Lutherstr. 11
Von Bad Kissingen nach Göppingen
Dr. Aron Tänzer, der gewissenhafte Chronist der jüdischen Einwohnerschaft Göppingens notierte zur Familie Goldstein und zu ihrem Geschäft:
„Martin Goldstein, Konfektions-, Tuch- und Bukskinhandlung.
Im Jahre 1871 von Martin Goldstein gegründet, trat 1874 sein Bruder Michael als Gesellschafter ein. 1881 wurde das Geschäft aufgelöst.“
Die genannte Jahreszahl 1871 dürfte auch das Jahr sein, in dem Martin Goldstein, Emilie Goldsteins Vater, von Bad Kissingen, seiner Heimatstadt, nach Göppingen gezogen war. War die aufstrebende Industriestadt Göppingen ein vielversprechender Ort, um ein Herrenbekleidungsgeschäft zu eröffnen? Oder war es die Liebe, die Martin Goldstein nach Göppingen gelockt hatte? Denn schon im Jahr 1872 trat er in den Ehestand, der 25- jährige heiratete die vier Jahre jüngeren Sophie Fleischer. Sie war die älteste Schwester des später erfolgreichen Göppinger Unternehmers Samuel Fleischer, der damals noch in der Korsettfabrik seines Onkels Daniel Rosenthal arbeitete.
Noch im Jahr der Eheschließung kam als erstes Kind, die Tochter Julie auf die Welt, 1874 Rosa und 1875, am 10. November die dritte Tochter, die den Namen Emilie erhielt. Nach Emilie bekamen Sofie und Martin Goldstein noch vier weitere Kinder, doch nur noch die 1878 geborene Tochter Helene überlebte die ersten Tage nach der Geburt. Helene sollte später Maier Wachenheimer heiraten und mit ihm zwei Kinder, Otto und Ruth-Sofie bekommen. Die Familie lebte in Straßburg, nach Maiers frühem Tod zog Helene mit ihren Kinder 1921 nach Deutschland. Ihr weiteres Schicksal konnte bis jetzt nicht ermittelt werden, glücklicherweise taucht ihr Name aber in keiner Liste der NS-Opfer auf.
Zum familiären Unglück des Ehepaar Goldsteins kam womöglich das kommerzielle hinzu, denn 1881 schloss Martin Goldstein das Göppinger Geschäft.
Das weitere Schicksal von Emilies Eltern ließ sich nicht genau nachvollziehen. Ihre Mutter Sofie starb jung schon 1888 in Karlsruhe, wo sie seit 1885 ohne ihren Mann und wahrscheinlich auch ohne ihre Kinder gelebt hatte. Martin Goldstein, Emilies Vater gilt in einem Dokument von 1904 als „unbekannt verzogen“. Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte Martin Goldstein schon 1881 seine deutsche Familie verlassen und war nach England ausgewandert, wo er noch zwei neue Familien gründete und bis zu seinem Tod im Jahr 1928 gelebt hat.
Wo kam die 10-jährige Emilie unter, nachdem ihr Vater ‚verschwunden‘ und ihre Mutter 1885 nach Heilbronn verzogen war? Vielleicht zog sie zur väterlichen Verwandtschaft nach Kissingen, denn später war Emilie im Besitz der bayerischen Staatsangehörigkeit. Dass sie bei der Göppinger Verwandtschaft untergekommen ist, oder zumindest später wieder nach Göppingen zurückgekehrt ist, kann man den Erinnerungen von Sylvia Hurst, geb. Fleischer entnehmen. In ihrem Buch ‚Laugh or cry‘ schreibt sie: „Vor dem ersten Weltkrieg war mein Vater ( = Julius Fleischer, – kmr) ein eingeschworener Junggeselle. Ich hörte, dass er nur ein einziges Mal ans Heiraten gedacht hatte. Damals war er recht jung und verliebte sich in Tante Emmy, einer Cousine und ‚armen Verwandten‘, der man Arbeit in der Fabrik verschafft hatte. (Gemeint ist die Korsettfabrik von Samuel Fleischer in Göppingen.- kmr) Sie war lebhaft und fröhlich, aber viel älter als Vater. (Um sieben Jahre – kmr) Der Altersunterschied galt als ein Argument, weswegen die Familie gegen eine Heirat war. Ein anderer, der Hauptgrund waren die vielen interfamiliären Ehen. Meine Urgroßeltern, meine Großeltern und mehrere Onkel hatten Cousinen oder Cousins geheiratet. Eine Freundin der Familie meinte mir gegenüber, dass sich Vater deshalb zu Tante Emmy hingezogen fühlte, weil sie als liebevoller Mensch einen Gegensatz zu seiner überstrengen Mutter verkörperte. Die Freundin meinte auch, dass er eigentlich nicht wirklich in sie verliebt war. Tante Emmy wurde weggeschickt. Man richtete ihr ein Korsettgeschäft im Rheinland ein. Sie heiratete nie. Mutter pflegte zu sagen: Die Männer in Vaters Familie heiraten Verwandte, weil alle anderen nicht gut genug sind. Bei Tante Emmy machten sie eine Ausnahme und womöglich, weil sie kein Geld hatte.“ Hier finden sich Ähnlichkeiten zur Biografie von Emilies älterer Schwester Julie Goldstein. Auch Julie blieb ledig, auch Julie wurde beruflich von ihrem Onkel Samuel Fleischer gefördert. Anders als Emilie arbeitete sie aber direkt für das Unternehmen. So weiß man, dass sie für die Firma in Italien (Mailand) bis in den ersten Weltkrieg ein Korsettgeschäft leitete. Während des Krieges wurde ihr Geschäft, das ja den ‚feindlichen Deutschen‘ gehörte, geplündert und Julie floh zunächst in die Schweiz.
Beruf: Korsettmacherin
Es ist also nahe liegend, dass Emilie in der Göppinger Fabrik zur Korsettmacherin ausgebildet wurde. Wann und wo ihr das erwähnte Geschäft im Rheinland zunächst eingerichtet wurde, ließ sich nicht nachweisen, jedenfalls meldete sie sich am 1.12.1926 von Köln ab und zog nach Bonn. Dort eröffnete sie in der Kaiserstraße 20 ein Korsett – Geschäft, im Mai 1935 wechselte sie in das Nachbarhaus Nr. 22. Während der Pogromnacht am 9.11.1938 wurde ihr Geschäft vom Nazi – Pöbel verwüstet. Was damals selten genug der Fall war: Emilie Goldstein hatte gute (nichtjüdische) Nachbarn, nämlich die Familie des Orientalistik – Professors Paul Kahle. Am Abend des 15. November wurden Paul Kahles Ehefrau Marie und der älteste Sohn Wilhelm von einem Polizeibeamten beobachtet, wie sie Emilie halfen, den zerstörten Laden aufzuräumen. Zwei Tage später wurde die Familie Kahle im regionalen Nazi – Hetzblatt ‚Westdeutscher Beobachter‘ angeprangert:
„ Das ist Verrat am Volke – Frau Kahle und ihr Sohn helfen der Jüdin Goldstein bei Aufräumarbeiten. (…) Die ehrlich und rein empfindende Bevölkerung steht sprachlos vor einer solchen Gemeinheit “.
Umzug in die ‚Wilhelmsruhe‘
Professor Kahle verlor bald darauf seine Dozentur, sein Sohn Wilhelm wurde von der Bonner Universität verwiesen und die Familie floh im März 1939 nach England. Nach der Pogromnacht konnte Emilie Goldstein ihr Gewerbe nicht länger ausüben. Der darauf folgende Wegzug nach Sontheim bei Heilbronn bedeutete also einen tiefen Einschnitt in ihrem Leben: Emilie, mit 64 Jahren nahe dem Rentenalter, zog in die ‚Wilhelmsruhe‘. Diese Einrichtung war 1895 als ‚Israelitisches Asyl für alleinstehende Männer und Frauen‘ gegründet worden, das dazu gehörige Gebäude wurde 1907 errichtet und nach dem Württembergischen König benannt. Zunächst eine komfortable Einrichtung mit guter Betreuung, wurden die Betreiber in der NS – Zeit gezwungen, immer mehr alte Menschen aufzunehmen. So teilten sich 1939/40 mehr als doppelt so viele Bewohner den Wohnraum als noch 1937. Als Emilie Goldstein am 26. Januar 1939 in der ‚Wilhelmsruhe‘ einzog, war es also längst nicht mehr das großzügige Altenheim, das die Gründer eingerichtet hatten. Mit Emilie zogen auch ihre älteren Schwestern Julie Goldstein und Rosa Fleischer nach Sontheim, beide waren erblindet und pflegebedürftig. Julie Goldstein starb 67 – jährig schon im Mai 1940. Im November 1940 wurden die jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner auf Anordnung der NS – Verwaltung aus dem Heim vertrieben. Einige der bisherigen, jüdischen Heimbewohner wurden in ihre Heimatgemeinden verwiesen und auf diese Weise kamen Emilie Goldstein und Rosa Fleischer wieder nach Göppingen.
Im Haus von Hedwig und Sigmund Frankfurter
Emilie und Rosa konnten im Haus von Hedwig und Sigmund Frankfurter in der Lutherstraße11 wohnen. Diese Unterkunft war für alle Beteiligten ein Glücksfall, denn das Haus bot für die damaligen Verhältnisse eine gute Wohnsituation und die Gastgeber waren keine Fremden, denn Rosa Fleischers Tochter Elsbeth war mit Richard Frankfurter, einem Sohn ihrer Gastgeber verheiratet. In Göppingen lebte zu dieser Zeit auch noch Emilies Cousin Julius Fleischer mit seiner Frau. Vielleicht hat sich Emilie, die schon Jahrzehnte fern der Stadt ihrer Geburt gelebt hatte, dennoch in Göppingen zu Hause gefühlt. Leider war es ihr nicht vergönnt, hier ein paar Jahre der Ruhe zu finden.
Herrlingen, Oberstotzingen …
Schon im August 1941 mussten Emilie und Rosa Göppingen verlassen und in das Zwangsaltenheim nach Herrlingen ziehen. Auch hierbei handelte es sich, wie bei der Sontheimer ‚Wilhelmsruhe‘ um eine von jüdischen Organisationen geschaffene Sozialeinrichtung. Ursprünglich befand sich in dem Gebäude das von Anna Essinger gegründete Landschulheim (staatlich anerkannte Privatschule / Internat). Die Schule war 1939 geschlossen und das Zwangsaltenheim eingerichtet worden. Als Emilie Goldstein und ihre Schwester eingewiesen wurden, fanden sie bedrückende Lebensverhältnisse vor. Ulrich Seemüller schreibt in seiner Veröffentlichung ‚ Das jüdische Altenheim Herrlingen‘:
“ Im August kamen zehn, im September sechs und im Oktober 1941 nochmals vier neue Bewohner in das überfüllte Heim. Damit war die Belegung auf 96 Personen angewachsen. Die drangvolle Enge erschwerte nicht nur das Zusammenleben, sondern gefährdete auch zunehmend die Versorgung mit Lebensmitteln. Die für den Anbau von Obst und Gemüse geeigneten Flächen waren beschränkt, und es bestand keine Möglichkeit, über Pacht oder Ankauf weitere hinzuzugewinnen. (…) Mit der diskriminierenden Kennzeichnungspflicht (der ‚Judenstern’ – kmr) wurden weitere Bestimmungen erlassen, die den Heimbewohnern das Leben deutlich erschweren sollten. Ohne schriftliche Erlaubnis der Ortspolizeibehörde durften sie beispielsweise den Bereich der Wohngemeinde nicht mehr verlassen.“
Bei der Einweisung in das Herrlinger Zwangsaltenheim mussten die Neuankömmlinge einen Vernehmungsbogen ausfüllen. Dabei wurde auch die Einkommenssituation erfragt und festgehalten, dass Emilie Goldstein monatlich 66,80 RM als Rente aus der Angestelltenversicherung bezog, was darauf schließen lässt, dass sie vor der Selbstständigkeit in Bonn längere Zeit als Angestellte (in der Göppinger Korsettfabrik Fleischer ?) gearbeitet haben muss. Im November 1941 besuchte Emilie wahrscheinlich ein letztes Mal Göppingen um sich, wie Hedwig Frankfurter in einem Brief vom 3.12.1941 schreibt, „ von ihrem Vetter (=Julius Fleischer – kmr) zu verabschieden. Es war begreiflicher Weise recht schwer für beide.“ Wusste Hedwig Frankfurter, dass Emilie und Julius vor vier Jahrzehnten ein Liebespaar gewesen waren? Julius Fleischer, seine Frau Irma und sein Sohn Richard wurden am 28.11.1941 von Göppingen nach Riga / Jungfernhof deportiert.
Auch der Aufenthalt in Herrlingen endete nach weniger als einem Jahr. Ein erneuter erzwungener Umzug führte die beiden alten Damen in das Schloss Oberstotzingen, wo sie bis zum 16. August 1942 leben mussten. (Siehe Stolperstein – Biografie Rosa Fleischer). Von dort wurde Emilie Goldstein zunächst in das Lager auf dem Stuttgarter Killesberg verbracht. Am 22.August ging der Transport ab, der sie in das KZ Theresienstadt brachte.
… Theresienstadt
Hungernd, frierend und medizinisch mangelhaft versorgt lebte Emilie Goldstein fast zwei Jahre in der alten Festung. Wie ihre Göppinger Gastgeberin und Theresienstädter Leidensgenossin Hedwig Frankfurter wurde sie dann am 16. Mai 1944 in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und wahrscheinlich kurz darauf ermordet. Ihre Schwester Rosa Fleischer war schon im Dezember 1942 in Theresienstadt gestorben.
Von den Nazis ermordet wurden auch ihre Cousins mütterlicherseits Julius, Bernhard und Arthur Fleischer, die Cousine Pauline Guggenheim beendete ihr Leben aus Furcht vor Erniedrigung und Folter. Emilies Cousin Otto Goldstein flüchtete aus Enttäuschung und Entsetzen vor der Nazi – Barbarei schon 1933 in den Tod. Für ihn liegt seit 2009 ein Stolperstein in Bad Kissingen.
Am 25. November 2011 setzte Gunter Demnig einen Stolperstein für Emilie Goldstein vor dem Haus Lutherstraße 11.
Die Stolperstein-Initiative dankt Frau Ruth Adler, Frau Edith Neisser, Frau Sylvia Hurst †, Frau Jenny Johnson und Herrn Edgar Fleischer † herzlich für Fotos und Informationen.
Auf der Website der Stadt Bad Kissingen befindet sich ein ausführlicher Text zur Familie Goldstein, auf den wir hier gerne verweisen.
(21.10.2024 kmr)
Schreibe einen Kommentar