Gartenstr. 2
Die Pferdehandlung in der Gartenstraße
Leider können wir uns kaum ein Bild von Lotte Sinn machen. Bisher gelang es nicht, ein Foto von ihr zu finden und als einzige Zeitzeugin erinnerte sich Lilo Guggenheim-Levine (✝) an sie als eine liebe, etwas dicke, kleinere Frau.
Lotte war das zweite Kind von Liebmann Dreifuß und seiner Frau Bertha, geb. Hirschfeld und kam am 13. Mai 1880 in Königsbach – Stein im Enzkreis zur Welt. Als Beruf ihres Vaters wird ‚Handelsmann‘ genannt, das Elternhaus steht heute noch. Unbekannt ist, wann Lotte nach Göppingen gezogen ist, wahrscheinlich aber anlässlich ihrer Hochzeit mit Theodor Sinn, die im Mai 1903 gefeiert wurde. Theodor war neun Jahre älter als seine Braut und stammte aus Heilbronn. Im Jahr 1900 hatte er zusammen mit seinem Bruder Julius in Göppingen eine Pferdehandlung gegründet.
Das in der Gartenstraße 2 angesiedelte Unternehmen bestand zumindest bis 1927, seit Februar 1902 war das Haus im Besitz der Sinns. Die Verbindung der Gebrüder Sinn zu Göppingen war schon durch einem dritten Bruder, nämlich Jakob Sinn hergestellt worden. Dieser war seit 1887 an der Viehhandlung Fellheimer und Sinn beteiligt.
Lottes Ehemann Theodor starb schon mit 52 Jahren, zu dieser Zeit hatte das Ehepaar zwei Kinder: Die 1904 geborene Tochter Elsa (Else) Sophie, die als Bat Mizwa (Konfirmandin) auf einem Foto zu sehen ist, sowie den 1912 geborene Sohn Alfred.
Nach dem Tod ihres Mannes trat Lotte als Gesellschafterin in das Unternehmen ein. Auch das Haus Gartenstraße 2 befand sich im Besitz der Witwe, ihr Schwager und Miteigentümer Julius Sinn starb 1930 und spätestens nach dem Auszug der Tochter dürfte Frau Sinn Teile des großen Hauses vermietet haben. Aus den Restitutionsakten sind die Namen von drei (christlichen) Mietern überliefert. Die Akten verdeutlichen auch, dass die Familie mit dem Pferdehandel zu gewissem Wohlstand gekommen war.
Ein Nachbar und Geschäftsfreund, der Polsterermeister Eduard Bitsch gab 1960 zu Protokoll: „Die Familie Sinn und meine Familie waren Nachbarn. Wir standen auch in geschäftlichen Beziehungen zueinander. Die Familie Sinn hatte bei mir Polster- und Möbelkäufe getätigt. Es war eine wohlhabende Familie. Ihre Käufe wurden stets bar bezahlt.“
In Aron Tänzers Buch über die Göppinger Jüdische Gemeinde findet sich auch ein Hinweis auf Lottes Engagement im Israelitischen Frauenverein, wo sie 1927 Mitglied des Ausschusses wurde.
Lottes Tochter Else: Trügerische Sicherheit in den Niederlanden
Wer in der Göppinger Lokalzeitung ‚Hohenstaufen‘ vom 27.12.1928 blätterte, stieß auf eine Hochzeitsanzeige, die sich etwas vom Üblichen abhob. Weniger durch das moderne Design der Anzeige, vielmehr waren es der Name und die Adresse des Bräutigams: Lottes Tochter Else hatte am 26. Dezember Bram Kooperberg aus Rijswijk (Holland) geheiratet. Bram ( = Abraham Jacob) Kooperberg, der 1896 geboren wurde, stammte aus einer alten jüdisch-holländischen Familie und war von Beruf Ingenieur.
Der Wohnort Rijswijk liegt im Umfeld von Den Haag und wies einen großen jüdischen Bevölkerungsanteil auf. Elsa und Bram lebten in Rijswijk im Oranjelaan 40 und bekamen zwei Kinder: Theo (Theodor), der wohl den Namen seines Großvaters mütterlicherseits erhielt, wurde 1930 geboren, im nächsten Jahr kam Bea (Bethrina) zur Welt, deren Vorname an die Oma Kooperberg erinnerte.
Auch nach dem Beginn der Nazi – Herrschaft in Deutschland fühlte sich die Familie Kooperberg anscheinend sicher. Ihr Leben konnte die Familie bis zum deutschen Einmarsch in gutbürgerlichem Rahmen führen, wie es einer erhaltenen Wohnungs – Inventurliste zu entnehmen ist. Elses Bruder Alfred schrieb 1962 an das Landesamt für Wiedergutmachung:
„Meine Schwester hatte keine Absicht mit ihrer Familie nach Übersee auszuwandern. Derselben war es gut gegangen in Holland und meine Mutter hatte die Absicht zu ihr zu ziehen und alle ihre leiblichen Güter mitzunehmen. ( … ) Mein Schwager war der Ansicht, dass Holland in dem Konflikt wie im ersten Krieg neutral bleiben kann.“
Der deutsche Einmarsch in den Niederlanden 1940 zerstörte diese Hoffnung und war Voraussetzung, die jüdische Bevölkerung im Nachbarland zu ermorden. Else, Bethrina und Theodor Kooperberg wurden von den Nazis nach Auschwitz deportiert und dort am 19. Oktober 1942 ermordet. Abraham Jacob Kooperberg wurde zur Zwangsarbeit in das Lager Wiesau in Niederschlesien verbracht, wo die Häftlinge im Bergbau (Kupferabbau) und im Straßenbau eingesetzt wurden. Er starb dort am 30.April 1944. Mindestens vier seiner Geschwister wurden ebenfalls von den Nazis ermordet: Simon Kooperberg starb 1945 im Lager Blechhammer, Heintje 1943 im KZ Auschwitz, wo auch die Schwester Elisabeth Keijl starb. Philip Kooperbergs Leben endete gewaltsam 1943 im KZ Sobibor.
Aus der Stadt Rijswiek wurden insgesamt 237 jüdische Bürgerinnen und Bürger ermordet. Mit einer Gedenktafel erinnert die Gemeinde an die Opfer der deutschen Nazi – Herrschaft.
Auf gepackten Koffern
Lottes Sohn Alfred konnte im Oktober 1936 in die USA flüchten und vielleicht war es Lotte Sinn durchaus Recht, als ihr 23-jähriger Neffe Lothar Dreifuß zu ihr zog. Er war der Sohn ihres jüngeren Bruders Jakob Dreifuß, der mit Frau und Tochter im September1939 nach Brasilien flüchten konnte und gehofft hatte, den Sohn bald nachkommen zu lassen.
Lotte ihrerseits plante, zur Tochter Else in die Niederlande zu ziehen. Einen Großteil ihres Hausrats hatte sie vom befreundeten Eduard Bitsch in große Kisten verpacken und abschicken lassen, aber dieser sogenannte ‚Lift‘ sollte nie bei der Tochter eintreffen. Eine Nachbarin in Rijswijk, Frau van Lommel schrieb 1960 an Alfred Sinn: „ … kann ich nur sagen, daß ich niemals etwas davon gesehen oder gehört habe in dem Haus ihrer Schwester, die eine sehr gute Freundin von mir war. Während der Kriegsjahre war ich sehr oft dort und obgleich wir gehofft hatten, daß ihre Mutter hier bald ankommen würde, haben wir weder sie noch die große Holzkiste, die Sie in Ihrem Schreiben erwähnen, gesehen. Ich glaube, daß diese Holzkiste hier niemals angekommen ist und der Inhalt in Deutschland verblieben ist.“ Wo der ‚Lift‘ verloren ging bzw. geplündert wurde, konnte auch nach gründlicher Recherche im Rahmen der ‚Wiedergutmachung‘ nicht geklärt werden. Lotte verkaufte auch ihr Anwesen (Wohnhaus, Scheuer, Wagenschuppen und Hofraum) in der Gartenstraße 2 an die Stadt Göppingen.
Der Wert wurde mit 26.500,- RM geschätzt, im Kaufvertrag vom 10. Juli wurde festgehalten, dass die Stadt 22.000, – zu zahlen bereit war. Von diesem Betrag gingen ca. 3400,-RM an das Finanzamt, über 600,- RM an den Oberrat der Israelitischen Religionsgemeinschaft Stuttgart, und knapp 18.000,- RM blieben formal der Verkäuferin, die aber auf das Geld, das auf einem Sperrkonto lag, keinen Zugriff hatte.
Bis Ende Januar 1940 konnten Lotte Sinn und Lothar Dreifuß anscheinend in der Gartenstraße wohnen bleiben, dann mussten sie in die ‚Judenhäuser‘ Geislinger Str. 6 und 8 ziehen, die der Familie Dörzbacher gehörten. Am 1. Dezember 1941wurden Lotte und Lothar vom Lager Killesberg (Stuttgart) aus nach Riga/Jungfernhof deportiert und wahrscheinlich am 26. März 1942 ermordet.
Aus Lotte Sinns Familie wurden auch ihr in Karlruhe lebender Bruder Herrmann Dreifuß und seine Frau Viktoria im Jahr 1942 in Auschwitz ermordet.
Lottes Sohn Alfred heiratete in den USA Hannah, geb. Strauss. Die beiden hatte 1984 Alfreds Geburtsstadt Göppingen besucht. Der damalige Oberbürgermeisters Hans Haller hatte das Ehepaar Sinn sowie weitere Juden eingeladen, die aus Göppingen geflohen waren. Alfred Sinn starb 2001 in New York.
Am 25. November 2011 legte Gunter Demnig einen Stolperstein vor das Haus Gartenstraße 2, damit Lotte Sinn nicht vergessen wird.
Wir danken Herrn J.F. van Gils / Niederlande für die Überlassung des Fotos mit der Familie Kooperberg-Sinn. Die Familie van Gils war eng mit den Kooperbergs befreundet.
(12.10.2023 kmr)
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