Geislinger Str. 6

Wir wissen, dass Jenny Hirschhahn am 21. Dezember 1882 als Jenny Leopold in Krojanke / Westpreußen geboren wurde. Krojanke, heute das polnische Krajenka, damals an der Grenze von Westpreußen zu Pommern im Kreis Flatow gelegen, war eine kleine Stadt mit etwa 3500 Einwohnern, davon 320 jüdischen Glaubens. Zu ihnen gehörte Jennys Vater Samuel Leopold. Ihre Mutter Ida, geb. Neumann kam vielleicht aus einem christlichen Elternhaus, denn auf dem Göppinger Dokument zu Jenny Hirschhahn hatte ein Sachbearbeiter handschriftlich das Wort „Halbjüdin“ hinzugefügt.

Ebenfalls per Hand vermerkt wurde: „mit Rosinberg verwandt“. Diese Verbindung ist nahe liegend, denn Irma Rosinberg ist eine geborene ‚Hirschhahn‘ und der Name Hirschhahn ist sehr selten. Sucht man nach jüdischen Nazi-Opfern, die diesen Namen tragen, so stammen sie zumeist aus dem heutigen Nordrhein-Westfalen. Dort liegt auch der Duisburger Stadtteil Hamborn, wo Irma Rosinberg, geb. Hirschhahn zur Welt kam und dort fand sich auch der Hinweis, dass ein Sally (= Salomon) Hirschhahn im Jahr 1907 ein Manufakturwaren – Geschäft betrieben hatte. Ebendieser Sally Hirschhahn, geboren 1878 war Jennys Ehemann und Irma (geboren 1906) war die gemeinsame Tochter und blieb wahrscheinlich auch das einzige Kind des Paars. Die Familie scheint nur kurz in Hamborn gelebt zu haben, denn weder im Hamborner Adressbuch von 1903 noch in dem von 1910 ist ihr Name verzeichnet. Sehr wahrscheinlich ist das Ehepaar nach Breslau gezogen, wo Jennys Ehemann in den 1930er Jahren gestorben ist. In Breslau hatte Jennys Tochter Irma im Jahr 1929 Fritz Rosinberg aus Slonin/Litauen geheiratet und von Breslau aus zog auch die verwitwete Jenny Hirschhahn im Dezember 1938 nach Göppingen.

Zu ihrer Adresse Geislinger Str. 6 ist vermerkt: „Wohnungsgeber Frau Rosinberg.“ Ihren Beruf als Köchin konnte Jenny in Göppingen nicht mehr ausüben, wahrscheinlich konnte sie nur einen kleinen Teil ihrer Breslauer Wohnungseinrichtung mit nach Göppingen bringen. Allerdings bezeugte Berthold Auerbacher nach dem Krieg, dass Frau Hirschhahns Wohnung einen ‚gutbürgerlichen‘ Eindruck auf ihn gemacht hatte.

Eidesstatliche Versicherung Berthold Auerbachers (Quelle: Staatsarchiv Ludwigsburg)
Regina, Berthold und Inge Auerbacher (von links)

Das große Haus in der Geislinger Straße gehörte der Göppinger jüdischen Familie Dörzbacher und die Familie Rosinberg lebte dort nicht freiwillig. Sie war aus ihrer Wohnung in der Oberen Marktstraße vertrieben worden und musste dann ins ‚Judenhaus‘ in der Geislinger Straße ziehen.

Geislinger Straße 6 im früheren Zustand
Geislinger Straße 6 im heutigen Zustand

Hatte Jenny Hirschhahn vor, in Göppingen zu bleiben? Haben großmütterliche Gefühle sie nach Göppingen gezogen? Denn hier lebten ja ihre Enkelkinder Arnold und Heinz Rosinberg. Jennys älterer Bruder Sally Leopold war in der NS-Zeit mit seiner Familie von Breslau aus zunächst nach Shanghai geflüchtet, nach dem Krieg ließ er sich in Detroit / USA nieder.

Wie die Familie Rosinberg wurde auch die knapp 59-jährige Jenny Hirschhahn von der ersten und größten Deportation aus Göppingen erfasst. Am 28. November 1941 wurden 39 jüdische Menschen in der Göppinger Schillerschule zusammengetrieben und auf entwürdigende Weise durchsucht. Das nächste, weit schlimmere Lager erwartete sie auf dem Stuttgarter Killesberg, wo etwa tausend Jüdinnen und Juden in den Ausstellungshallen gefangen gehalten wurden, ohne dass für eine menschenwürdige Infrastruktur gesorgt worden war. Im ungeheizten Zug ging die Fahrt am 1. Dezember 1941 von Stuttgart aus drei Tage und vier Nächte lang nach Lettland, wo die gepeinigten Menschen bei Riga den Zug verlassen mussten. Hungrig und durstig stand ihnen noch der Marsch ins Lager Jungfernhof bevor, wo sie wieder völlig unzureichend untergebracht wurden und unter extremer Kälte leiden mussten. Wann und wie Jenny Hirschhahn dort gestorben ist, weiß man nicht. Wahrscheinlich wurde sie, wie die meisten der Lagerinsassen, am 26. / 27. März 1942 im nahe gelegenen Waldstück Bikernieki von Deutschen oder deren lettischen Hilfstruppen erschossen.

Am 19. September 2012 setzte Gunter Demnig einen Stolperstein dort, wo das damalige Haus Geislinger Straße 6 gestanden hatte. Zur Erinnerung an Jenny Hirschhahn und als Anklage ihrer Mörder.

(23.07.2023 kmr)