Gartenstraße 2

Im kleinen badischen Ort Königsbach, zwischen Karlsruhe und Pforzheim gelegen, lebten Juden seit zweieinhalb Jahrhunderten und stellten einen beträchtlichen Anteil an der Bevölkerung. Hier, im heute noch bestehenden Haus in der Schulstraße 9, kam Lothar Dreifuß am 24. April 1916 zur Welt. Sein Vater Jakob Dreifuß war Viehhändler von Beruf, Lothar war das zweite Kind von Jakob und Selma, seine Mutter hatte schon vier Jahre zuvor die Tochter Norma zur Welt gebracht.

Norma und Lothar

Der herangewachsene Lothar wird im Heimatbuch der Gemeinde Königsbach als „großer, unbeholfener und einfältiger Bursche“ beschrieben.

Lothar Dreifuß

Dem Spott ausgesetzt

Am 10. November 1938 wurde der reichsweite Pogrom auch an den Königsbacher Juden verübt. Wie es sich oft nachweisen lässt, war es zunächst ein von auswärts stammendes Kommando, das mit dem Zerstörungswerk begann. Die angereisten Nazis fanden aber am Ort genügend Helfer, die es ihnen ermöglichten, gezielt die Wohnungen der Juden zu verwüsten. Auch die Königsbacher Synagoge sollte zerstört werden, wogegen sich aber der Bürgermeister verwehrte, denn die Gefahr für die umliegenden Häuser hielt er für zu groß. Als Ersatz wurden alle Gegenstände aus der Synagoge gerissen und auf einem Scheiterhaufen am Platz davor verbrannt. Jüdische Dorfbewohner wurden mit Gewalt gezwungen, bei der Zerstörung auch der heiligen Gegenstände mitzuwirken, ein Jude wurde dabei grundlos zusammengeschlagen und schwer verletzt. Da die Synagoge zunächst wenig beschädigt worden war, beschlossen die Nazis, das Dach des Gotteshauses zu demolieren, was bei einigen Zuschauern aber das Bedauern über die doch noch guten Ziegel auslöste. Auch für diese Zerstörung mussten ortsansässige Juden herhalten, darunter, laut Heimatbuch, auch Lothar Dreifuß, der „schreckliche Angst hatte, als man ihn auf das Dach hinauf schickte“, wie sich ein Zeitzeuge erinnerte.

links: Synagoge von Königsbach (Quelle: ‚Spuren Jüdischen Lebens in Königsbach‘, S. 80)

Einreise nicht erwünscht

Lothar wurde zwar nicht wie sein Vater ins KZ Dachau transportiert, dürfte nach dem Pogrom aber traumatisiert gewesen sein. Unverzüglich plante die Familie Dreifuß die Flucht aus Deutschland. Man bereitete die Auswanderung nach Brasilien vor und hatte auch das Glück, ein Visum zu erhalten – alle außer Lothar. 

Selma und Jakob Dreifuß auf der Schiffspassage

In den Restitutionsakten wird 1964 seine Schwester Norma zitiert: „ Er konnte deshalb nicht mit seinen Eltern auswandern, weil er die gesundheitlichen Erfordernisse für das Einreisevisum nicht erfüllte. Er war nämlich geistig zurückgeblieben.“ Die Eltern wollten ihren Sohn freilich nicht mittellos zurücklassen. Für ihn wurde eine Kiste gepackt, die im Schriftwechsel dann als „Aussteuer“ bezeichnet wird. Lothars Vater Jakob Dreifuß gab 1951 in Rio de Janeiro zu Protokoll: „Ich erkläre hiermit an Eides statt, dass ich für die Aussteuer zw. Auswanderung meines Sohns Lothar Dreifuß RM 7500,- ausgegeben habe. Dieselbe stand verpackt und amtlich plombiert bereit.“ Die Familie hatte also vor, Lothars Nachzug von Brasilien aus zu betreiben, zunächst sollte Lothar aber ein sicheres Zuhause finden und zwar in Göppingen, wo seine Tante Lotte Sinn lebte, eine verwitwete ältere Schwester seines Vaters.

Zuflucht bei der Tante in Göppingen, ermordet in Riga

Im Sommer 1939 war Lotte Sinn 59 Jahre alt, ihre eigenen Kinder wohnten schon seit längerem nicht mehr in ihrem großen Haus in der Gartenstraße 2, wo ihr verstorbener Mann Theodor mit Pferden gehandelt hatte. Aus Lothars Göppinger Zeit ist kaum etwas überliefert. Wie seine Tante musste er schon nach wenigen Monaten aus dem Haus Gartenstraße 2 ausziehen und kam bei der Familie Dörzbacher in der Geislingerstraße 6 unter, die gezwungen wurden, viele Glaubensgenossen zu beherbergen. Lothar muss oft von der Auswanderung gesprochen haben und seine Fantasien machten sich an der Aussteuerkiste fest. Er vermutete, wie sich Hulda Dörzbacher erinnerte, in dieser neben Wäsche, Anzügen, Kissen und Schuhen auch Schmuckgegenstände – letztere sind aufgrund der restriktiven Ausfuhrbestimmungen wahrscheinlich nicht enthalten gewesen. Lothars Hoffnungen wurden enttäuscht, viel schlimmer: Es gelang der Familie nicht, ihn zu retten.

Mutter Selma und Schwester Norma

Am ersten Dezember 1941 wurde Lothar wie seine Tante Lotte nach Riga deportiert, wo er im Lager Jungfernhof unter unmenschlichen Bedingungen sein Leben fristen musste. Wahrscheinlich wurde Lothar, wie die meisten Insassen des Lagers, Ende März 1942 im Wald Bikernieki von „Einsatzgruppen“ erschossen.

Aus der Familie Dreifuß wurden noch weitere Mitglieder von den Nazis ermordet: Lothars Cousine Elsa Kooperberg, deren Mann Abraham und die Kinder Theodor und Bethrina, ebenso sein Onkel Hermann Dreifuß und dessen Frau Victoria. (Siehe Stolperstein – Seite Lotte Sinn)

Lothars Mutter starb 1948, sein Vater 1954 im brasilianischen Exil; seine Schwester Norma heiratete und bekam zwei Kinder. Mit einer seiner Nichten, Frau Marion Gideon, die in den USA lebt, konnte die Stolperstein-Initiative Kontakt knüpfen. Wir danken ihr herzlich für die überlassenen Fotos.

Am 25. November 2011 legte Gunter Demnig einen Stolperstein vor dem Haus Gartenstraße 2, mit dem an Lothar Dreifuß erinnert wird.

Gartenstraße 2

(20.12.2016 kmr)