Gartenstraße 48

Eine unauffällige Familie

„Es stimmt, die Familie Kirchhausen hat lange Jahre in unserem Hause Gartenstraße 48, zweiter. Stock gewohnt, waren immer bescheidene Leute. Herr Kirchhausen hatte einen Viehhandel im Raum Laichingen betrieben, ist jeweils am Dienstag und Donnerstag sehr früh nach Dorten gefahren, die aufgekauften Tiere wurden verfrachtet zum Schlachthof Stuttgart gesandt.( … ) Ich schätze H. Kirchhausen über ein kleineres Unternehmen ein. (…) Das dürfte wohl stimmen, daß die Fam. Kirchhausen durch Boykottmaßnahmen viel erdulden mußten.“

Im Juni 1961 erinnerte sich Emil Geiger mit diesen Worten an das Ehepaar Kirchhausen, das seit dem 1. Januar 1920 bis zum 1. April 1939 im Haus der Familie Geiger eingemietet war. Auch Gertrud Kayser, geb. Remshardt hatte ähnliche Erinnerungen an ihre früheren Nachbarn: Herr Kirchhausen sei nur übers Wochenende zu Hause gewesen. In Aron Tänzers Werk über die Juden in Jebenhausen und Göppingen erscheint der Name Kirchhausen nur beiläufig – als Unternehmen war Sigmund Kirchhausens Viehhandel anscheinend nicht besonders erwähnenswert. Der Name Kirchhausen wird in Aron Tänzers Buch auch nicht erwähnt, wenn es um Mitwirkung in den jüdischen Organisationen geht.

Das später abgerissene Haus Gartenstr.48, Wohnhaus der Familie Kirchhausen
Die Gartenstr. 48 neu bebaut

Im Jahr 1902 dürften Emma, geb. Nördlinger und Sigmund Kirchhausen nach Göppingen gekommen sein, nachdem sie in Emmas Geburtsstadt Laupheim im Juli des Jahres geheiratet hatten. Emma war eines von neun Kindern des Ehepaars Leopold Nördlinger und Rebekka, geb. Löffler, ihr Geburtstag war der 9. Juni 1876. Sigmunds Eltern Josef Karl Kirchhausen und Rachel, geb. Oppenheimer lebten im badischen Schluchtern ( heute Gem. Leingarten) bei Heilbronn und sein Vater arbeitete auch schon als Viehhändler.

Am 3. Juli 1874 geboren, war Sigmund das ältester unter sechs Geschwistern. In Göppingen wurde aus dem Ehepaar Kirchhausen eine Familie, dann am 25. April 1903 kam ihr einziges Kind zur Welt, es erhielt den Namen Gretchen. Das Mädchen, bzw. später die junge Frau verhielt sich ebenso unauffällig wie ihre Eltern.

Einen Einblick in die Lebenswelt der Familie Kirchhausen in Göppingen verdanken wir Frau Helga Baur, deren Mutter Sofie Mezger bei Kirchhausens als Haushaltshilfe bis November 1938 ‚in Stellung‘ war. Aus der Überlieferung konnte Frau Baur berichten, dass ihre Mutter den Haushalt als ‚vornehm‘ empfand, und dass sie von der Familie ungewohnte Anerkennung erfuhr: „Es war die erste Stelle, wo meine Mutter am Tisch mitessen durfte. Als Geschenk bekam meine Mutter einiges an Silberbesteck“.

Und eine witzige kleine Erinnerung: Die Tochter Gretchen habe im Bemühen, möglichst wenig provinziell zu erscheinen, den Namen der Nachbargemeinde Birenbach immer als ‚Birnenbach‘ ausgesprochen. (‚Biren‘ ist die schwäbische Dialektversion des Worts ‚Birnen‘).

Gretchen Steiner, geb. Kirchhausen

Was Gretchen Kirchhausen betrifft: Die nächste Spur, die sie in den Göppinger Unterlagen hinterlassen hat, ist das Datum ihrer Hochzeit: Am 22. August 1930 verband sie sich mit Julius Steiner, der in Hainsfarth geboren wurde, einem bayerisch / schwäbischen Dorf in der Nähe von Nördlingen. Ihr drei Jahre ältere Mann arbeitete als Handelsvertreter und beide wohnten nach der Verheiratung in Oettingen /Bayern.

Julius Steiner, Gretchens Ehemann

Erst vom Juli 1937 datiert die nächste Nachricht aus dem Leben des Ehepaars Kirchhausen, aber keine gute. Isidor Fränkl, ein jüdischer Göppinger, der jahrelang ein Bekleidungsgeschäft in der Innenstadt betrieben hatte, schrieb seinem nach Südamerika geflohenen Sohn Lothar:
Am 19. montags hat mich Frau Kirchhausen wieder rufen lassen und habe sofort den Dr. Krämer telefoniert. K. (= Kirchhausen) hat jetzt die Sprache verloren und kann nicht sprechen. Der Mann muß furchtbar leiden. ( … ) Nun will ich mich fertig machen, es ist 1/4 nach 9 Uhr früh und zu Kirchhausens gehen.“
Hatte Sigmund Kirchhausen einen Schlaganfall erlitten?

Als nach der Pogromnacht 9./10. November 1938 27 jüdische Männer ins KZ Dachau verbracht wurden, war Sigmund Kirchhausen nicht darunter, wie fast alle Göppinger Juden, die über 60 Jahre alt waren. Es ist aber möglich, dass er in der Pogromnacht verhaftet wurde und daraufhin ein bis zwei Tage im Gefängnis verbringen musste.

Auch das nächste Dokument weist darauf hin, wie der Nazi-Staat in das Leben des Ehepaars Kirchhausen eingriff. Am 29. Dezember 1938 schrieb Emma Kirchhausen an das Standesamt Laupheim: „Ich stelle hiermit den Antrag zu meinem bisherigen Namen den Zusatz ‚Sara‘ im dortigen Register beischreiben zu wollen.
Das Nazi-Gesetz, das Juden die Zwangsnamen ‚Sara‘ und ‚Israel‘ aufzwang, war am 15. August 1938 erlassen worden und sollte am 1. Januar 1939 in Kraft treten. Dass Emma den Antrag erst im letzten Moment stellte, kann man als Ausdruck von Protest werten. Emmas Schwägerinnen Betty und Fanny Kirchhausen, die in Schluchtern wohnten, hatten es darauf ankommen lassen und wurden mit einer Geldstrafe belegt, weil sie zeitweilig nicht den vorgeschriebenen Vornamen ‚Sara‘ führten.

Hatte das Ehepaar die Flucht aus Nazi-Deutschland erwogen? Es gibt keinen Hinweis darauf, aus der Erinnerung ihrer Mutter weiß Frau Baur: „Familie Kirchhausen hat das mit den Nazis nicht geglaubt und angenommen, dass die Gefahr bald vorüber gehe. Und dann war es zu spät.“

Verlust der Heimat

Am ersten April 1939 verließ das Ehepaar ihre langjährige Heimatstadt Göppingen und zog nach Heilbronn / Sontheim in das jüdische Altenheim ‚Wilhelmsruhe‘. Wie freiwillig war dieser Umzug? Hätte sich Sigmund unter anderen Zeitumständen überhaupt schon ganz aus dem Berufsleben zurück gezogen? Als jüdischem Viehhändler war ihm die Berufsausübung seit dem ersten Januar 1939 verboten. Und wenn er doch ein Rentnerdasein gewählt hätte, hätten er und seine Frau nicht in der Wohnung bleiben wollen, wo sie jahrzehntelange Nachbarschaft erlebt hatten? Der Wegzug in eine jüdische Einrichtung ist jedenfalls auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass das ‚Gesetz über die Mietverhältnisse der Juden‘ vom 30. April 1939 erlassen worden war. Auf dieser Grundlage sollten Juden aus ihren Wohnungen verdrängt werden, wenn der Vermieter ein ‚Arier‘ war, wie es bei Kirchhausens der Fall war. In den Restitutionsakten findet sich ein Vermerk: „Wie sie in Amerika durch eine Frau Guggenheim erfahren habe, sei der Abtransport ins Altersheim völlig überraschend gekommen. Die Wohnung sei sofort nach dem Auszug durch die Gestapo versiegelt worden. Ein vorheriger Verkauf von Hausrat, bzw. eine Verschleuderung sei offensichtlich nicht möglich gewesen.“

Das Altenheim ‚Wilhelmsruhe‘ war ursprünglich eine großzügige und komfortable Einrichtung, die aber auf den Druck der Nazis viel mehr alte Menschen aufnehmen musste, als vorgesehen war. Als das Ehepaar nach Sontheim kam, lebte dort schon eine Göppinger Bekannte: Berta Tänzer, Witwe des Göppinger Rabbiners Aron Tänzer, die im Dezember 1937 in die ‚Wilhelmsruhe‘, gezogen war. Fast gleichzeitig mit dem Ehepaar Kirchhausen zogen die drei in Göppingen geborenen Schwestern Emilie und Julie Goldstein sowie Rosa Fleischer  nach Sontheim. Da die Goldstein – Schwestern lange Jahre nicht in Göppingen gewohnt hatten, ist es fraglich, ob sie mit den Kirchhausens bekannt waren. Vielleicht bekam das Ehepaar aber öfters Besuch von Sigmunds Geschwistern aus dem nicht fernen Schluchtern? Der Aufenthalt in der ‚Wilhelmsruhe‘ endete nicht freiwillig, denn die Nazis schlossen die Einrichtung. Emma und Sigmund mussten am 18. November 1940 in das Zwangsaltenheim Herrlingen bei Ulm umziehen, auch hier erwarten sie Enge, Isolierung und unzulängliche Verpflegung. Für diese ‚Gnade‘ wurde Sigmund Kirchhausen dazu noch erpresst: Wie der Ulmer Archivar Ulrich Seemüller ermittelt hat, musste er 6000 Reichsmark für die beiden ‚Heimplätze‘ bezahlen. Weiter schreibt Herr Seemüller: „Das Ehepaar Kirchhausen lebte von einer kleinen monatlichen Rente, wobei der größte Teil an die jüdische „Reichsvereinigung“ abgetreten werden musste.“ Die Bedürftigkeit des Ehepaars war auch in Göppingen bekannt, denn am 3. September 1941 zählte Hedwig Frankfurter in einem Brief, diejenigen auf, die unterstützt werden sollten. Das Schreiben an Thilde Gutmann endet mit den Worten: „An Kirchhausen’s denkst du sicher auch. Du siehst, es gäbe viel Not zu lindern.“

In der Mordmaschine der Nazis

Auch der Aufenthalt in Herrlingen wurde nach gut anderthalb Jahren zwangsweise beendet, denn am 17. Juni 1942 wurden Emma und Sigmund in das Schloss Oberstotzingen gebracht, wo sie wieder auf Rosa Fleischer und Emilie Goldstein trafen. Mit ihnen teilten sie auch das weitere Schicksal. Schon am 16. August mussten sie Oberstotzingen verlassen, verbrachten drei Tage im Lager Stuttgart – Killesberg und wurden am 22. August 1942 mit dem Zug in das KZ Ghetto Theresienstadt transportiert. Emma Kirchhausen wurde in der Dresdner Kaserne auf dem sommerheißen Dachboden einquartiert, die Toiletten lagen Stockwerke tiefer, eine Qual speziell für alte Menschen. Aufgrund der unhygienischen Verhältnisse und der unzureichenden Verpflegung litten viele Häftlinge an Durchfallerkrankungen. ‚Enteritis Darmkatarrh‘ lautete dann auch die Todesursache auf der Sterbeurkunde, wo Emma Kirchhausens Tod am 26. Oktober 1942 um 13.30 Uhr festgestellt wurde. Sigmund überlebte seine Frau um einige Monate. Er starb am 2. August 1943 mit 69 Jahren in der Alterskrankenstube mit der gleichen Diagnose wie seine Frau. Zweifacher Mord durch gezielte Vernachlässigung.


Das Schicksal der Tochter Gretchen Steiner

Als Sigmund in Theresienstadt elend starb, lebten seine Tochter Gretchen und sein Schwiegersohn Julius Steiner schon nicht mehr. Noch im Februar 1939 versuchten Gretchen und Julius Steiner aus Nazi – Deutschland zu fliehen. Die Ausreise in die Dominikanische Republik scheiterte an der geforderten Geldsumme, die Einreise in die USA scheiterte an der Wartefrist. Auch der Versuch, wenigstens übergangsweise in Palästina Schutz zu suchen, hatte keinen Erfolg, obwohl sich Viktors dort lebende Schwester Sidonie Ascher für das Ehepaar verbürgte. Aus Oettingen, wo Julius Steiner als Handelsvertreter arbeitete, wurden beide, zusammen mit allen Oettinger Juden am 5.Juli 1939 nach Augsburg ausgewiesen, wo die Steiners zum Schluss in einer Baracke lebten und Zwangsarbeit leisten mussten: Julius als Schaffner, Gretchen in der Ballonfabrik Gersthofen. Über München wurde das Paar am 13. März 1943 in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort ermordet, das genaue Todesdatum ist nicht bekannt.

Fanny Kirchhausen: Sigmunds Schwester

Ermordet wurden auch die ledigen Geschwister Sigmunds, die zu Kriegsbeginn noch in Schluchtern lebten: Fanny, Betty und Siegfried Kirchhausen wurde nach Gurs / Frankreich deportiert und am 10.08.1942 über Drancy in das Vernichtungslager Auschwitz geschickt.

Siegfried Kirchhausen: Sigmunds Bruder

Auch in Emmas Familie gab es Opfer des Nazi – Terrors: Ihr älterer Bruder Siegmund Nördlinger und seine Frau Rosalie, geb. Pollak, die in Köln lebten, wurden ins KZ Theresienstadt deportiert, wo Rosalie starb, während Siegmund Nördlingers Leben im Vernichtungslager Treblinka endete. Emmas Schwägerin Thekla Nördlinger, geb. Leiter, die als Witwe in Laupheim wohnte, wurde im April 1942 in Izbica ermordet.

Am 2. Oktober 2013 wurden an der Stelle, wo das Haus Gartenstr. 48 stand, Stolpersteine gelegt zum Andenken an Emma und Sigmund Kirchhausen.

(24.01.2017 kmr)