der ihre Tante in Schwierigkeiten gegenüber der SS und insbesondere der Küchenkapo brachte. Die Tante beobachtete die Kapo bei der Verschiebung von Lebensmitteln, die für die Häftlinge bestimmt waren. Es muss die Ärztin ungeheuer geschmerzt haben zu sehen, wie knappe Lebensmittel aus dem Lager geschmuggelt werden, in dem der Hunger ihre Mithäftlinge quälte und schwächte. Sie muss ihre Verantwortung gespürt haben, diesem Treiben ein Ende zu setzen durch eine couragierte Meldung des Vorfalls bei der SS. Die Nichte erwähnt 1948 vor Gericht die Auswirkungen für ihre Tante: „Einen oder zwei Tage danach kam die [Küchenkapo] … in den Block…, in dem meine Tante und ich untergebracht waren und schlug mit einer Peitsche auf meine Tante ein, und zwar so lange, bis Blut gekommen ist und sie auf den Boden fiel. Ich selbst habe dies mitangesehen. Meine Tante ist später im Lager gestorben. Die Ursache ihres Todes kann ich nicht angeben. Sie ist oft von der [Kapo]… geschlagen worden.“

Andere Zeitzeuginnen sehen einen direkten Zusammenhang zwischen den Misshandlungen und dem Tod der Ärztin. Die Küchenkapo erklärt nach dem Krieg, die Anschuldigung entbehre jeder Grundlage. Der Betriebsarzt pflichtet ihr bei und gibt zu Protokoll, dass es im Lager weder Misshandlungen noch Unterernährung gab.

Zweifelsfrei verschärfte der Tod der Ärztin die medizinische Unterversorgung im Lager. Nur noch eine ehemalige Apothekerin stand, ohne entsprechende Medikamente zu haben, den Kranken als Pflegerin bei.

In den Gräbern links von Gizela Perl oder rechts von Lenke Kovacs ruhen 3 weitere namentlich bekannte Opfer, nämlich die ungarischen Jüdinnen Sara Kats (33 J.) und Anna Gross (39 J.) sowie die jüngste und einzige polnische Jüdin Szyfra Perelmuter. Szyfras Schicksal ist uns ansatzweise durch die Schwestern Tusia und Ruchla Kolberg bekannt – das Foto zeigt die überlebenden Schwestern kurz nach der Befreiung. Sie stammen aus derselben Kleinstadt unweit von Lodz wie Szyfra, sind etwa gleich alt und durchlaufen mindestens seit der deutschen Besetzung Polens dieselben Stationen bis hin zur Zwangsarbeit bei der WMF.

Tusia (links) und Ruchla Kolberg

Szyfra ist 1939  15 Jahre alt, Tusia 1 Jahr jünger, Ruchla 1 Jahr älter. Sie erleben die Ausgrenzung und Entrechtung der jüdischen Mitbürger, die in ihrer Heimatstadt die Hälfte der Einwohner stellten, sie werden in einem kleinen Ghettobezirk zusammengedrängt, von wo immer häufiger männliche Juden in Arbeitslager deportiert werden. Im August 1942 werden alle im Ghetto lebenden Juden von Gestapo und SS in den Synagogenvorhof getrieben und Arbeitsfähige von Älteren, Kranken und Kindern getrennt. Die etwa 1000 Arbeitsfähigen, zu denen die Kolberg-Schwestern und Szyfra gehören, werden auf Lastwagen ins geschlossene Ghetto Lodz, die übrigen 4000 Personen, unter ihnen ihre Familienangehörigen, zur Vernichtung nach Kulmhof gebracht, wie sie später erfahren.

Im Lodzer Ghetto teilen die 3 Mädchen mit einem weiteren ein Zimmer und arbeiten als Schneiderin bzw. Handnäherin in einer Werkstatt, die bis zur Auflösung des Ghettos Lodz im August 1944 Aufträge der Wehrmacht, aber auch der deutschen Privatindustrie auszuführen hat. Gemeinsam werden sie nach Auschwitz und nach wenigen Wochen nach Bergen-Belsen deportiert, von wo sie im November 1944 in einer Gruppe von 120 Jüdinnen aus dem Raum Lodz nach Geislingen zur Zwangsarbeit gebracht werden. Vergeblich versucht Tusia die kränkelnde Szyfra aufzumuntern mit der Hoffnung auf das nahe Kriegsende. Als Tusia am 19.2.45 von der Arbeit in der WMF ins Lager zurückkehrt, findet sie nur noch eine leere Pritsche vor. Wo die tote Freundin beerdigt wurde, erfährt sie nicht.

Weitere 6 Namen von ungarischen Jüdinnen, die die Zwangsarbeit nicht überlebt haben, sind uns bekannt geworden, doch wissen wir nicht, ob sie im Lager Geislingen gestorben sind oder zu den 12 schwangeren und kranken Frauen gehörten, die am 11. Oktober 1944 nach Auschwitz „rücküberstellt“ wurden, und zwar:

Roszi Klein,

Sara Marmelstein,

Cecilia Pollal,

Ilona Schönbrunn,

Etus Tebovits

und Piroska Weiszmann. 

Was mit der Leiche des einzigen im Geislinger Lager, und zwar am 17.12.44 geborenen männlichen Babys, das die SS verhungern ließ, geschah, ist nicht überliefert.

Die Schicksale der nach Auschwitz „rücküberstellten“ Mordopfer sowie die der hier begrabenen Jüdinnen und des verhungerten Babys machen uns fassungslos. Ihr Tod rollte wie ein Stein ins Bewusstsein unserer Stadt und liegt nun dort mit seinem Menetekel neben den ca. 100 Stolpersteinen. Die Anwesenheit der Toten in unserer Stadtgesellschaft kann eine Bereicherung sein. Mögen wir sie nutzen.

Schließlich möchte ich nicht versäumen, der Stadt Göppingen sowie dem Bundesprojekt „Demokratie leben“ und weiteren Spendern auch im Namen der Stolpersteininitiative Göppingen für die großzügige Unterstützung bei der Finanzierung der Gedenkplatte zu danken sowie Kulturamtsleiter Herrn Hosch und Stadtarchivar Herrn Dr. Rueß, ohne deren Einsatz das Projekt ebenso wenig hätte realisiert werden können wie ohne den Künstler Uli Gsell. Ich danke Ihnen allen.

Dieser Text, verfasst von Sybille Eberhardt wurde anlässlich der Enthüllung der Gedenkplatte am 19.11.2019 von ihr und den Schülerinnen Julia Kunike, Melanie Nuding und Amelie Scharnagel vorgetragen.Die Geschichte des KZ Außenlagers in Geislingen und das Schicksal der jüdischen Zwangsarbeiterinnen hat Sybille Eberhardt in ihrem Buch ‚Als das“Boot“ zur Galeere wurde …‘ (ISBN 978-3-95544-100-5) dargestellt.

     (20.11.2019, SE )