Grabenstr. 18

Für Kurts Eltern Simon und Frieda Oppenheimer wurden 2009 Stolpersteine vor ihrem Haus in der Grabenstraße 18 verlegt. Warum zögerten wir, die Mitglieder der Stolperstein Initiative Göppingen, auch ihrem jüngsten Sohn Kurt einen Stolperstein zu setzen? Lange konnten wir die entscheidende Frage nicht klären, wie und wo Kurt Oppenheimer gestorben ist.

Kurt Oppenheimer (hinten sitzend im weißen Hemd

Kurt wurde als viertes und jüngstes Kind des Ehepaars Oppenheimer am 10. Dezember 1920 in Göppingen geboren. Er wuchs am (heutigen) Spitalplatz auf und seine beste Freundin und Spielkameradin war die Nachbarstochter Lilo Guggenheim (✝), die im Haus Grabenstraße 20 wohnte.

Lilo Guggenheim

Lilo erzählte in ihrem Buch „Auch das geht vorüber“ von ihren gemeinsamen Erlebnissen als Kinder. Sie waren ein Herz und eine Seele und auch während ihrer Schulzeit, Kurt besuchte das Realgymnasium (heute Freihof-Gymnasium) blieben die beiden und ihre Familien miteinander verbunden. Im Jahr 1937 zog Lilo mit ihren Eltern nach Stuttgart, doch der Kontakt zur Familie Oppenheimer riss nicht ab. Kurt konnte zu dieser Zeit noch seine Mittlere Reife machen, obwohl dem „Oppel“, wie er in der Klasse genannt wurde, die antisemitischen Hetzereien das Leben zur Qual machten. Er war von kleiner Statur und konnte deshalb im Sportunterricht nicht glänzen. Auch seinem einzigen jüdischen Mitschüler, Rolf Heimann, traf dieser Spott, da er statt sportlicher Begabungen ’nur‘ musikalisches Talent besaß.

Wie tief die Narben waren, die die erste Deportation nach der Reichspogromnacht hinterließen, kann man nur erahnen. Als 17-jähriger war Kurt Oppenheimer der Jüngste der 27 Göppinger Juden, die am 12. November 1938 zur „Umerziehung“ durch die Nazis ins KZ Dachau verbracht wurden. Am 29. Dezember 1938, nach einem und einem halben Monat Folter und Todesangst, wurde er entlassen. Ab diesem Zeitpunkt suchte er nur nach einer Möglichkeit, aus Deutschland herauszukommen.

Kurt Oppenheimer (ganz rechts)

Am 8. März 1939 gelang es Kurt nach England zu flüchten, fünf Monate vor seiner Freundin Lilo, die auf der Isle of Wight eine Anstellung als Hausangestellte bekam.

Lilo wie Kurt suchten nach Bekannten im fremden Ausland. Kurt fand eine Stütze in seinem älteren Bruder Lothar, der schon im Mai 1937 nach England ausgewandert war. Als wir 2009 mit den Recherchen über das Schicksal von Kurt Oppenheimer begannen, wandten wir uns an Lilo Guggenheim, verheiratete Levine, die in Amerika lebte. Sie gab uns gerne Auskunft. Den Kontakt zu Lothar Oppenheimer hatte sie nie abbrechen lassen. Das Schicksal von Kurt war ihr sehr nahe gegangen. Ihrer Meinung nach, war er einer der Emigranten, die 1940 von Großbritannien nach Kanada deportiert werden sollten. Kurt Oppenheimer hätte sich auf dem Schiff Arandora Star befunden, das von Liverpool in England am 2. Juli 1940 um 4:00 Uhr morgens nach St. Johns Neufundland ausgelaufen ist und am 2. Juli, also am selben Tag, um 7:58 Uhr von einem deutschen U-Boot torpediert wurde. An Bord befanden sich 1673 Menschen, 805 starben, 868 überlebten. Von den 1299 Internierten und Kriegsgefangenen an Bord überlebten 586 italienische und deutsche Internierte. Unter den Toten befanden sich 243 Deutsche. Lilo hatte erfahren, dass Kurt einer der Internierten gewesen sei, die diesen Angriff der Deutschen Kriegsmarine nicht überlebt hatten. Auch Richard Fleischer, jüngster Sohn der Familie Fleischer und Holocaust-Überlebender aus der Göppinger Hauptstraße, kannte diese Version seines tragischen Todes. Unsere Versuche, die Passagierliste der Internierten einzusehen, waren ohne Erfolg, da von diesen Mitreisenden entweder nie eine Aufstellung aller Namen angefertigt wurde oder sie heute nicht mehr auffindbar ist.

Irritiert an den Berichten von Lilo Guggenheim Levine und Richard Fleischer hatten uns aber die Informationen aus den Wiedergutmachungsakten für Kurts Eltern, Simon und Frieda Oppenheimer, die wir im Staatsarchiv Ludwigsburg einsehen konnten. Die Verhandlungen über das seelische und materielle Schadensausmaß, das die Familie erlitten hatte, fanden ab 1960 statt. Als Erben wurden Kurts Geschwister benannt:
Selma Heimann, geborene Oppenheimer, die in Israel lebte, Erna Oppenheimer, die ledig geblieben und in England wohnhaft war, und Lothar Oppenheimer, der 1948 nach Amerika ausgewandert war und dort einer kaufmännischen Tätigkeit nachging.
In einer Akte war zu lesen: „Weitere Erben sind nicht vorhanden. Vor dem Erbfall ist durch den Tod der weitere Sohn Kurt Oppenheimer, ledig, Kaufmann in London Nr. 1, 7. St. Mary’s Grove, welcher am 29.10.1942 bei der Torpedierung eines engl. Kriegsschiffes zwischen Australien und England ums Leben gekommen ist, weggefallen. Hiewegen berufe ich mich auf die Photokopie zu den Nachlaßakten gegebene Bescheinigung des englischen Seeamtes vom 18. Juni 1943.“
Nun lagen uns zwei verschiedene Todesdaten von Kurt Oppenheimer vor, außerdem irritierte uns der Ort seines Todes – ein englisches Kriegsschiff auf dem Weg von Australien nach England?

Wir nahmen Kontakt auf mit Frau Rut Ben-Zeev, der Tochter Selma Oppenheimers, die in Israel lebte. Sie hatte im Jahr 2000 ein Gedenkblatt für ihren Onkel Kurt in Yad Vashem anlegen lassen. Den in hebräischer Schrift eingetragenen Text ließen wir uns übersetzen. Bei der Frage zur Todesursache stand: „Ertrinken nach Haft und Befreiung aus Konzentrationslager, auf dem Meer, auf dem Weg von Australien nach… (dieses Wort ist unleserlich) im Zweiten Weltkrieg.“ Ein Todesdatum wird auf diesem Formular nicht genannt. Leider konnte uns Kurts Nichte nicht weiterhelfen, da sie die Informationen von ihrer verstorbenen Mutter bzw. ihrem Onkel Lothar bekommen hatte und über die näheren Umstände des Todes Kurt Oppenheimers nichts erfahren hatte. Möglicherweise bedingt durch Sprachschwierigkeiten, trug ihre Aussage, Kurt wäre als Mitglied des englischen Militärs umgekommen, dann noch mehr zur Verwirrung bei. Möglich wäre das gewesen, denn einige deutsche Internierte erhielten bald ihre Freiheit wieder und konnten ab 1941/42 in den englischen Militärdienst eintreten. Wir wollten keinen Hinweis unbeachtet lassen, und baten einen englischen Hobby-Historikers, den Namen Kurt Oppenheimer auf den Listen der im Zweiten Weltkrieg gefallenen britischen Soldaten zu suchen. Wie sich herausstellte, eine aussichtslose Sache, da jüdische Einwanderer deutscher Herkunft, sobald sie in den englischen Militärdienst eintraten, einen anderen, englischen Namen bekamen.

Frau Ben-Zeevs Tipp war, uns mit ihrem Onkel Lothar in Verbindung zu setzen. Doch einschränkend fügte sie hinzu, dass er zum Schicksal seines Bruders möglicherweise aufgrund seines hohen Alters mit 95 Jahren keine Aussagen mehr machen könnte. So war es: Wir bekamen Kontakt zum Adoptivsohn von Lothar Oppenheimer, der uns davon abhielt, seinen betagten Vater mit den Themen Holocaust und der nationalsozialistischen Vergangenheit zu beunruhigen.

Diese Vielfalt an ungesicherten Erklärungsmöglichkeiten schreckte uns ab, 2009 einen Stolperstein für Kurt Oppenheimer zu setzen. Drei Jahre später fand ich bei der nochmaligen Durchsicht des Werks von Paul Sauer über die Schicksale der jüdischen Bürger Baden-Württembergs während der nationalsozialistischen Verfolgungszeit 1933 – 1945 die Erklärung für Kurt Oppenheimers Schicksal. Wie Lilo Guggenheim berichtet hatte, befand er sich beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in Großbritannien. Dort, wo er Zuflucht gesucht hatte, stand er plötzlich vor einer veränderten Situation. Er war mit Kriegsbeginn als Deutscher zum ‚feindlichen Ausländer’ geworden. Im Mai bzw. Juni 1940 ordnete die britische Regierung die Internierung aller Immigranten an. Da Kurt im wehrpflichtigen Alter war und als besonders unzuverlässig in der politischen Haltung eingestuft wurde, wurde er wie einige Tausend Flüchtlinge nach Australien oder nach Kanada deportiert. Paul Sauer schreibt:
„Etwa 2000 von ihnen mussten die Schiffsreise nach Australien auf der „Dunera“ zusammen mit deutschen Seeleuten und anderen internierten deutschen Staatsangehörigen unter harten Kriegsgefangenenbedingungen und im tropischen Sommer antreten. Während der achtwöchigen Fahrt raubten ihnen üble Burschen unter den Wachmannschaften … ihre persönliche Habe. Nach der Ankunft in Australien wurden sie zunächst in zwei mit Stacheldraht umgebene Lager gesperrt.“

Mitglieder des englischen Ober- und Unterhauses setzten sich aber für die Rechte der Flüchtlinge ein, so dass bereits im Juli 1940 die ersten Internierten wieder ihre Freiheit erhielten. Bis Mitte 1941 waren die meisten Flüchtlinge aus den Internierungslagern entlassen, jedoch nicht diejenigen, die in Australien gefangen gehalten wurden. Die australischen Behörden behandelten die Internierten, so auch Kurt Oppenheimer, wie Kriegsgefangene. Von England aus versuchte man ihr Los zu erleichtern, ihre Freilassung zu erreichen und Kurt Oppenheimer gehörte schließlich zu einer der letzten Gruppen der Internierten, für die im Oktober 1942 eine Rückführung nach Großbritannien erlaubt wurde. Der Weg in die Freiheit schien jetzt auch für ihn geebnet zu sein.

Doch was passierte: „Vierzig Flüchtlinge, unter ihnen der 22 jährige Kurt Oppenheimer aus Göppingen, verloren auf der Rückfahrt von Australien ihr Leben, als das Schiff, auf dem sie sich befanden, torpediert wurde„. Diese Angaben hatte Lothar Oppenheimer zum Tod seines Bruders 1960 gemacht, als Paul Sauer ein Auswertungsblatt für jeden jüdischen Bürger und jede jüdische Bürgerin angelegt hatte, der/die ab 1. März 1933 in Baden-Württemberg seinen bzw. ihren Wohnsitz hatte. Nun hatten wir von der Stolperstein-Initiative die traurige Gewissheit, wie tragisch das Leben von Kurt Oppenheimer am 29. Oktober 1942 endete – auf dem Weg nach England in die Freiheit! Mit großer Wahrscheinlichkeit wurde Kurts Schiff von einem Japanischen Kriegsschiff versenkt. Zwar befanden sich auch kleine Geschwader der Deutschen Kriegsmarine im Pazifik. Im fraglichen Zeitraum hielt sich aber kein deutsches Schiff im fraglichen Seegebiet auf .

So legte Gunter Demnig am 2. Oktober 2013 neben den Steinen seiner Eltern in der Grabenstraße 18 auch für Kurt Oppenheimer einen Stolperstein.

Grabenstraße 18

Als Gast aus der Familie wirkte Elad Dente bei der Zeremonie mit. Elad ist ein Urenkel von Kurts Schwester Selma und war aus Israel angereist.

Elad Dente (links), Urgroßneffe von Kurt Oppenheimer, bei der Stolpersteinsetzung

(03.01.2020 clm / kmr)