Bahnhofstraße 26
In der Bahnhofstraße 26, oben im ersten Stock, wohnte die Familie Heimann. Julius Heimann hatte die geräumige Fünfzimmerwohnung mit Bad vom ‚Wein Pflüger’ gemietet – einem Mann, der wohl bekannt war in der Stadt. Denn hinter dem Wohnhaus mit Erker schlossen sich die Gebäude seiner Wein- und Mostkellerei an. Seit 1884 kelterte hier der Küfermeister August Pflüger Wein und belieferte Gaststätten mit diesem köstlichen Getränk. Seine Nachkommen führten den Betrieb weiter, bis 1992 das Areal größtenteils abgerissen wurde.
Die Familie Heimann war 1929 eingezogen und, wie sich Zeitzeugen erinnern, hatten die Pflügers einen guten Draht zu ihren jüdischen Mitbürgern, besonders zur Familie Dörzbacher, die im Haus nebenan wohnte.
Familie Julius Heimann
Julius Heimann, geboren 1869 in Göppingen, arbeitete zunächst als gelernter Kaufmann im Damenkonfektionsgeschäft seines Vaters Adolph Heimann. Der 1867 gegründete Betrieb gehörte zum renommiertesten seiner Art in der Stadt Göppingen und hatte seinen Sitz direkt am Marktplatz gegenüber dem Rathaus.
Nach dem Tod des Vaters 1903 übernahmen Julius, als älterer Sohn, sowie sein Bruder Louis die Leitung des Mode- und Einrichtungshauses. Ein Jahr später heiratete Julius die 30-jährige Jenny Sicher, deren Eltern in München ansässig waren. Nach dem Tod des Vaters Bernhard Sicher, aus Amerika stammend, zog ihre Mutter Nanny, geborene Bernheimer, nach Göppingen und lebte bis zu ihrem Tod im Januar 1920 in der Familie ihres Schwiegersohns. Auf dem jüdischen Teil des Göppinger Friedhofs erinnert ein Grabstein an sie.
Am 16. November 1906 vergrößerte sich die Familie mit der Geburt der Tochter Felicia – oder „Lici“, wie sie von allen genannt wurde. Sie blieb das einzige Kind von Jenny und Julius Heimann.
Warum 1913 Louis Heimann die alleinige Leitung des väterlichen Konfektionsgeschäfts übernahm und ab dem Zeitpunkt Julius Heimann sich als Textilvertreter selbstständig machte, ist unbekannt. Möglicherweise hielten die Brüder diese Aufteilung der Tätigkeiten für Gewinn bringender. Dass die Trennung im gegenseitigen Einvernehmen geschah, kann angenommen werden, da Julius Tochter Lici ihre Ausbildung im Geschäft des Onkels machte und bei ihm als Verkäuferin arbeitete.
Als Julius Heimann mit seiner Familie 1929 in die Bahnhofstraße zog, gab er seine Wohnadresse wieder als Firmensitz an, wie er es schon bei der früheren, Geislinger Straße 15, getan hatte. In der Etagenwohnung gab es genügend Platz für ein Büro.
Julius Heimanns Name taucht in keiner jüdischen Vereinigung auf, aber in der Mitgliederliste des Göppinger Liederkranzes. In der 1926 erschienenen Festschrift zum 100 jährigen Bestehen des Gesangvereins wird Julius Heimann extra ausgezeichnet: zum „Ehrensänger” hatte man ihn ernannt, da er über 25 Jahre im Kreis anderer sangesfreudiger Mitglieder deutsches Liedgut zum Besten gegeben hatte. Diesem Jubiläum ist es zu verdanken, dass ein Foto von ihm erhalten blieb. Alle anderen Fotos, sowie der ganze Heimann`sche Besitz wurde von den Nationalsozialisten beschlagnahmt oder vernichtet. Zwei Jahre der Nazi-Diktatur erlebte Julius Heimann noch, dann starb er am 8. Dezember 1935 in einer Tübinger Klinik. Sein Grab befindet sich im jüdischen Teil des Göppinger Friedhofs.
Jenny und Felicia Heimann
Hätten Mutter und Tochter die Wohnung in der Bahnhofstraße verlassen, wenn die nationalsozialistischen Gesetze sie nicht dazu gezwungen hätten? Zwar wurde die 130 m² große Wohnung ab 1936 nur noch von zwei Personen bewohnt, doch vieles zeugt davon, dass sie sich wohl fühlten in den gut bürgerlich eingerichteten Räumen. Im Wohnraum und im Speisezimmer lagen Teppiche, in den Schränken war Porzellan und silbernes Besteck verwahrt, Bilder schmückten die Wände und ein Klavier von Schiedmayer stand zum Musizieren bereit. Schmuck und Kleidung der Jenny Heimann, der Nachlass ihres Mannes wie Wertpapiere und Bankguthaben, lassen darauf schließen, dass die beiden Frauen finanziell abgesichert waren. Außerdem übte Felicia ihren Beruf im Textilgeschäft des Onkels aus und verdiente Geld, so konnte sie ihren Anteil am Haushaltsbudget beitragen.
Wenn auch in den Wiedergutmachungsakten von Jenny und Felicia Heimann mehrmals das Wort “freiwillig” auftaucht, als sie ihr Mobiliar versteigerten, bevor sie im Juli 1939 in die zwei Zimmer eines nur von Juden bewohnten Hauses zogen, dann ist dieses “freiwillig” in der Zeit des Nationalsozialismus mehr als fragwürdig zu bewerten. Die beiden Frauen waren gezwungen worden, ihre Wohnung in der Bahnhofstraße 26 aufzugeben, da seit dem 30. April 1939 Juden in bestimmten Häusern zusammengefasst werden sollten. ‚Arische‘ Vermieter, so sie an Juden vermietet hatten, mussten dies melden und ihren Mietern umgehend kündigen. Hauseigentümer August Pflüger gab später in dem Verfahren um die Entschädigung zu Protokoll:
Frau Heimann sagte, „sie wolle keine Schwierigkeiten machen, nachdem Juden allgemein verfolgt werden… Ich möchte betonen, dass sie von mir nicht gedrängt worden sind.“ Mutter und Tochter bekamen zwei Zimmer in der Parterrewohnung des Hauses Wilhelm-Murr-Straße 1 (heute Mörikestraße 30) zugewiesen. Die Küche teilten sie mit Frau Bensinger und Frau Wassermann, beide Frauen jüdischen Glaubens, die ebenfalls von der Gestapo dort eingewiesen worden waren. Mit einem Teil ihrer wertvollen Möbel richteten sich Mutter und Tochter Heimann ein, das andere Mobiliar gaben sie zur Versteigerung frei. Zu Schleuderpreisen war jüdisches Hab und Gut zu erstehen und in dem Protokoll von 1960 wurde (immer noch) in Frage gestellt, ob die Versteigerung gezwungenermaßen erfolgte, oder ob es der Umzug einfach mit sich brachte, „daß sie einen Teil der Sachen freiwillig versteigern lassen musste“. Eine Antwort – so das Aktenprotokoll – ging „aus dem Verzeichnis nicht hervor“ … nein, aber aus der Geschichte der Nationalsozialisten und ihrem Ziel, die Juden zu berauben.
Felicia verlor ihren Arbeitsplatz bei ihrem Onkel, da Louis Heimann im Zuge der ‚Entjudung’ der Wirtschaft sein Konfektionsgeschäft Not gedrungen verkaufen musste. Stattdessen wurde sie als Näherin zwangsverpflichtet bei der Firma Fürstenberg, die bis 1938 noch im Besitz der Gebrüder Block gewesen war, bis auch sie sich den vernichtenden Methoden der Nationalsozialisten beugen und verkaufen mussten. Wir verdanken einem Donzdorfer Zeitzeugen, damals ein 16-jähriger Lehrling, dass die sieben bis acht Frauen nicht in Vergessenheit geraten sind, die als Zwangsarbeiterinnen in einem Bauernhaus in der benachbarten Bartenbacher-Straße für Fürstenberg Bettwäsche u. ä. herstellten. Er hatte die Aufgabe, den Frauen den Stoff zuzuteilen. Eine Frau Heimann blieb ihm besonders im Gedächtnis: Sie hatte auffallend große Augen, ihr Gesicht war bleich, „fast kristallig“, sie war eine schlanke, hoch gewachsene Person von circa 40 Jahren – so seine Erinnerung. Mitleid hatte er mit ihr und trotz aller Ängste vor Sanktionen, schob er ihr ab und an eine Scheibe Brot seines Vespers unter den Stoff. Mit den Augen habe sie ihm gedankt, so der hoch betagte Zeitzeuge, der ein Leben lang Felicia Heimann im Gedächtnis behielt. Nach über siebzig Jahren gab es sonst keinen mehr in Göppingen, der sich ihrer und ihrer Mutter Jenny erinnerte.
Deportation und Ermordung der beiden Frauen
Am 27. November 1941 erfolgte die erste Deportation von Göppingen. 39 Juden, Frauen, Männer und Kinder, hatten die letzte Nacht in der Stadt in der Turnhalle der Schillerschule verbracht. Am nächsten Morgen wurden sie von Beamten der Kriminal- und Schutzpolizei zum Bahnhof geführt. Für Jenny Heimann war es die letzte Möglichkeit ihre Tochter zu sehen, denn Felicia gehörte zu dieser ersten Gruppe der Deportierten. Nach einem Aufenthalt im Sammellager Stuttgart-Killesberg verließ sie am Morgen des 1. Dezember 1941 im Zug den Stuttgarter Nordbahnhof mit dem Ziel: die Stadt Riga in Lettland. Nur einer der Deportierten aus Göppingen überlebte: Es war der damals 14-jährige Richard Fleischer, der nach seiner Befreiung aus dem KZ im Jahr 1945 einen Brief an seinen Vetter schrieb und unter anderem den Transport nach Riga schilderte:
„Nachts um 4 Uhr wurden wir am Nordbahnhof einwaggoniert und fuhren drei Tage und vier Nächte in ungeheizten Wagen nach Riga. Unterwegs bekamen wir nur zweimal Wasser. Halb verdurstet kamen wir an. Beim Ausladen wurden wir wie das Vieh mit Stockschlägen und Geschrei ausgeladen. Auf dem Glatteis blieben viele Leute zurück und wurden erschossen. In zehn Minuten hatten wir 28 Tote. Wir hatten gleich den richtigen Eindruck. Vor Durst aßen wir Eis und Schnee. Wir wurden in ein paar alte Scheunen und Schafställe getrieben, kurz und gut wir blieben dort. Im Eis und Schnee blieben wir dort bis Ende März. In unserer Baracke starben jeden Tag 18 bis 25 Männer, welche über Nacht erfroren. Es starben noch viele an Typhus, Ruhr und Erfrierungen.” (Vollständiger Text: Siehe Anhang zur Stolperstein-Biografie Irma und Julius Fleischer).
Ob die 35-jährige Felicia Heimann dieses Inferno überlebt hat? Sie kam, genau wie Richard Fleischer, am 3. Dezember 1941 in Lettland an. Vorgesehen war, dass die Deportierten ins Rigaer Ghetto verschleppt werden sollten. Doch wegen totaler Überfüllung der Häuser ehemaliger lettischer Juden im Ghetto wurden diese Deportierten aus Württemberg auf dem Gutshof Jungfernhof in der Nähe von Riga untergebracht. Die meisten Gebäude auf dem Gelände waren baufällig, nicht zu beheizen und für die Aufnahme von fast 4000 Menschen – noch andere Transporte wurden hier eingewiesen – völlig ungeeignet.
Ab März 1942 fand die „Aktion Konservenfabrik Dünamünde” statt. Erst wurden aus dem Rigaer Ghetto ungefähr 1900 ‚Reichsjuden‘ selektiert und erschossen. Dann, am 26. März, betraf diese Aktion auch diejenigen, die auf dem Rigaer Jungfernhof untergebracht waren.
Unter dem Vorwand, die Juden kämen in ein neues Lager und hätten dort die Gelegenheit, in einer Konservenfabrik unter besseren Bedingungen zu arbeiten, ließen die Lagerkommandanten 1600 bis 1700 Lagerinsassen auf Lastwagen in einen nahe gelegenen Wald transportieren. Dort wurden sie von den Nationalsozialisten kaltblütig umgebracht und in Löchern verscharrt. Von den 1013 von Stuttgart abgefahrenen Deportierten überlebten 43 Menschen.
Keiner kennt den Todestag von Felicia Heimann, keiner weiß sicher, ob sie hier ermordet wurde und ob ihre letzte Ruhestätte eines der Massengräber im Wald von Bikernieki nahe bei Riga ist.
Ob ihre Mutter Jenny etwas von den grauenhaften, in den Tod führenden Lebensumständen ihrer Tochter erfahren hat? Sie war im August 1942 von der Deportation betroffen. 23 Menschen, meist ältere jüdische Göppinger und Göppingerinnen, waren dieses Mal die Opfer des Vernichtungswahnsinns der Nazis, mit dem sie Deutschland und die besetzten Gebiete „judenfrei” bekommen wollten. Jenny Heimann kam zusammen mit ihrem Schwager Louis Heimann und seiner Frau Betty ins Lager Theresienstadt bei Prag.
Sie starb dort am 26. September 1942, einen Monat nach ihrer Ankunft aufgrund der mörderischen Lebensbedingungen.
Am 25. November 2011 legte Gunter Demnig Stolpersteine, die an Felicia und Jenny Heimann erinnern.
(09.01.2017 clm)
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