Hauptstraße 11

Irma und Julius Fleischer um 1919

Liebesheirat mit einer ‚Auswärtigen‘

Im November 1919 wurde in Camberg Hochzeit gefeiert. Irma May aus Camberg ging eine ‚Liebesheirat‘ mit Julius Fleischer aus Göppingen ein, keine Selbstverständlichkeit in bürgerlichen Kreisen dieser Zeit. Irmas Vater Moritz May war Inhaber eines Metallwaren – Großhandels und in seinem Beruf sehr erfolgreich. In Irmas Elternhaus – sie war das einzige Kind von Hedwig und Moritz May – wurde eine jüdische Kultur gepflegt, die sich dem Wohlleben und der Kunst nicht verschloss. Auch später in Göppingen sollte Irma Fleischer ihre kulturelle Mitgift pflegen: Regelmäßige Opernbesuche in Stuttgart, aber auch intensives Interesse an der aktuellen Mode.

Hedwig May
Moritz May

Tochter Doris-Sylvia erinnerte sich, dass ihre Mutter im biederen Göppingen bald als etwas extravagant galt, selbst in der Familie ihres Mannes: „Die Frauen aus Vaters Familie kauften Kleider, die haltbar waren – das Kleidungsstück war unbedingt von bester Qualität – während Mutter jede Saison neue Kleider hatte“. Auch das modische Erscheinungsbild ihrer Töchter war ihr wichtig: „Ich wusste, dass meine Röcke kürzer waren als die meiner Schulkameradinnen. Mutter hatte gesagt, dass sie wie Bäuerinnen gekleidet seien – aber als Kind will man nicht auffallen…“

v.l.: Doris, Susanne Richard und Arnold

Zwischen 1920 und 1927 kamen die Kinder Arnold, Doris-Sylvia, Susanne, und Richard auf die Welt. Wie im gehobenen Bürgertum dieser Zeit üblich, waren Kinderbetreuung und -erziehung die Aufgaben einer Gouvernante. Besonders Hedwig (‚Hede‘) Herbster aus Gosbach war den Fleischer – Kindern in bester Erinnerung geblieben. Hede blieb der Familie auch nach ihrem Ausscheiden aus dem Dienst verbunden und legte sich später mit den Nazis an. Sie bekundete öffentlich, dass sie Juden als anständige und ehrenswerte Menschen kennen gelernt habe, erst die Drohung mit dem KZ ließ sie verstummen.

Hedwig (Hede) Herbster

Julius‘ Berufung

Zum Zeitpunkt der Hochzeit konnte Julius Fleischer als ‚gute Partie‘ gelten, da er und sein jüngerer Bruder Arthur als Nachfolger in der Geschäftsführung der väterlichen Korsettfabrik vorgesehen waren, eine Aufgabe, die er nach dem Tod seines Vaters Samuel Fleischer auch übernommen hat. Seine Ausbildung erfuhr er am renommierten Reutlinger ‘Technikum für Textilindustrie‘ in den Jahren 1900 /01. Ohne die familiären Verpflichtungen hätte Julius Fleischer aber Medizin studiert und die Heilkunst im weiteren Sinn blieb bestimmend für sein Leben. Mit den Jahren zog er sich immer mehr aus der Geschäftsleitung zurück und folgte seiner Berufung: Zwar nicht als Arzt, so doch als Heilpraktiker, als Heiler, als Erfinder von Naturheilmitteln. Im eigenen Labor kreierte er Heiltränke, einer mit der Bezeichnung ‚Olvicor‘ war Zeitzeugen noch in Erinnerung. Jahrelang war Julius Fleischer auch im Göppinger Kneipp – Verein aktiv, unter anderem als Kassier. Vor allem Menschen aus dem dörflichen Umland Göppingens suchten Herrn Fleischers Rat und Hilfe, weswegen er oft – per Fahrrad – zu Besuchen unterwegs war. Irma Fleischer hatte für den neuen ‚Beruf‘ ihres Mannes wenig Verständnis. Später sollte die Tochter Doris (Sylvia Hurst) schreiben: „Mutter hatte vor 20 Jahren einen Korsettfabrikanten geheiratet, jetzt war er ein naturheilkundiger Arzt, ein Mystiker“.

Frau Margret Duisberg, die in der Nachbarschaft aufwuchs und mit der Familie Fleischer befreundet war, schreibt: „Julius Fleischer genoss eine stille Hochachtung – nach außen bescheiden, wirkte er in seinem Umfeld aufklärend und hilfsbereit und man hatte stets das Gefühl, dass er vieles wusste!“

Mit Albert Einstein befreundet

Julius Fleischers Freundeskreis ging weit über Göppingen hinaus. Seine Kinder Doris und Richard erinnerten sich, dass der Arzt und Schriftsteller Friedrich Wolf Gast ihres Vaters war, auch er ein Verfechter der ‚Alternativ – Medizin’. Prominentester Besucher und Freund Julius Fleischers war freilich Albert Einstein, der übrigens auch ein (sehr) entfernter Verwandter war und der den Kindern als ‚Onkel‘ galt. Sylvia Hurst schreibt dazu: “Als Kind verbrachte er und seine Schwester Maja viele Schulferien mit unserer Familie, da deren Kinder im gleichen Alter waren (wie die der Einstein-Familie – kmr). Mein Vater und er blieben zeitlebens Freunde. Vater glaubte ernsthaft daran, dass seine besondere Gabe der medizinischen Hellsichtigkeit gottgegeben sei, sein Eins – Sein mit der Natur ein Teil davon. Diese Auffassung teilte er mit Albert. Beide nahmen an, dass sie die Kräfte des Universums und des Kosmos fühlen konnten“. Neben den geistigen Gemeinsamkeiten sollen aber auch die Qualität von Irmas Spätzle Grund für Einsteins Besuche gewesen sein. Umgekehrt freuten sich die Fleischer – Kinder an den großzügigen Gastgeschenken von ‚Onkel Albert‘. Abgesehen von diesen prominenten jüdischen Freunden bestand Julius Fleischers Freundeskreis mehrheitlich aus Nicht – Juden.

… ein unwirklicher Alptraum

Das Erstarken der NS – Bewegung betrachtete Julius Fleischer zunächst mit Gelassenheit. Sylvia Hurst schreibt: „Die jüdische Bevölkerung in meiner Stadt zerfiel in zwei Gruppen. Die eine glaubte, dass die Auswanderung unbedingt und schnell erfolgen müsse, die andere war der Überzeugung – und dazu gehörten meine Eltern, oder sollte ich sagen, mein Vater – dass das Nazitum ein verrückter und unwirklicher Alptraum sei und dass die schlechte Zeit vorübergehen würde. Um aber auf der sicheren Seite zu sein, ging Vater auf das Amerikanische Konsulat in Stuttgart, um eine Warte – Nummer zu bekommen“.

Mit der Machtübergabe an die Nazis begann die rapide Ausgrenzung und Entrechtung jüdischer Bürger. Julius Fleischer wurde aus dem Vorstand des Kneipp – Vereins gedrängt, frühere Bekannte, darunter viele Künstler, die wochenlang Fleischers Gastfreundschaft in Anspruch genommen hatten, mieden ihren früheren Gönner. Nachbarn in der Hauptstraße hängten ein „Juden sind hier unerwünscht“ – Schild an die Ladentüre und lieferten aus eigenem Antrieb, wie sich Richard Fleischer erinnerte, täglich telefonische Berichte über ‚die Juden nebenan‘ der Polizei ab. Die finanzielle Situation der Familie verschlechterte sich zusehends. Sylvia Hurst schreibt über das Jahr 1937: „Vaters Einkommen war null. Er hielt es aber für falsch, für seine Gabe Geld zu verlangen und meistens versorgte er seine Patienten kostenlos mit Medikamenten“.

… auf der Polizeiwache

Während der Pogrom – Nacht vom 9. auf den 10.11.1938 war Irma Fleischer bei ihren Eltern zu Besuch, die damals schon in Frankfurt / M lebten. Auch die Tochter Doris und der Sohn Richard waren nicht im Göppinger Haus in der Hauptstraße, wo die Familie zur Miete wohnte. Sylvia Hurst, geb. Doris Fleischer stützt sich in ihrem Buch ‚Laugh or Cry‘ auf die Erinnerungen ihrer Geschwister Arnold und Susanne: „Es war früher Morgen, als zwei SA – Männer Einlass verlangten und nach Julius Fleischer suchten. Seinen Kindern Susanne und Arnold konnte er noch zurufen: „Ich gehe mit diesen Herren auf die Polizeiwache, wegen Ermittlungen. Ich werde bald wieder da sein. Ihr geht jetzt wieder ins Bett. Wenn ich zum Frühstück nicht zurück sein sollte, ruft Mutter an. Keine Sorge!“

Genau einen Monat lang wurde Julius Fleischer im KZ Dachau festgehalten und gedemütigt. Sylvia Hurst schreibt weiter: „Ich bekam einen rührenden Brief von ihm, der besagte, dass er bei guter Gesundheit sei. Er schrieb, dass seine Atemübungen ihn während des Lageraufenthalts aufrecht gehalten hätten.“ Dass diese Worte eher zu Beruhigung der Tochter gedient hatten, merkte sie, als sie ihrem Vater später begegnete: „Ich bekam einen Schock, als ich ihn sah. Vater sah so mager aus und sein Stoppelkopf war schrecklich. Ich wies darauf hin. Mutter lächelte: Jetzt ist’s schon besser. Du hättest ihn sehen sollen, als er aus dem Lager kam, er war glatt geschoren. Mutter sah zerbrechlich aus. Ich bemerkte eine graue Strähne in ihrem Haar.“

Traumatische Erfahrungen musste auch der Sohn Richard machen. Seine Esslinger Internatsschule ‚Wilhelmspflege‘ wurde in der Pogromnacht überfallen. Die Einrichtung wurde zerstört und die Lehrer misshandelt: „Der Lärm, das Schreien. Die Lehrer versuchten die kleinen Kinder vorm Mob zu schützen. Nicht der Hauch einer Chance“ (Aus einem Brief an Peter Conrad vom 26.11.09)

Beraubung – die älteren Kinder fliehen

Mit dem Beginn des Jahrs 1939 wurden Juden gezwungen, Wertsachen dem deutschen Staat abzuliefern. Die ohnehin verarmte Familie verlor mit den Werten auch persönliche Erinnerungsstücke, so eine kostbare Perlenkette, einst Julius Hochzeitsgeschenk an seine Frau. Lächerliche 13 Mark wurden für dieses Schmuckstück gutgeschrieben. Da habe der Nazi – Beamte wohl unter einem Schreibkrampf gelitten, kommentierte Julius Fleischer das Dokument der Beraubung. Auswanderungspläne des Ehepaars nach England scheiterten an der Haltung einer dort lebenden Verwandten, die sich nicht imstande sah, zu bürgen. Freilich war sie schon für mehrere, ihr näher stehenden Verwandten Bürgschaften eingegangen. Immerhin gelang es dem Sohn Arnold im April 1939 als Begleiter einer älteren Verwandten nach England zu fliehen. Im Juli folgten ihm, diesmal im Rahmen eines Kindertransports, die Schwestern Doris und Susanne.

Arnold Fleischer wurde als „feindlicher Ausländer“ während des Kriegs von England nach Kanada verschickt und arbeitete dort in einem Holzfällerlager. Nach dem Krieg erhielt er die kanadische Staatsangehörigkeit, heiratete und war als Unternehmens- und Steuerberater erfolgreich. 1968 starb er 48-jährig ohne eigene Nachkommen.

Susanne Fleischer wanderte später in die USA aus, heiratete den Arzt Philip Nassau und wurde Mutter einer Tochter und eines Sohns. Sie starb 1975 an den Folgen eines Auto-Unfalls.

Doris-Sylvia Fleischer, verheiratete Sylvia Hurst, blieb in England, arbeitete in verschiedenen kreativen Berufen, unter anderem als Mode-Designerin und wurde Mutter einer Tochter.

Sylvia Hurst, geb. Doris Fleischer

Während ihres Aufenthalts in England hatten die Fleischer – Kinder fast keine Möglichkeit, etwas über das Leben ihrer Eltern und ihres jüngsten Bruders zu erfahren. Denn ihn, den 1927 geborenen Richard wollten die Eltern noch nicht allein in die Fremde schicken, eine verständliche Entscheidung, die aber schreckliche Folgen haben sollte. Aus der Zeit in Göppingen erinnerte sich Richard, dass die verbliebene Familie ihre Rest – Wohnung in der Hauptstraße 11 zwangsweise mit der Familie Sally Frank teilen musste: “ Die Franks lebten in einer 1-Zimmer-Wohnung mit uns zusammen. Sie hatten einen großen weißhaarigen Hund namens ‚Roland‘. Ich hatte das große Glück, sie lebend 1945 in Pirmasens wiederzusehen.“ (Siehe auch Stolperstein-Biografie zur Familie Frank). Später, wahrscheinlich im Jahr 1939 wurde die Restfamilie Fleischer ganz aus ihrer Wohnung vertrieben und kam im ‚Judenhaus’ Mörikestraße 30 unter, in dem jüdische Familien oder Einzelpersonen zwangseingewiesen worden waren.

Aus den Jahren 1939 bis 1941 sind Briefe von Hedwig Frankfurter, Sara Zitter und Isidor Fränkl erhalten. Alle drei waren von unterschiedlicher regionaler und sozialer Herkunft und dürften sich in der Zeit vor der Naziherrschaft nur flüchtig gekannt haben. In der Zeit der Bedrängnis taucht aber in allen Briefen der Name von Julius Fleischer auf. Als viele Göppinger Jüdinnen und Juden schon geflüchtet waren, dürfte es Julius Fleischer gewesen sein, der den Kontakt zwischen den zurückgebliebenen bewahrte und pflegte. Er scheint der ‘gute Geist‘ der jüdischen Gemeinde gewesen zu sein, eine Aufgabe, die der letzte, aus Laupheim stammende Rabbiner Wallach womöglich nicht wahrnehmen konnte, zumal er nur bis August 1939 in Göppingen lebte.

Ziel: Riga / Lager Jungfernhof   

Am 28. November 1941 wurden Irma, Julius und Richard Fleischer von Beamten der Göppinger Polizei nach einer Nacht in der Schiller – Schulturnhalle zum Bahnhof ‚begleitet‘. Über das Lager auf dem Stuttgarter Killesberg, der nächsten Station auf dem Weg in die Hölle schreibt Richard: „Ja, ich erinnere mich an den Killesberg. Der Gestank, die Verwirrung. Schlafen auf dem Fußboden. Das Anstellen vor der Toilette. Aber am meisten, wie die Angehörigen der Gestapo meinen Vater behandelten. Das mit ansehen zu müssen, war wirklich schlimm für einen kleinen Jungen.“ (Aus: Brief vom 23.09.2009 an Peter Conrad)                                                                                             

Vom Lager auf dem Stuttgarter Killesberg wurde die Familie nach Riga deportiert, genau gesagt in das Lager Jungfernhof, einem ehemaligen landwirtschaftlichen Gut.

Dort starb Julius Fleischer am 26. Februar 1942 elend an den Folgen von Erfrierungen, die er sich in dem ungeheizten Gebäude bei Temperaturen bis minus 40 Grad zugezogen hatte. Genau einen Monat später wurde Irma Fleischer ermordet, entweder durch Erschießen oder durch Ersticken in einem Gaswagen.

Richard Fleischer, zum Zeitpunkt der Deportation 14 Jahre alt, überlebte die Torturen mehrerer Konzentrationslager. Seine Leidensgeschichte hat er 1945 in einem Brief festgehalten, der im Anschluss an diesen Text steht.

Irmas Mutter, Hedwig May wurde von ihrem späteren Wohnsitz Frankfurt/M aus im September 1942 ins KZ Ghetto Theresienstadt deportiert, und im Mai 1944 in Auschwitz ermordet. Seit Mai 2014 liegen in Bad Camberg Stolpersteine für Hedwig und Moritz May. Die Historikerin Martina Hartmann-Menz hat das Schicksal des Ehepaars sorgfältig dokumentiert:

http://www.bad-camberg.info/cms/index.php/wissenswertes/stolpersteine/steine/2384-hedwig-may

http://www.bad-camberg.info/cms/index.php/wissenswertes/stolpersteine/steine/2383-moritz-may

Ermordet wurden auch Julius‘ Brüder Bernhard und Arthur Fleischer sowie seine Cousinen Rosa Fleischer und Emilie Goldstein, die Cousine Pauline Guggenheim flüchtete in den Tod.

Viele Informationen aus dem Leben der Familie Fleischer konnten wir Sylvia Hursts Buch ‚Laugh or Cry’ entnehmen und wir danken ganz herzlich Richard Fleischer (t) für die freundliche Bereitschaft, auf unsere Fragen zu antworten. Richard war nach dem Krieg zunächst in die USA ausgewandert, wo er seine Ehefrau June kennen lernte. Beruflichen Erfolg hatte er mit seinem eigenen Betrieb als Fliesenleger, den Ruhestand verbrachte er an einem idyllischen Ort in Kanada. Wenige Wochen nach seinem Besuch in Göppingen verschied Richard Fleischer im Juli 2010 an einem Krebsleiden.

Richard Fleischer

Sylvia Hurst starb im Juli 2016, im gleichen Jahr wie ihre Göppinger Freundin Margret Duisberg, die mit uns ebenfalls ihre Erinnerungen teilte. Wir danken herzlich auch Peter Conrad, Lokalhistoriker aus Rodalben / Pfalz, dass er uns seine Korrespondenz mit Richard Fleischer zugänglich gemacht hat, sowie Martina Hartmann-Menz aus Elz, die uns mit Informationen und Fotos zu den Eltern von Irma Fleischer weiter geholfen hat.

Hauptstraße 11 in heutigem Zustand

Am 1. Mai 2010 verlegte Gunter Demnig vor dem Haus Hauptstraße 11 unter dem Beisein von Richard Fleischer, Sylvia Hurst und weiteren Familienangehörigen die Stolpersteine für Irma und Julius Fleischer. Schülerinnen des Freihof – Gymnasiums hatten die Patenschaft für diese Stolpersteine übernommen und wirkten bei der Steinsetzung mit.

(05.08.2018 kmr)

Brief von Richard Fleischer, verfasst im Jahr 1945. Dieser Brief wurde von Richard Fleischers Vetter, Erwin Fleischer, anlässlich des Besuchs der vertriebenen Juden in Göppingen am Maientag 1984 übergeben.

Die handschriftliche Fassung ist im folgenden maschinenschriftlich wiedergegeben.

Liebe Eva!

Heute am 7. Nov. war der freudigste Tag, schon seit langen Wochen habe ich mich nicht so gefreut wie heute, als Tante Bernard mir den Brief gab. Ich war sehr sehr glücklich darüber, endlich eine bestimmte Nachricht von Dir lb. Eva zu erhalten, daß es meinen Geschwistern gut geht. Es ist sehr traurig, da Dein lb. Vater und Mutter die frohe Zeiten, welche kommen werden, nicht mehr erlebten. Ich entsinne mich, bei uns im Lager wußte man auch, daß holländische und französische Juden im Frühjahr in die Nähe von Lublin kamen. Das Lager heißt Izbica, die meisten Transporte, welche ankamen, wurden schon im Zuge vergast. Über Onkel Bernhard, welcher bis 1943 in Stuttgart wohnte, habe ich erfahren, daß er mit noch 8 Juden ins Lager “Mauthausen” geschickt wurde und nach acht Tagen kam die Nachricht, daß er und noch 5 andere von dem Transport, auf der “Flucht erschossen” wurden. Seine Asche kam zurück und wurde auf dem Pragfriedhof in Stgt. beigesetzt. Aber im Jahre 1944 wurde gerade diese Stelle von Bomben getroffen, daß ich jetzt nicht mehr die Stelle finden kann. Dieses alles hat mir eine jüdische Frau, weiche mit einem Arier verheiratet ist, erzählt und ich glaube bestimmt, daß es wahr ist. Nun will ich Dir von meiner Wenigkeit erzählen.

Am 26. Nov. 1941 wurden wir verhaftet. Wir bekamen schon 4 Tage vorher den Befehl von Stgt. einen Koffer als Handgepäck mit Lebensmittel und dem nötigsten zu packen. Als Reisegepäck durften wir 50 kg einpacken , welche weggeschickt wurden und dieselbe sahen wir nie mehr wieder. In der Nacht zum 26./27. Nov. mußten wir in der Schillerschule im Turnsaal schlafen wie die Hunde ohne Betten und Decken. An dem gleichen Tag wurden wir von Gestapos untersucht und alles Geld sowie alles Wertvolle abgenommen, (erinnerst Du Dich an Frank, Sauter und Östreicher), dieses waren die feinen Herren, welche uns untersuchten. Am 27. morgens wurden wir wie Verbrecher auf den Bahnhof getrieben, es war noch stockdunkel unter dem Gejohle der Gassenjungen und “unser” Oberbürgermeisters Dr. Pack war auch dabei. Zum Abschied rief er, “fahrt in die Hölle Saupack”. Wir kamen nach Stgt. und dort verblieben wir bis 1 . Dez. Nachts um 4 Uhr wurden wir am Nordbahnhof einwagoniert und fuhren 3 Tage und 4 Nachte in ungeheizten Wagen nach Riga. Unterwegs bekamen wi r nur 2 mal Wasser. Halb verdurstet kamen wir an. Beim Ausladen wurden wir wie das Vieh mit Stockschlägen und Geschrei ausgeladen. Auf dem Glatteis blieben viele Leute zurück und wurden erschossen. In 10 Minuten hatten wir 28 Tote. Wir hatten gleich den richtigen Eindruck. Vor Durst aßen wir Eis und Schnee. Wir wurden in ein paar alte Scheunen und Schafställe getrieben, kurz und gut wir blieben dort. Im Eis und Schnee blieben wir dort bis Ende März. In unserer Baracke starben jeden Tag 18-25 Männer, welche über Nacht erfroren. Es starben noch viele an Typhus, Ruhr und Erfrierungen. Ende März wurde ein Transport über 2 000 Frauen, Kinder und alten Männern zusammengestellt und kam nach Dünamünde, erst später erfuhren wir, daß alle vergast wurden. So wurden wir von 6000 Menschen, welche wir im Januar waren, durch Tod und Transporte auf 450 Menschen reduziert. In diesem K.Z. blieben wir bis März 43. Darauf blieben wir 1 Monat im Rigaer Ghetto, darauf kamen wir in das große Rigaer K.Z. Schon im Feb. 42 starb mein guter lb. Papa an Blutvergiftung, er hatte sich in 10 Min. Hände, Füße, Ohren und Nase abgefroren, da keinerlei ärztliche Hilfe da war, trat der Brand ein und nach 2 Tagen starb er unerwartet. Es war am 26. Februar. Einen Monat später am 26. März kam Mutter weg, wir selbst mußten die Leute einladen in Autos, wo die Leute vergast wurden. Es war ein richtiges Hundeleben: In Lumpen ungewaschen, hungrig, verlaust, aussätzig, zogen wir jeden Tag für Tag zur Arbeit. Richtige Fron und Massenarbeit. Prügelei war tägliches Schauspiel , für die geringste Sache bekamen wir 25-50 auf den blanken Hintern. Viele starben daran.

In diesen paar Jahren kamen wir in ganz Lettland herum. Juni 44 wurden wir ans Kurland abtransportiert. Wir mußten 260 km zu Fuß in Sonnenhitze marschieren ohne Wasser, zuletzt floh ich mit ein paar Kameraden in den ‘Urwald’. Dort wurden wir von Suchaktionen zerstreut und viele Kameraden erschossen. So trieb ich Wochen im Walde herum, bis ich von Lettenpolizei aufgefasst wurde. Ich kam 1 Woche ins Windauer Gefängnis und dann 7 Wochen in Liban in den S.S. Bunker. Wir waren schon halb verhungert und verfault, als der letzte Transport von Juden aus Lettland auf das Schiff im Libaner Hafen gebracht wurde. Im Bunker waren wir 22 Häftlinge, wir mußten uns immer jede Nacht für Nacht im Schlafen abwechseln, es konnten nur immer mit Mühe 11 Leute schlafen. Es war furchtbar. Verpflegung war täglich 285 gr. Brot, Mittags 1/2 lt. Wassersuppe und abends 5 Kartoffeln, wovon 2 faul waren. 12. Okt. 44 kamen wir in Danzig an, in ein neues K.Z. , es hieß Stutthof bei Danzig. Neue Plage und Schinderei. Dort blieben wir 1 Monat. Es war das schrecklichste, wir wurden morgens 5 Uhr rausgetrieben und mußten ob Wind, Wetter, Regen oder Schnee im Freien stehen bis abends 8 Uhr. Jeden morgen und abends bekamen wir 100 gr. Brot und jeden Morgen 10 Uhr 1/2 lt. Suppe. Darauf kamen wir nach Danzig in die U.Boot-Werft Schickau. Es war zum Lachen wir 1 000 Juden, 2 000 Italiener und ebenso viele Polen und Russen mit wenigen Deutschen mußten U.Boote bauen, wovon wir keine Ahnung hatten. Hier blieben wir bis Ende Januar, die Russen kamen immer näher, wir wurden nach dem K.z Lager Lauenburg getrieben. In Schnee und Eis ohne Essen als täglich 3 rohe Kartoffeln und Nachts in nassen, kalten Kirchen schlafend, wurden wir weiter getrieben. Wir konnten nicht mehr, links und rechts im Straßengraben blieben die Menschen liegen, wir die schon 3 Jahre lang nur immer wieder uns retteten, weil wir die stärksten waren. Immer aufgepeitscht von Stockschlägen der SS, links und rechts knallte es, die wirklich nicht mehr konnten, bekamen den Gnadenschuß ins Genick. Es konnte uns , die schon so viel Elend und Blut kalten Mutes gesehen hatten, die Tranen in die Augen treiben. Auf Glatteis, mehr schlitternd ais gehend, in Holzschuhen das schwere Gepäck der SS. schleppend, schlichen wir weiter. Von 4 600 Häftlingen kamen wir am 3. Abend in einem früheren R.A.D. Lager an, wo schon K.Z. Leute waren. Unsere Zahl war auf 480 zusammengeschmolzen. Morgens wollten wir weiter, aber wir konnten nicht mehr, weil Typhus im Lager war. Wir blieben dort 4 Wochen ohne Brot, nur 1/2 lt. Wassersuppe täglich Schanzarbeiten. Bis auf 120 Mann waren wir gesunken, als am 10. März uns die Russen befreiten. Interessehalber wogen uns die Russen, ich wog noch 32 kg, das höchste Gewicht war 45 kg bei den stärksten Männern. Darauf kamen wir 8 Wochen in ein Sanatorium, wo wir uns langsam erholten, bei der ausgezeichneten Pflege und Essen. Täglich 5 mal bekamen wir Essen, nur Weißbrot, Butter, Zucker, Kaffee, Kakao in genügender Menge, und trotzdem starben die Kameraden weg bis auf 30 Mann, welche gesund entlassen wurden. Ich selbst lag 4 Wochen fast ohne Besinnung, fast nichts essend und immer schlafend im Bett, an das wir uns wieder gewöhnen mußten. Darauf meldete ich mich bei der Russischen Miliz. Ich wurde 3 Tage auf Maschinenpistole ausgebildet und kämpfte gegen SS. Truppen und Banden. Die haben unsere Rache gespürt , es gab kein Pardon und keine Gefangene. Ich hatte mir geschworen, für jede Narbe, welche ich auf dem Rücken habe, 10 SS. Leute. Und ich habe Wort geha1ten. Bei Kriegsende kam ich in verschiedene Städte wie:

Berlin, Leipzig, Bitterfeld, Halle, Dresden, Magdeburg und ins Vogtland. Zuletzt war ich auf einem großen Rittergut bei Magdeburg als Aufseher und Dolmetscher, weil ich ganz schön russisch sprechen kann. 1. Okt. d.J. fuhr ich unter vielen Segenswünschen von meiner Truppe ab und kam am 4. Okt. in Göppingen an. Bei einer Frau Munz geb. Wassermann, fand ich ein Zimmer, wo ich blieb. Am 10. oder 11. Okt. traf ich Mrs. Bernard, welche ich gar nicht kannte und sie verschaffte mir eine sehr gute Stelle bei der US-Militärregierung in Esslingen, wo sie auch selbst wohnt. Ich bin sehr zufrieden mit der Stelle und Tante Bernard ist ganz entzückend und hält mich wie ihren eigenen Sohn. Ich will jetzt schließen, es ist schon 11 Uhr, ich muß ins Bett. Ich schicke Dir ein Bild von mir mit. Schicke diese Blätter bitte an Tante Paula weiter, welche sie an Suse, Doris und Arnold weiterschicken soll. Schreibe ihnen bitte, sie sollen mir Bilder von sich und meinen lb. Eltern sobald als möglich schicken, alle gingen im K.Z. verloren. Das nächste Mal will ich Dir von meiner jetzigen Tätigkeit schreiben, es grüßt und küsstt Dich innigst

Dein Vetter Richard.

Richard Fleischer als junger Mann