Frühlingstraße 29

Eigentlich möchte man sich freuen an diesem Foto mit dem freundlichen Opa, dem kleinen Mädchen, das mit dem Baby, seinem Stiefbruder, auf dem Schoß in die Kamera lächelt. Aber es ist das Jahr 1939, die Familie weiß, dass sie in Deutschland keine Zukunft hat. Der Familienvater, Ludwig Oberdorfer, hatte bereits eine Haft-Zeit im Konzentrationslager Dachau hinter sich, die Fabrikeinrichtung des Familienunternehmens musste an einen Göppinger NSDAP-Ortsgruppenleiter verkauft werden, und viele Freunde und Bekannte waren ins Ausland geflüchtet. Auch die Familie Oberdorfer plante die Auswanderung in die USA. Die wichtigste Habe befand sich bereits in einem Container, acht Koffern und sechs Kisten in Rotterdam oder Genua, 5676 RM mussten für den Transfer bezahlt werden. Aber noch hatte man die Hoffnung, all den Schikanen und Demütigungen Nazideutschlands entrinnen zu können.

Emil Hilb mit Lise Rödelsheimer und Franz-Sepp Oberdorfer (Baby)

Wir wissen nicht, wer das Foto gemacht hat, der Vater, die Mutter, Verwandte oder Freunde. Gefunden hat es eine Mitschülerin des Mädchens auf dem Foto, Beate Dörzbacher, die heute Betty Greenberg heißt, in den USA lebt und uns auch die weiteren Fotos der Rödelsheimer-Mädchen schickte. Ansonsten ließen sich keine Fotos oder andere persönliche Dokumente der Familie Hilb – Rödelsheimer – Oberdorfer finden. Die Personen auf diesem Foto sind der Großvater Emil Hilb, die Enkelkinder Lise Rödelsheimer und ihr kleiner Stiefbruder Franz-Sepp Oberdorfer. Die Gesichter der Eltern (Elsbeth und Ludwig Oberdorfer) kennen wir nicht.

Emil Hilb ist der erste und einzige der weitverzweigten Familie Hilb, der in Göppingen ansässig wurde. Sohn von Joseph Hilb und Fanny geborene Kiefe wurde er als siebtes Kind von insgesamt 13 Kindern in Baisingen am 28.11.1864 geboren. Beide Eltern stammten aus Haigerloch, der Vater war Rosshändler. Auf den schönen jüdischen Friedhöfen von Baisingen und Haigerloch findet man viele Gräber der Familien Hilb und Kiefe.
Ein Bruder von Emil, Siegfried Hilb geb. 28.1.1871 in Baisingen, gestorben 4.4.1932 in Konstanz war Vater von Ernst Hilb, geb. 20.7.1904, der über viele Jahre die Restitutionsverhandlungen bezüglich des Erbes der Göppinger Familie Hilb führte und Bevollmächtigter der Erbengemeinschaft war. Der Schriftwechsel dieser Verhandlungen befindet sich im Landesarchiv in Ludwigsburg und war die erste Quelle, für die hier zusammen getragenen Details zur Biografie der Familie.

Über die Kindheit von Emil Hilb wissen wir nichts. Wir stellen uns einen strebsamen Jungen vor, der den Beruf des Kaufmanns erlernte, und der zwischen 1890 und 1895 in Heidelberg als Kaufmann gemeldet war, einmal wird er als Teilhaber der Firma Baer & Hilb, Karlstr. 2 genannt. Am 10.11.1891 heiratete er in Göppingen Selma Löwenstein geb. am 2.9.1869 in Göppingen. Das Ehepaar lebte danach vermutlich weiterhin in Heidelberg, jedenfalls wird berichtet, dass Emil Hilb nach seiner Übersiedlung von Heidelberg nach Göppingen 1894, gerade mal 30 Jahre alt, dort die Firma Emil Hilb, Gewebe für Matratzen, Betten- und Polsterwarenfabrikation, gegründete hatte. An andrer Stelle heißt es, dass 1912, nach dem Tode von Max Werthauer, der Alleininhaber der Firma Jakobsohn und Werthauer war, diese an Emil Hilb überging und 1925 gelöscht wurde.

Das erste Kind des Ehepaars Hilb wurde 1899 in Göppingen geboren, ein Mädchen, Marie, das nur einen Tag alt wurde. Am 2.9 1900 (am Geburtstag der Mutter) kam dann Elsbeth Johanna Hilb zur Welt.
Über die Kindheit von Elsbeth ist wiederum nichts bekannt. Obwohl wahrscheinlich ohne Berufsausbildung, vermuten wir, dass eine aktive und engagierte Frau aus ihr geworden ist, die in späteren Jahren tätige Teilhaberin im Geschäft ihres Vaters wurde. In einem Bericht des ‚Israelitischen Jugendvereins’ von 1923 wird sie als Schriftführerin genannt. Dieser Verein, der nach einer Gemeindeversammlung am 20.März 1920 gegründet wurde, befand sich 1923 auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung, mit 53 aktiven und 44 unterstützenden Mitgliedern.

Am 15.5.1922 heiratete Elsbeth den zehn Jahre älteren Kaufmann Heinrich Rödelsheimer aus Baisingen. Auch von ihm wissen wir so gut wie nichts. Es existiert ein Foto von ihm und seinen 6 Brüdern, vermutlich aus dem 1. Weltkrieg, alle in Uniform. Aber welcher von ihnen ist Heinrich?

Am 1.1.1924 stieg Heinrich als Teilhaber in der Firma von Emil Hilb ein, diese wurde in eine oHG umgewandelt.

Die Brüder Rödelsheimer

In das Jahr 1924 fällt auch die Geburt des ersten Kindes von Elsbeth und Heinrich, nämlich Lotte Sofie, die nur 3 Jahre alt wurde. Am 31.8. 1928 kam die Tochter Lise zur Welt, am 18.8.1930 dann Doris.

Doch schon 1932 verstarb Heinrich Rödelsheimer in einem katholischen Krankenhaus (vermutlich im Marienhospital) in Stuttgart. Aus der Zeit danach gibt es Fotos seiner beiden kleinen Töchter, einmal mit dem Opa, einmal mit Pferd und Pferdeknecht. Man möchte auf geordnete Verhältnisse und ein liebevolles Elternhaus schließen.

Lise und Doris mit Großvater Emil Hilb
Lise und Doris auf der Pferdekoppel

Von Doris und Lises Kinder – und Schülerdasein sind wenige Erinnerungen überliefert. Sicher ist, dass sie die 1936 errichtete Grundschule für jüdische Kinder besuchten, nachdem diese von der allgemeinen Volksschule ausgeschlossen worden waren. Unterrichtet wurden dort Kinder verschiedener Jahrgänge von einem jungen Lehrer namens Fritz Max Erlanger daneben auch vom Gemeinde-Rabbiner Luitpold Wallach. Vermutlich haben die Schwestern ähnliche Erfahrungen gemacht wie ihr in USA lebender Mitschüler Herbert Steiner, der seine Erlebnisse auf dem Schulweg uns so beschrieb: “Der direkte Weg von der Bahnhofstraße war nicht sehr lang, aber die Umwege die ich machen musste, um die geschmissene Steine von den andern Schulbuben zu vermeiden, machte es ein ernstes Unternehmen.“

Zwischenzeitlich, am 14.9.1936 starb Emil Hilbs Gattin Selma, geb. Löwenstein im Alter von 67 Jahren. 45 Jahre war sie mit ihm verheiratet gewesen. Leider haben wir bisher keine Spuren ihres Lebens gefunden.

Fünf Jahre nach dem Tod von Heinrich Rödelsheimer heiratete Elsbeth am 19.7.1937 ihren zweiten Mann, den Kaufmann Ludwig Oberdorfer.
Ludwig wurde am 15.3.1893 in Regensburg geboren. Seine Eltern waren Samuel Oberdorfer und Ricka geb. Rosenblatt. Es ist bekannt, dass er im ersten Weltkrieg Offizier war. Daraus schließt Eugen Zeller, der spätere Käufer der Fabrikeinrichtung der Firma Hilb, dass Ludwig eine höhere Schulbildung genossen haben muss, da ihm sonst die Offizierslaufbahn nicht möglich gewesen wäre. Ludwigs bürgerlicher Beruf war Kaufmann. In den Nachkriegsjahren war er in verschiedenen Städten gemeldet, in München, Darmstadt und Düsseldorf. Am 27.8.1937 wurde er Teilhaber der Firma seines Schwiegervaters, der ‚Emil Hilb oHG’. Ein Jahr später, am 1.9.1938 schied Emil Hilb aus der Firma aus. Zuvor, am 23. April 1938 gab es noch einmal ein freudiges Ereignis in der Familie Oberdorfer, die Geburt ihres Sohnes Franz-Sepp.

Als am 9.November 1938 das Signal zu Gewalttätigkeiten gegen Juden und jüdische Einrichtungen gegeben wurde und auch in Göppingen die Synagoge von SA-Leuten in Brand gesteckt wurde, hatte das unmittelbare Folgen für Ludwig Oberdorfer. In dieser Nacht wurden etwa 40 jüdische Männer zwischen 17 und 72 Jahren aus ihren Wohnungen geholt, in Gefängnisse gesperrt und am übernächsten Tag wurden 27 von ihnen ins KZ Dachau abtransportiert. Die Adressenlisten der Betroffenen waren schon vorbereitet gewesen. Die unsagbaren Zustände im Lager und die Behandlung der Häftlinge wurde vom Überlebenden Justin Heumann 1966 in einem Brief aus seiner neuen Heimat Caracas beschrieben. Dieser berichtet unter anderem, dass auf die Häftlinge Druck ausgeübt wurde, ihren Besitz zu verkaufen, um sich damit ihren KZ-Aufenthalt zu verkürzen. Ludwig Oberdorfer befand sich vom 11.11. bis zum 26.11.1938 im KZ Dachau. Am 27.12.1938 musste er die Fabrikeinrichtung an den NSDAP – Ortsgruppenleiter Hermann Finkbeiner verkaufen, der sie am 18.2.1939 an Eugen Zeller weiterverkaufte.

Die Übergriffe gegen die Juden lösten in Göppingen, wie auch anderorts, keinen Proteststurm aus, fanden aber auch nicht nur Zustimmung in der übrigen Bevölkerung Auf vereinzelte Missfallensäußerungen reagierte der schon erwähnte Ortsgruppenleiter Finkbeiner bei einer Mitgliederversammlung der NSDAP vom 28.12.1938 mit der Forderung „die unverbesserlichen Meckerer aus der Volksgemeinschaft auszumerzen.“ Er appellierte: „Die Lösung der Judenfrage ist für jeden anständigen Menschen ein Anlass zur Freude. Wer Mitleid mit den Juden empfindet, kann kein Deutscher sein. Wenn heute den Juden etwas weggenommen wird, dann ist das ja nur ein Bruchteil von dem, was sie seither zusammengeschnarrt und ergaunert haben. Der Vorwurf der Unchristlichkeit ist da nicht berechtigt.“( siehe Ruess, „Was in Paris geschah, das habt ihr zu büßen!“ Die Pogromnacht in Göppingen, 1998, S. 36)

In den folgenden Monaten wird sich die Familie Hilb-Rödelsheimer-Oberdorfer auf die Auswanderung in die USA vorbereitet haben. Ziel war New York, wo ein Cousin von Elsbeth Oberdorfer die Bürgschaft für die Familie übernommen hatte. Siegfried Mayer, Sohn von David Mayer und Ida geb. Hilb betrieb ein Hemden- und Krawattengeschäft in New York City. Man brachte das Umzugsgut auf den Weg, das dann zuerst in Rotterdam, später in Genua gelagert wurde. Die Transportkosten von 5676 RM überstiegen das Jahresgehalt von Ludwig Oberdorfer bei weitem, er verdiente 400 RM im Monat. Die Familie führte einen zermürbenden und kostspieligen Kampf um Aus- und Einreisepapiere geführt, verschärft durch immer neue Schikanen und Demütigungen. Im Briefwechsel, den Ludwig Oberdorfer mit dem in der Schweiz lebenden Cousin seiner Frau, Ernst Hilb führte, wird das Elend der Familie mehr als deutlich. (Siehe Artikel im Anhang).

Am 10.5.1939 musste die Familie Oberdorfer / Rödelsheimer aus ihrer Wohnung in der Schützenstraße 8 ausziehen, die zur Fabrik gehört hatte. Sie fand Unterschlupf in der Frühlingstr. 29, einem Haus, das der jüdischen Familie Veit gehörte. Auch Emil Hilb, der bisher in der Poststr. 6 gewohnt hatte, zog später in diesem Haus ein. Die Not wurde immer größer und auch die Familie Oberdorfer / Rödelsheimer war betroffen, wie aus einem Brief Hedwig Frankfurters hervor geht. Sie schreibt am 3.9.1941 an Mathilde Gutmann in Zürich:

„Liebe Thilde, es ist rührend lieb von Dir, dass Du unsrer Bedürftigen gedenkst. Es herrscht viel Not und im Gegensatz gibt’s wenig Hilfe…..und was ich nicht wußte und mich ganz erschüttert – Els Oberdorfer. Zu allem Unglück auch noch Armut.“

Dazu kam, dass man auch für Verwandte verzweifelt nach Unterkünften suchte und sich an Freunde wandte, die aber in derselben Lage waren und nicht helfen konnten. Dadurch wurde auch die freundschaftliche Beziehungen zwischen Hedwig Frankfurter und Elsbeth Oberdorfer belastet.

Der nächste Schlag war dann das vom Reichssicherheitshauptamt unter Heinrich Himmler verhängte Ausreiseverbot für Juden vom 23. Oktober 1941. Damit waren alle Hoffnungen zunichte, dem Naziterror zu entrinnen.
Bereits in den Monaten zuvor kam es zu einer Wende in der ‚Judenpolitik‘: Ziel war nun nicht mehr die Vertreibung, sondern die Vernichtung der Juden. Der erste Transport in den Tod, der für die Betroffenen als Aussiedlung getarnt war, betraf gleich die Familie Oberdorfer / Rödelsheimer mit ihren 3 Kindern.

Am 20.11.1941 schreibt dazu Hedwig Frankfurter an ihren Sohn Richard Frankfurter:

„Wir leben überhaupt sehr bedrückt. Die Gemeinde wird sich innerhalb einer Woche um ca. die Hälfte verringern & ist in begreiflicher Aufregung. Die ganze Familie Oberdorfer ist auch dabei. Nun hoffe ich, dass wir uns wenigstens zum Abschied für immer die Hand drücken. An mir fehlts nicht.“

Und am 26.11.1941:

„Wir leben in einer sehr traurigen Zeit. Morgen werden uns gute Freunde & Bekannte verlassen, z.B. Oberdorfers, Banemanns, Jul. Fleischers, unser früheres Mädchen Rosel & Mutter etc, Auf Wunsch von Els, die selbst keine Zeit hatte, habe ich ihr gestern Lebewohl gesagt; angesichts des schweren Schicksals habe ich ihr verziehen, was sie an uns gefehlt hat.“

So musste sich die Familie Oberdorfer am 27.11.1941 in der Göppinger Schillerschule einfinden, wo sie einer Leibesvisitation unterzogen wurde. Nachdem sie die Nacht mit 34 anderen Personen in der Turnhalle verbracht hatte, wurde sie tags darauf nach Stuttgart auf den Killesberg gebracht, wo ein Durchgangslager für 1000 Personen eingerichtet worden war, die für einen Transport ins „Reichskommissariat Ostland“ d.h. nach Riga bestimmt waren. Von den Göppinger Juden überlebte als einziger der damals 14-jährige Richard Fleischer diese Deportation. In einem späteren Brief an seinen Vetter Erwin Fleischer schreibt er:

„Nachts um 4 Uhr wurden wir am Nordbahnhof einwaggoniert und fuhren drei Tage und vier Nächte in ungeheizten Wagen nach Riga. Unterwegs bekamen wir nur zweimal Wasser. Halb verdurstet kamen wir an. Beim Ausladen wurden wir wie das Vieh mit Stockschlägen und Geschrei ausgeladen. Auf dem Glatteis blieben viele Leute zurück und wurden erschossen. In zehn Minuten hatten wir 28 Tote. Wir hatten gleich den richtigen Eindruck. Vor Durst aßen wir Eis und Schnee. Wir wurden in ein paar alte Scheunen und Schafställe getrieben. In unsrer Baracke starben jeden Tag 18 bis 25 Männer, welche über Nacht erfroren. Es starben noch viele an Typhus, Ruhr und Erfrierungen.“ (Vollständiger Text im Anschluss an die Stolperstein – Biografie Irma und Julius Fleischer).

In einer Restitutionsakte zum Vergleich „Elsbeth Oberdorfer – Erben“ vom 5.10.1967 schreibt Dr. Hartlieb:

„Nach den Erfahrungen, die über das Schicksal der nach Riga deportierten Juden, die dort verschollen geblieben sind, gesammelt worden sind, spricht die größte Wahrscheinlichkeit dafür, dass sämtliche Familienmitglieder alsbald der Vernichtung anheimgefallen sind. Es handelt sich hier um eine Familie mit drei Kindern, deren ältestes 13 Jahre, deren jüngstes 3 ½ Jahre alt waren. In solchen Fällen muss mit aller Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass die Eltern, die sich sicher nicht von ihren Kindern trennen wollten, mit diesen bei der Großaktion ‚Dünamünder Konservenfabrik‘ ums Leben gekommen sind und den 27.3.1942 nicht überlebt haben.“

Was für die Zurückgebliebenen diese erste Deportation bedeutete, lässt sich kaum ermessen. In den Briefen von Hedwig Frankfurter ist die tiefe Beunruhigung spürbar. Mehrfach erwähnt sie den zurückgebliebenen Vater und Großvater der Familie Emil Hilb.
Am 3.12.1941 schreibt sie an ihren Sohn Richard: „Herr Hilb kommt öfters zu uns, er ist ganz verstört.“  
Am 28.12. 1941 an Mathilde Gutmann:
Herr Hilb hofft, bald ins Heim zu kommen, nachdem er völlig vereinsamt ist.“
Am 29.1.1942 an Mathilde Gutmann:
Herr Hilb ist ins Altersheim nach Laupheim gekommen, wodurch ihm seine traurige Vereinsamung etwas gemildert wird.“

Der Umzug Emil Hilbs ins jüdische Altersheim war allerdings keine freiwillige Entscheidung, sondern eine Zwangsmaßnahme und hatte keinerlei humanitäre Absichten, sondern diente nur als Zwischenstation vor der Vernichtung.

Altersheim Laupheim

1939 baute die ‚Reichsvereinigung der Juden in Deutschland’ auf Anweisung der NS-Behörden das ehemalige Rabbinatsgebäude am Laupheimer Synagogenweg zu einem Altersheim um. Dort wurden nicht nur ältere Laupheimer, sondern auch auswärtige Juden unter äußerst beengten Verhältnissen untergebracht.

Am 19.8.1942 erfolgte eine Deportation von 43 alten Menschen, darunter Emil Hilb, von Laupheim zum Sammellager auf dem Stuttgarter Killesberg, am 22.8. weiter nach Theresienstadt. Bei der Ankunft dort war die Zahl der Inhaftierten auf 52 554 gestiegen. Am 29.9. ging der Transport nach Treblinka ins Vernichtungslager und unmittelbar darauf kam es zur Ermordung von Emil Hilb durch die Nazis.

Weitere Angehörige der Familien Hilb / Löwenstein / Oberdorfer / Rödelsheimer wurden in deutschen Lagern ermordet:

Berta Lauchheimer, geb. Hilb, eine in München lebende Schwester von Emil Hilb, starb am 10.2.1943 in Theresienstadt.

Berta Lauchheimer
(Quelle: Das Biografische Gedenkbuch der Münchner Juden 1933-1945)

Hedwig Hirsch, geb. Löwenstein, Emil Hilbs Schwägerin lebte in München Sie starb in Theresienstadt am 22.08.1942, ihr Mann Heinrich starb ebenfalls dort am 19.01.1943.

Wilhelm Löwenstein, Emil Hilbs Schwager, der in Stuttgart lebte, wurde am 26.03.1943 in Theresienstadt ermordet.

Ricka Oberdorfer, die Mutter von Ludwig Oberdorfer, die in Regensburg lebte, starb am 1.2.1944 in Theresienstadt.

Drei Brüder von Heinrich Rödelsheimer, dem ersten Mann von Elsbeth Oberdorfer, geb. Hilb und eine Schwägerin wurden ebenfalls ermordet:

Max Rödelsheimer lebte in Pforzheim. Er wurde am 10.8.1942 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Max Rödelsheimer, ein Onkel von Doris und Liese Rödelsheimer (Quelle: Stadtarchiv Pforzheim)

In Neunkirchen wohnte Wilhelm Rödelsheimer. Er wurde am 12.7.1942 in Auschwitz ermordet.

Siegfried Rödelsheimer, ebenfalls in Pforzheim lebend, wurde am 18.12.1938 in Buchenwald ermordet.

Lina Rödelsheimer geb. Fleischmann, die in Neustadt an der Weinstraße wohnende Witwe von Hugo Rödelsheimer starb am 6.12.1940 im Lager Gurs / Frankreich.

Frühlingstr. 29

Am 19.September 2012 setzte Gunter Demnig vor dem Haus Frühlingstraße 29 die Stolpersteine für Emil Hilb, Elsbeth, Franz-Sepp und Ludwig Oberdorfer sowie für Lise und Doris Rödelsheimer.

Wir danken Frau Betty Greenberg ganz herzlich für die Fotos aus der Familie Hilb / Rödelsheimer / Oberdorfer sowie Herrn Tobias Engelsing für die Genehmigung, Teile aus seinem Buch ‚Das Jüdische Konstanz‘ wiedergeben zu dürfen, die im Anschluss zu lesen sind.

(14.01.2017  fw)

Auszug aus: Tobias Engelsing, Das Jüdische Konstanz
Darin: S. 155ff: Aus „Überfremdungsgründen“ abgelehnt: Das lange Ringen der Familie Hilb um eine neue Heimat.

Ein im Familienarchiv gehütetes Bündel Briefe offenbart eine besondere Leistung des hartnäckig um seine Zukunft kämpfenden jungen Mannes. Gerade als er selbst in den größten Schwierigkeiten steckte, und seine Heimatstadt verlassen und vor jeder Verlängerung seiner „Duldung“ in der Schweiz bangen musste, kümmerte sich Ernst Hilb rührend um die Belange von noch weitaus gefährdeteren Familienangehörigen: In Göppingen lebten sein Onkel Emil Hilb sowie dessen Tochter Elsbeth und deren zweiter Mann Ludwig Oberdorfer mit den Töchtern Lise und Doris und dem 1983 geborenen Sohn Franzl. Ludwig Oberdorfer war Teilhaber und schließlich Inhaber der Firma seines Schwiegervaters gewesen, eines Unternehmens, da Füllungen für Matratzen, Polstermöbel und Betten herstellte. Nach dem Pogrom im November 1938 war Ludwig Oberdorfer mit anderen Göppinger Juden im KZ Dachau inhaftiert gewesen. Danach wurde er gezwungen, sein Unternehmen an den örtlichen NSDAP – Ortsgruppenleiter zu verschleudern. Seit dieser Zeit intensivierte sich der Briefverkehr zwischen den Göppinger Hilb-Oberdorfers und den Kreuzlinger Hilbs.
Während er selbst nach Einwanderungsmöglichkeiten suchte, sich mit Konsulaten, Reisebüros, Speditionen und oft zwielichteigen Auswanderungsagenten herumschlug, nutzte Ernst hilb die Möglichkeiten der Schweiz, um auch für die Göppinger Verwandten einen Weg zur Ausreise in ein sicheres Drittland zu finden. Über seine Adresse liefen Erkundigungen nach Chile, Bolivien, Brasilien, Kuba, Venezuela, Nicaragua, Südafrika, Argentinien, Haiti, Peru und über die Dominikanische Republik. Da Juden im Deutschen Reich über keinen Telefonanschluss mehr verfügen durften und Ferngespräche in die Schweiz für die finanziell bedrängten Verwandten zu teuer geworden waren, unterhielt Ernst einen intensiven Briefverkehr mit seinem angeheirateten Vetter Ludwig.

Der gebürtige Regensburger schlug anfangs noch einen heiteren Tonfall an, gab sich optimistisch und zuversichtlich, dass irgendein Land der Welt ihn und seine Familie schließlich aufnehmen werde:
„Und wenn es einmal so weit ist, dass müssen wir uns auf den Hosenboden setzen und alles probieren und wenn wir auf einem Frachtdampfer fahren“, schrieb er noch im Sommer 1939. doch dann wurde er krank und musste operiert werden; Ernst hilb mahnte eine Entscheidung an, San Domingo, Chile, Kuba seien noch offen, doch der etwas zögerliche Ludwig dachte gerade über Haiti nach.
Der Krieg begann, und viele Länder schlossen die Grenzen. Ludwigs Briefe klangen bald mutloser, schreckliche Ängste beherrschten seine Familie. Anfang 1940 erfuhr er, für Haiti müssten nun 5000 US-Dollar als Sicherungsleistung in den USA deponiert werden. Ludwig Oberdorfers Monatsgehalt im eigenen Unternehmen hatte zuletzt 400 Reichsmark betragen. Aufs Neue durchziehen Oberdorfers Briefe Erwägungen, wer außer seinem amerikanischen Vetter, der als bürge fungierte, und dem treuen Ernst Hilb noch helfen könnte, Einreisebewilligungen zu erhalten, die nötigen Depotgelder aufzubringen und irgendwie ein rettendes Ufer zu erreichen. Ein Vetter in New York, Inhaber eines Krawattengeschäfts, hatte bereits eine höhere Kaution hinterlegt, die nun durch dubiose Agenten und politische Einwirkungen verloren gegangen zu ein schien.

Im März 1940 schreibt Ludwig Oberdorfer über die schöne, ferne Idee eines Wiedersehens mit Ernst hilb die bitteren Zeilen:
„Da aber bis auf unsere USA-Nummer alles auf dem Nullpunkt steht, sind die Aussichten dazu mehr als schlecht. Lasst bald wieder von Euch hören; wir warten mit Schmerzen auf jede Post und freuen uns damit und hoffen und hoffen und hoffen.“
Zu den ungewissen Aussichten in der Auswanderungsfrage gesellten sich materielle sorgen, denn Ludwig Oberdorfer hatte kein Einkommen mehr. Immer häufiger kündigt Ernst in seinen Briefen an, man werde wieder einmall Lebensmittel schicken: Schweizer Schokolade, Käse und Ovonmaltine bereiteten den Verwandten kleine Freuden. Im Dezember 1940 berichtete Ernst Hilb in vorsichtigen Andeutungen über die eben erfolgte Deportation der badischen Juden in das Lager Gurs: „Dass viele unserer früheren Bekannten nach Südfrankreich gekommen sind, werdet Ihr gehört haben. Solche können dort sehr gut warme Kleidung, Überschuhe, Kissen etc. gebrauchen.“
Ob die selbst bedrängten Göppinger noch etwas zur Linderung der Not in Gurs beitragen konnten? Die Briefe sagen nichts darüber aus.
Im Dezember 1940 sinken die Hoffnungen auf die USA wieder einmal: „Wir sind außerordentlich bedrückt“, schreibt Ludwig an Vetter Ernst. Einige Monate später, der Überfall auf die Sowjetunion hatte gerade begonnen, schloss das US-amerikanische Konsulat in Stuttgart seine Pforten. Das war besonders bitter, hatten die Oberdorferrs doch in letzter Minute noch eine Zusage für ein Visum erhalten, es hatte nur noch die Schiffspassage gefehlt. „Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich tun soll, was könnt Ihr mir raten?“ fragt Ludwig im Juni 1941 die Verwandten in Kreuzlingen. Noch einmal keimt Hoffnung auf, nachdem sich Ernst Hilb der Sache erneut angenommen hatte. Doch nun mussten 2000 US-Dollar, mehr als zuvor, für die Schiffsfahrkarten aufgebracht werden. Die Hälfte hatte ein weiterer Verwandter aus den USA gestiftet. „Wie gerne täten wir uns mit 3. Klasse-Schlafraum zufrieden geben“, beteuerte Ludwig gegenüber Vetter Ernst, doch auch die Kreuzlinger konnten die fehlende Summe nicht aufbringen. Als die Sache auch im September noch nicht voran gekommen war, schreibt Ludwig: „Wie Ihr Euch leicht vorstellen könnt, sind wir seelisch vollständig erledigt und auch an die Verwirklichung der Auswanderung kann ich nicht mehr glauben.“

Sein letzter umfangreicher handschriftlicher Brief datiert vom 17. Oktober 1941. Er ist das erschütternde Zeugnis völliger Hoffnungslosigkeit und Verlorenheit. Ludwig Oberdorfer resümiert bitter:
„Unserer Auswanderung scheitert an unserer eigenen großen Hilflosigkeit.“
Kuba, Chile, letzte Rettungsanker, die Ernst Hilb vorgeschlagen hatte, waren wegen des fehlenden Geldes unerreichbar geworden. Ludwigs letzte Zeilen an die so hilfreich gewesenen Verwandten lauten: „So hoffen und wünschen wir immer, dass uns bald wieder Frieden wäre und der Herrgott auch mit uns weder ein Einsehen hätte.“
Sechs Tage später erließ Reichsführer SS Heinrich Himmler ein generelles Ausreiseverbot für Juden. Die Judenpolitik des NS-Staates trat in die radikalste Phase ein, die Vernichtung jüdischen Lebens in Deutschland und in den besetzten Gebieten. Am 27. November 1941 wurden die ersten Göppinger Juden, darunter auch Ludwig und Elsbeth Oberdorfer und ihre Kinder Lise, Doris und der dreijährige Franzl, mit kleinem Gepäck über Stuttgart in das „Reichskommissariat Ost“ nach Riga in das dortige Ghetto deportiert. Elsbeths Vater Emil Hilb blieb zunächst alleine in Göppingen zurück. „Herr Hilb kommt jetzt öfters zu uns, er ist ganz verstört“, teilte eine Bekannte nach der Deportation mit. Im Dezember schreibe er selbst den Kreuzlinger Verwandten, von denen er Auskunft über den Verbleib seiner Familie zu erhalten hoffte. Doch es kam keine Nachricht mehr. Im darauffolgenden Sommer wurde Emil Hilb ins KZ Theresienstadt und von dort in das Vernichtungslager Treblinka deportiert und ermordet. Einen letzten dienst konnten die Hilbs in Kreuzlingen der Mutter Ludwig Oberdorfers, Ricka, erweisen. Auch sie wurde nach Theresienstadt deportiert. Immerhin durfte sie von dort nach Kreuzlingen schreiben und ab und an ein Lebensmittelpaket empfangen. Auf ihrer letzten Postkarte an die Hilbs, geschrieben am 13. Oktober 1943 in Theresienstadt, dankt sie für die Grüße und teilt mit: „Dass wir beide, Sie und ich, noch nichts von Ludwig gehört haben, macht mir große Sorge und ich hoffe doch, dass bald gute Nachricht durch’s Rote Kreuz eintrifft.“

Diese Hoffnung sollte sich nicht erfüllen. Nach späteren Feststellungen war die gesamte Familie Oberdorfer während einer Mordaktion im März 1943 ums Leben gekommen. Ricka Oberdorfer starb im Januar 1944 im KZ Theresienstadt.