Kirchstr.12
Ein Kiosk als Lebensmittelpunkt ?
Therese Wassermann war bestimmt eine weithin bekannte Göppingerin. Von 1912 bis 1936 stand sie fast täglich in ihrem kleinen Verkaufskiosk in der Unteren Marktstraße 9a neben dem damaligen Gasthof ‚Zum Bären‘ und bot Tabakwaren und Zeitungen an.
Als David Löw Wassermann im Jahr 1912 seiner ältesten Tochter Therese den Kiosk kaufte, dürfte er deren materielle Absicherung im Auge gehabt haben. Er und seine Familie waren vermutlich wenig begütert und mit 28 Jahren war Therese für damalige Verhältnisse fast schon eine ‚Alte Jungfer‘ mit geringen Heiratschancen. Übrigens finanzierte Vater Wassermann nur das Kiosk- Bauwerk, der Baugrund blieb im Besitz der Familie Scheer.
Therese Wassermanns kleines Unternehmen hielt sich finanziell eher schlecht als recht. Emil Schober, Eigentümer einer Esslinger Tabakgroßhandlung schrieb 1953 im Rahmen des Restitutionsverfahrens:
„Fräulein Therese Wassermann, Göppingen besass zu der Zeit als ich die Geschäftsverbindung etwa im Jahr 1928 mit ihr begann, kein Vermögen. Sie hätte damals schon den Geschäftsbetrieb aufgeben müssen, weil sie keinen Kredit hatte und von den Herstellerfirmen nicht mehr beliefert wurde. Vertreter dieser Firmen sind damals an mich herangetreten mit der Bitte, Frl. W. mit Commissionsware zu beliefern damit sie ihre Existenz behalten kann. Das habe ich auch getan und das vorhandene Warenlager gehörte von Anbeginn der Geschäftsverbindung bis zum Ende mir, Frl. W. hatte also kein Warenlager, welches ihr gehörte. ( … ) Am 31. Juli 1936 hat Frl. Wassermann wegen Krankheit das Geschäft aufgegeben und abgemeldet. Verkaufen konnte sie das Geschäft nicht, weil ausser einem alten Ladentisch und einem alten Regal nichts ihr gehörte.“
Damit ist der ökonomische Gang von Thereses Geschäft umrissen, doch was dabei nicht in den Blick gerät: Erlebte Therese auch Glück in ihrem Beruf? Gab es freundschaftliche Begegnungen mit Kunden und Kundinnen? 1936 dürfte der Druck der Nazis auf ein ‚jüdisches‘ Kleinst-Unternehmen dieser Art nicht entscheidend gewesen sein, wahrscheinlich war Therese Wassermann tatsächlich so erkrankt, dass sie aufgeben musste.
Berta Henle, eine Göppinger Zeitzeugin erinnerte sich, dass Therese an ‚Wassersucht‘ (wahrscheinlich eine Folge von Herzinsuffizienz – d. Verf.) gelitten habe. Fand Therese noch eine andere Arbeit? Wer half ihr finanziell, nachdem sie Mitte 1936 auf die Einkünfte aus dem Kiosk verzichten musste? Zu dieser Zeit wechselte Therese die Wohnung und zog in die Rosenstr. 13, einem Haus am Rosenplatz, das der Witwe Maria Keidel gehörte.
Die Familie Wassermann
Ein Blick auf ihre Familie: Etwa 1891 waren Thereses Eltern, Bertha Wassermann, geb. Frei (Frey) und ihr Gatte David Löw Wassermann aus Aufhausen (heute Stadt Bopfingen) nach Göppingen übersiedelt. Mit ihren Eltern zogen die Kinder Therese, geb. 1884, Arthur, geb. 1887, Isaak, geb. 1888 und Berta Lina, geb. 1890 in die Kirchstr.12, wo sie im Haus des Bäckermeisters Karl Berner im ersten Stock eine Wohnung fanden. Ein weiteres Geschwisterkind, die 1885 geborene Karoline war 1891 noch in Aufhausen gestorben. In Göppingen sollte das Ehepaar noch fünf Kinder zur Welt bringen.
Im Göppinger Adressbuch von 1902 wird David Löw Wassermann als Viehhändler bezeichnet. Während im Buch von Rabbiner Aron Tänzer kein Hinweis zu finden ist, erinnerte sich die Göppingerin Berta Henle: „In der Kirchstraße neben der Apotheke Mauch, Familie Wassermann, Viehtreiber, große Familie, sehr arm.“ 1936 lebten von den ursprünglich 10 Kindern noch fünf, eines davon, Isaak befand sich damals als psychisch Kranker in der Ulmer Fürsorgeanstalt ‚Oberer Riedhof’. Nicht alle Geschwister dürften arm geblieben sein: Thereses Schwester Berta Lina war seit 1917 mit dem (christlichen) Ingenieur Emil Munz verheiratet und der 1901 geborene jüngste Bruder Julius Wassermann hatte sich schon 1926 ein eigenes Haus in der Eugenstraße 10 erbauen lassen. Vermutlich ist Therese nach dem Ende ihrer Geschäftstätigkeit von ihren Geschwistern unterstützt worden.
Die Verbundenheit mit der jüdischen Gemeinde dürfte in der Familie nicht sehr ausgeprägt gewesen sein, zumindest wirkte niemand in den Einrichtungen der Gemeinde mit. Noch die Ausnahme zu dieser Zeit war es, dass drei der vier verheirateten Wassermann-Geschwister sich einen nichtjüdischen Ehepartner ausgesucht hatten.
Das Schicksal der Brüder Wassermann und ihrer Familien
Für die rassistischen Nazis war es freilich nebensächlich, wie ein Mensch, der nach ihren Kategorien ‚Jude‘ war, sich selbst definierte. Thereses jüngster Bruder Julius Wassermann, der mit Hedwig, geb. Kocher verheiratet war und dessen Kinder Heinz und Inge in der evangelischen Konfession seiner Frau getauft waren, bekam den Rassenhass als erster zu spüren. Eine Nachbarin erinnerte sich an sein Schicksal:
„In der Kristallnacht (Pogromnacht am 9.11.1938, Anm. d. Verf.) wurde Julius Wassermann abgeholt. Er kam ins Konzentrationslager Dachau mit anderen Göppinger Juden. Dort wurde er geschlagen und schwer mißhandelt. Als er nach einigen Wochen ( vom 12.11. bis 28.12.1938 d. Verf.) zurückkam, hatte er den ganzen Rücken voll tiefer Wunden. Vor seiner Entlassung hatte er unterschreiben müssen, daß er niemanden über die dortige Behandlung etwas erzähle. Nach diesem Erlebnis hat er nur noch die Ausreise angestrebt. Für seine Frau war es klar, daß sie zu ihm hielt. Das Haus, der ganze Hausrat wurde Anfang 1939 versteigert. Die Nachbarn waren bestürzt, man hatte die Familie als Nachbarn geschätzt. ( … ) Diese Familie hat Anfang 1939 nur eine Ausreisemöglichkeit nach Shanghai / China gefunden. Schon auf dem Schiff begegneten ihnen zum Glück Mitglieder der Siebenten-Tags-Adventisten. Sie waren dann in Shanghai ihre Lebensretter. Familie Wassermann kampierte anfangs in Parks in Shanghai. sie hungerten, suchten in chinesischen Mülleimern nach etwas Eßbarem. Es muß fürchterlich gewesen sein. Dort holten sie die Siebenten-Tags-Adventisten heraus und sorgten für eine Unterkunft und brachten sie über die Runde.“
Nach dem Krieg konnte die Familie in die USA ausreisen. Sie hatte sich den Siebenten-Tags-Adventisten angeschlossen.
Berta Wassermann, Witwe des 1932 gestorbenen Arthur Wassermann, war mit ihrem Sohn Kurt im August 1938 nach New York geflohen – noch bevor Julius und seine Familie entkamen.
Im Dezember 1940 starb mit Alfred Wassermann ein weiterer Bruder Thereses, auch er war mit einer christlichen Frau verheiratet gewesen. Die Witwe Mina Wassermann, geb. Weller blieb mit ihrer ‚halbjüdischen‘ evangelischen Tochter Lore Beta in Göppingen. Lore Beta suchte sich einen amerikanischen Ehepartner, sie heiratete 1949 Capt. E. Harris und folgte ihm in die Staaten.
Isaak Wassermann: ein Opfer der Krankenmorde
Das erste Mordopfer in der Göppinger Familie Wassermann war der 1888 geborene Isaak, der wegen einer psychischen Erkrankung in der Landesfürsorgeanstalt ‚Oberer Riedhof’ bei Ulm lebte. Vermutlich befand er sich vor seiner Aufnahme in diese Einrichtung in einer Heilanstalt (Psychiatrischen Klinik), wo er diagnostiziert und behandelt wurde. Offenbar war eine ausreichende Besserung nicht erreichbar, so dass Isaak als chronisch Kranker in den ‚Oberen Riedhof’ eingewiesen wurde. Die einzige überlieferte Erinnerung an ihn ist, dass er im ‚Oberen Riedhof’ den Spitznamen „Jud Süß“ hatte, eine unsinnige, antisemitisch gemeinte Anspielung an den jüdischen württembergischen Finanzberater Jud Süß Oppenheimer, der Ende des 18. Jahrhunderts nach einem unfairen Prozess hingerichtet wurde.
In diesem Spitznamen ist im Grund schon Isaak Wassermanns grauenvolles Ende vorweggenommen. Der ‚Obere Riedhof’, der ursprünglich eine christliche Einrichtung war, konnte der ideologischen ‚Gleichschaltung’ durch die Nazis nicht entrinnen. Ein unbeugsamer Mitarbeiter wies auf die Verfalls- und Verwahrlosungserscheinungen im sozialen Leben und im Umgang mit den Pfleglingen hin. Unheilbar Kranke sollten nicht mehr geschützt und gepflegt werden, sondern galten den Nazis als „Ballastexistenzen“, die zu erhalten dem „gesunden Volkskörper“ nicht zumutbar sei. Wie Tausende psychisch Kranke wurde auch Isaak in der Mordaktion getötet, die im verschleiernden Jargon der Nazis “Euthanasie“ genannt wurde. Sein Leben endete durch Gas in der Vernichtungsanstalt Grafeneck am 23. August 1940.
Die Schwester Lina Munz: eine KZ -Überlebende
Bedroht war auch das Leben von Thereses Schwester Lina (eigentlich: Berta Lina) Munz, die mit ihrem evangelischen Mann Emil zunächst in der Nördlichen Ringstr. 24 wohnte, wo ihr Schwager August Munz die Gaststätte ‚Liederhalle‘ betrieb.
Eine Freundin der Familie erinnerte sich: „Er wurde öfters aufgefordert, sich von seiner jüdischen Frau scheiden zu lassen. Er hat aber immer zu ihr gehalten. ( … ) Sie war eine Frohnatur, hat sich gegen so manche Vorschrift einfach gewehrt. Den Stern hat sie nicht getragen, wie mir ihre Nichte erzählte. Sie hatte immer Leute im Haus und in der Nachbarschaft, die ihr geholfen und zu ihr gehalten haben. Ihr Mann wurde vor ihr, wohl im Januar 1945, (tatsächlich aber schon am 20. Nov. 1944 – d. Verf.) in ein Arbeitslager nach Leimbach bei Eisleben gebracht. Grund: Die jüdische Ehefrau. Erst danach bekam auch sie (=Frau Munz , der Verf.) den Abwanderungsbefehl: Ich weiß noch, daß meine Hausfrau. ihrer Schwägerin eine warme Wolldecke mitgegeben hat. Sie kam nach Thersesienstadt, sie hatte die Überzeugung, daß sie wieder nach Hause kommen wird und hat auch anderen mit ihrer Zuversicht dort geholfen, durchzuhalten.“
Lina Munz schildert ihre Befreiung so: „Am 9. Mai 1945 wurden wir von den vorrückenden russischen Truppen befreit. Ein SS – Mann aus der Bewachungsmannschaft, der später in Österreich zum Tode verurteilt und gehenkt wurde, hat dem Schweizer Roten Kreuz gegenüber später ausgesagt, dass wir ab 10. Mai 1945 vergast werden sollen.“
Lina Munz blieb bis zu ihrem Tod im Jahr 1966 in Göppingen wohnhaft. Ihre Erinnerungen waren über lange Zeit die wichtigste Quelle, wenn man sich über die Verbrechen der Nazis in Göppingen informieren wollte. Sie war es auch, die den 18-jahrigen Richard Fleischer bei sich aufnahm, als er im Oktober 1945 nach vier Jahren der Folter und Zwangsarbeit wieder in seiner Geburtsstadt eingetroffen war (siehe sein Bericht im Anschluss an die Stolperstein-Biografie Irma und Julius Fleischer).
Thereses Deportation nach Izbica
Therese Wassermann wurde in der Deportation vom 26. April 1942 erfasst, als etwa 300 Jüdinnen und Juden von Stuttgart aus in das Lager Izbica bei Lublin in Polen deportiert wurden. Mit ihr wurden aus Göppingen das Ehepaar Oppenheimer, das Ehepaar Schwab mit ihrer 13 Monate alten Tochter Hannacha sowie die ledige Sofie Simon verschleppt.
Lina Munz schreibt, ihre Schwester betreffend: „Ich habe von derselben seit ihrem Abtransport aus Göppingen am 24.4.1942 kein Lebenszeichen mehr bekommen. Lediglich die bei dem gleichen Transport befindliche Frau Marianne Schwab, Ehefrau des Max Schwab, schrieb mir einmal von der Nähe Lublin aus eine Postkarte. Ich beantwortete diese Karte und fragte in derselben nach dem Ergehen meiner Schwester Therese. Seit der Zeit habe ich weder von Frau Schwab noch von meiner Schwester etwas gehört. Auch die in der Nachkriegszeit angestellten Nachforschungen und Suchmeldungen im Radio blieben ohne Erfolg.“
Nach dem Krieg kam es zu keiner Restitution zugunsten von Thereses Erben, denn die Beklagten konnten zweifelsfrei nachweisen, dass das fragliche Eigentum schon vor der NS – Zeit Therese Wassermann nicht mehr gehört hatte. Nur ein Schreiben von Lina Munz an den Landrat Erich Krauss ist überliefert, in dem sie bittet, ihr die Möbel ihrer Schwester zurück zu geben, die das Finanzamt nach deren Deportation beschlagnahmt hatte.
Weitere Mordopfer in der Familie
Außer Therese und Isaak Wassermann gab es noch weitere Mordopfer in der Familie, die meisten von ihnen lebten jedoch nicht in Göppingen:
Recha (Rosa) Frey, die als Pflegerin und Hausdame ihren Lebensunterhalt verdiente, wurde im August 1942 zunächst ins KZ Theresienstadt verbracht, aber schon Ende September des Jahre im Vernichtungslager Treblinka ermordet.
Johanna Frey, die zeitweise auch in Göppingen lebte, starb am 1. September 1942 an den mörderischen Lebensumständen im KZ Theresienstadt. Beide waren Halbschwestern von Therese und Isaaks Mutter.
Schrecklich wüteten die Nazis unter Thereses und Isaaks Cousins und Cousinen:
Joachim Wassermann und seine Frau Johanna, die in Frankfurt a. M. lebten, wurden 1942 ins KZ Theresienstadt deportiert. Johanna starb dort, ihr Ehemann wurde zwei Jahre später im Vernichtungslager Auschwitz ermordet.
Der ledige Cousin Alfred Wassermann, der noch in der Herkunftsgemeinde Aufhausen/Bopfingen lebte, starb im Lager Riga/Jungfernhof.
Adolf Wassermann lebte mit seiner Frau Elise und dem Sohn Julius und der Tochter Ruth in Bopfingen und Oberdorf am Ipf. Adolf, Elise und Julius wurden im Juli 1942 in Auschwitz ermordet, die Tochter Ruth überlebte die Haft im KZ Theresienstadt.
Bernhard Wassermann wurde von seinem Wohnort Magdeburg ins Ghetto Warschau deportiert wo er im April 1942 zu Tode kam.
Sein psychisch kranker Bruder Isaak Wassermann wurde wie der gleichnamige Göppinger Cousin im Jahr 1940 in Grafeneck ermordet.
Ida Wassermann hieß eine ledige Cousine, die auch in Aufhausen geblieben war. Von dort wurde sie im Dezember 1941 nach Riga/Jungfernhof deportiert und ermordet.
Gunter Demnig legte am 16. Mai 2014 die Stolpersteine für Isaak und Therese Wassermann vor dem Haus Kirchstraße 12. Die Ansprache für Therese Wassermann hielten Jordanos und Zara, Schülerinnen der Göppinger Hermann-Hesse-Realschule.
Aus der Familie Wassermann/Hilb waren Jim und Barbara Hilb aus den USA angereist und wirkten an der Zeremonie mit.
Die Stolperstein-Initiative bedankt sich bei Herrn Berner und dem Ehepaar Zoller für ihre Auskünfte. Die Fotos aus der Familie wurden uns freundlicherweise von Glenn Wassermann sowie Inge und Steven J. Junghans zur Verfügung gestellt, Nachfahren von Julius und Hedwig Wassermann.
(01.12.2022 kmr/fw)
I believe that my grandmother may have been a part of this Wasserman family. Can anyone contact me?
Her name was „emma wasserman“ born circa 1891. Mom was an only child (so she was led to believe). My mom just passed but I am still trying to solve the mystery.