Spitalstr. 17
Berta Henles Erinnerung
In den 1960er Jahren verfasste die Göppingerin Berta Henle einen Text, dem sie die Überschrift gab: „Juden, die früher in Göppingen wohnten und mir bekannt waren.“ Dass sich Frau Henle diese kleine Mühe gemacht hat, zeichnet sie vor vielen ihrer Altersgenossen aus. Sie gliederte ihr Schreiben nach den Wohnadressen und so stößt man auf die Wühlestraße, zu der ihr einfiel: „Scheune gegenüber von Gösele war der Viehstall für den Viehhändler Hirsch. (Wohnung ebenfalls Wühlestraße). Ihm wurden seine Tochter und Sohn ins KZ abgeholt. Der alte Mann weinte sehr, es war ihm furchtbar. Ob sie ihn auch noch holten, weiß ich nicht.“
Lange war es offen, ob sich Frau Henles Erinnerungen mit den überlieferten Daten decken würden. So hat Frau Henle im wesentlichen recht; die historische Wirklichkeit ist aber noch grausamer, da weitere Familienmitglieder und Max Hirsch selbst von den Nazis ermordet worden sind.
Max – eingeheiratet in Göppingens ‚Alte Mitte‘
Max Hirsch wurde am 30.8.1859 als ‚Michael’ Hirsch in Haigerloch geboren, als siebtes von neun Geschwistern. Drei von ihnen wanderten nach Amerika aus, drei starben im Kindesalter, Michael und seine Schwester Helene zogen nach Göppingen. Mit dem Umzug dürfte er auch seinen Vornamen gewechselt haben, jedenfalls heiratete er als ‚Max’ Hirsch im Jahr 1885 die 22-jährige Ida Bauland. Idas Vater Mayer Bauland hatte Mitte des 19. Jahrhunderts das Haus Spitalstraße 17 erworben, das nach dem Stadtbrand von 1783 erbaut worden war.
Wenn oben von Wühlestraße die Rede ist: Der Straßenname wechselte zwischen Spital- und Wühlestraße. Max dürfte als Schwiegersohn schon deshalb willkommen gewesen sein, weil er den Viehhandel, den sein betagter Schwiegervater betrieben hatte, weiterführen konnte. Vierzig Jahre lang sollte er dieses Gewerbe ausüben. Als Ruheständler engagierte sich Max Hirsch im Vorstand des Israelitischen Wohltätigkeitsverein Göppingens, schon zuvor betätigte er sich als Stellvertretender Vorbeter in der Göppinger Synagoge.
Zu seinem 70. Geburtstag wurde er im ‚Israelitischen Wochenblatt Nr. 1/2 1929‘ gewürdigt:
„Am 30. August feierte Max Hirsch in voller Gesundheit seinen 70. Geburtstag, ein Ereignis an dem die Gemeinde freudigen Anteil nahm. Zählt doch Max Hirsch zu denjenigen Gemeindemitgliedern, die stets bereit sind, wenn es gilt, etwas für die Gemeinde zu tun. Jahrelang hat er am Jaum Kippur vorgebetet, und auch sonst ist er immer freudig zur Stelle, um den Vorbeter zu vertreten. Im Anschluß an den Sabbath – Gottesdienst begaben sich die Mitglieder des Isr. Vorsteheramtes in die Wohnung des Jubilars, um ihm und seiner Familie noch ganz besonders zu gratulieren ( … ) Mögen dem Jubilar noch recht viele gesegnete Jahre beschieden sein.“
Während ihrer 45jährigen Ehe bekamen Ida und Max neun Kinder, von denen nach 1945 nur noch zwei am Leben sein sollten.
Zwei Söhne starben als Säuglinge, der Sohn Milton fiel 1914 als deutscher Soldat im Ersten Weltkrieg, an dem übrigens auch die Söhne Hermann und Karl teilgenommen hatten. Ein weiterer Sohn, Julius, war schon mit 26 Jahren gestorben. ‚Normales‘ Leid jener Zeit war der Familie also nicht fremd.
Erfreulich: Zwei seiner Kinder heirateten: Paula hatte in erster Ehe Moritz Fuchs, einen Pferdehändler aus Buttenwiesen geheiratet, der ebenfalls als Soldat im Ersten Weltkrieg starb.
Aus dieser Ehe stammte die Tochter Karolina. In zweiter Ehe heiratete Paula den Augsburger Kaufmann Hermann Mendle, Irene hieß das gemeinsame Kind der Mendles, die sich in Stuttgart niederließen.
Das zunächst wohlhabende Ehepaar Mendle sorgte dafür, dass ihre Töchter in der Nazi-Zeit Sicherheit fanden, Irene in England, Karolina in den USA.
Die Tochter Julie indessen zögerte; ihr Auserwählter war der Kaufmann Moritz Hanauer aus Westheim. Moritz wohnte in Göppingen (allein?) in der Geislingerstraße. 18. Was hielt die beiden ab, sich in Göppingen zu vermählen? Erst nach der – nicht gemeinsamen – Flucht in die USA sollte es im Mai 1941 zu einer Ehe kommen, die übrigens kinderlos blieb.
Einige Fotos geben das alltägliche und das festliche Leben der Familie wieder. Man sieht den seit 1934 verwitweten Max Hirsch zusammen mit seinen Kindern, seinem Schwiegersohn, seinen Enkeln. Ein gewisses Abbild vom bürgerlichen Lebensstil der Hirschs ergibt sich aus der Liste des Hausrats, die im Zuge des Entschädigungsverfahrens aufgestellt wurde. Neben ‚wunderbarer Cristallschalen & Platten‘ oder einem ‚Schlafzimmer aus poliertem Kirschbaum‘ finden sich: ‚1 grosser Bücherschrank, enthalten: Schillers Werke, Göthe Werke, Werke sonstiger Schriftsteller, Heine, Uhland und bestimmt mehr wie 100 sonstige gute Bücher außerdem soundsoviele Bände von Meyers Konversations–Lexikon‘. Man möchte dem alten Herrn einen guten Lebensabend wünschen, nach allem Leid, das er schon erleben musste. Aber 1933 wurden die Nazis an die Macht gebracht und Max Hirsch war Jude …
Boykott-Aktion und KZ-Haft der Söhne Karl und Hermann
Über den Auftakt der NS-Verbrechen schrieb Max Hirschs Tochter Julie Hanauer 1966 an Georg Weber: „Vor dem Geschäft meines Bruders Karl Hirsch, Göppingen Spitalstr.17, wurde am 1. April 1933 auch Wache gestanden, was schon der Anfang zum schlechten Geschäftsgang war.“ Mit ‚Wache‘ meinte Frau Hanauer die SA-Posten, die an diesem Tag die ‚jüdischen‘ Geschäfte belagerten und die Kunden vom Einkauf abhielten.
Weiter schrieb sie: „Beim Synagogenbrand war ich schon hier [in den USA – kmr], man erzählte mir, dass durch das Fenster in die Wohnung geschossen wurde. Meine beiden Brüder sowie mein Mann waren in Dachau. Sie kamen Gott sei Dank wieder zurück, mein älterer Bruder (Hermann – kmr) wurde dort geschlagen, ist bald darauf an einem Gehirnschlag mit 53 Jahren gestorben. Mein jüngerer Bruder [Karl – kmr] hatte so gelitten, hauptsächlich deshalb, dass er den alten Vater zurücklassen musste, dass er sehr herzkrank wurde.“
Karl und Hermann Hirsch gehörten zu den insgesamt 27 Göppinger Männern, die zwei Tage nach der Pogromnacht ins KZ Dachau verbracht wurden. Karl wurde bis zum 20. Dezember 1938 im Lager festgehalten, Hermann bis zum 12. Dezember. Zwar lässt die genannte Todesursache ‚Gehirnschlag‘ keinen direkten Rückschluss zu, die Stolperstein-Initiative folgt aber der Aussage der Schwester und sieht Hermann Hirschs Tod im Zusammenhang mit den KZ – Torturen, die er ertragen musste. Hermann Hirsch war ledig geblieben und hatte als selbständiger Kaufmann gearbeitet. Er starb am 22. Juli 1939 53-jährig ohne Nachkommen.
Wie Julie Hanauer schreibt, wurde auch ihr Geliebter Moritz Hanauer nach der Pogromnacht ins KZ Dachau verschleppt. Die Umstände sind allerdings unübersichtlich, denn Moritz Hanauer war schon im April 1938 nach Stuttgart verzogen und wohnte dort in der Tulpenstr. 27. Julie war schon im September 1937 alleine in die USA geflüchtet. Wurde Moritz von Stuttgart aus erfasst oder befand er sich gerade zu Besuch in Göppingen und wurde von hier aus ins KZ Dachau verbracht, wo er bis zum 12. Dezember 1938 inhaftiert war?
Das Schicksal der Töchter Elsa, Julie und Paula
Zum Zeitpunkt von Hermanns Tods wohnte seine Schwester Julie Hanauer, geb. Hirsch schon in New York, wohin sie im September 1937 alleine geflohen war – „weil mich der Nationalismus angeekelt hat“, wie sie später schrieb. Ihrem Ehemann, Moritz Hanauer gelang ebenfalls die Flucht, allerdings erst im März 1941. Über die Stationen Berlin und Portugal kam er schließlich zu seiner Frau in die USA. Julie konnte für ihren Bruder Karl bürgen und ermöglichte ihm noch 1941 die Flucht in die USA, was ihm das Leben rettete – wie man oben lesen kann, ein Leben aber in Gram über des Vaters Tod.
Ein Klassenfoto aus der Höheren Töchterschule weist darauf hin, dass Ida und Max Hirsch zumindest ihren Zwillingstöchtern Julie und Elsa eine gute Bildung hatten zukommen lassen. Beide lernten einen Beruf, in dem sie später auch arbeiteten: Julie seit 1916 mit Unterbrechung bis 1937 als Sekretärin in der Papierfabrik Fleischer in Eislingen, Elsa, gelernte Kaufmännische Angestellte seit 1914 als Stenotypistin bei der Firma Gutmann in Göppingen. Aber auch die älteste Tochter Pauline wurde nicht vergessen: Sie lernte den Beruf einer Buchhalterin.In der NS – Zeit. Im Jahr 1939 verlor Elsa Hirsch aber ihre Anstellung, allein weil sie Jüdin war.
Elsa ist diejenige Tochter in Göppingen, die, wie Frau Henle schrieb, „ins KZ abgeholt wurde“. Sie gehörte zu der Gruppe Göppinger Bürgerinnen und Bürger, die am 28. November 1941 verhaftet und am 1. Dezember von Stuttgart nach Riga deportiert und im Lager Jungfernhof unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten wurden. Bis auf Richard Fleischer wurden alle aus dieser Gruppe ermordet, die meisten wurden Ende März 1942 im Wald von Bikernieki erschossen.
Max Hirsch verlor noch ein weiteres Kind durch die Gewalt des NS-Regimes, nämlich seine älteste Tochter Paula. Hermann und Paula Mendle, geb. Hirsch wurden von Stuttgart aus nach Riga deportiert; Paula wurde dort, wie ihre Schwester Elsa vermutlich im März 1942 erschossen, Hermann Mendle starb im Lager Salaspils bei Riga an Typhus.
Hatte der alte Max Hirsch noch erfahren, dass mit Paula ein drittes seiner Kinder ermordet wurde?
Im September 1941 bekam Max Hirsch Zuzug: Die 62- jährige Elise Bensinger, eine Nichte seiner verstorbenen Frau zog nach Göppingen und kam bei ihm in der Spitalstraße 17 unter. Von diesem Zeitpunkt an wohnten auch Mitglieder der Familie Katz, die aus dem pfälzischen Rodalben stammte, unter seinem Dach.
Heimatlos und verzweifelt
Am 1.12.1941 verkaufte Herr Hirsch sein Haus an Frida und Matthäus Feuerbacher. Der Kaufvertrag zeigt, dass die ‚arischen‘ Käufer mit Herrn Hirsch einen einigermaßen anständigen Kaufpreis ausgehandelt hatten. Man muss sich freilich vergegenwärtigen, dass zu diesem Zeitpunkt ein jüdischer Verhandlungspartner immer unter Zwang stand. Bis zum erwarteten Auszug von Max Hirsch wurde ihm ein Wohnrecht gegen Miete zugestanden, das auch die Untermieter, die Familie Katz mit einschloss. Der Kauferlös kam freilich nicht dem jüdischen Verkäufer zu gute, denn der deutsche Staat sicherte sich (= stahl) das Geld auf einem Sperrkonto. Auch vom gewährten Wohnrecht hatte Max Hirsch so gut wie nichts, denn schon am 4. März 1942 musste er ins jüdische Zwangsaltenheim Eschenau bei Heilbronn übersiedeln, wohin auch seine Schwester Helene Simon gebracht wurde. Über das Zwischenlager am Stuttgarter Killesberg wurden die betagten Geschwister am 22. August ins KZ Theresienstadt deportiert. Inge Auerbacher, die mit ihren Eltern und weiteren Göppingern im gleichen Transport nach Theresienstadt kam, schreibt in ihrem Buch ‚Ich bin ein Stern‘:
„Einige Tage nach unserer Ankunft in Theresienstadt sah mein Vater einen Mann, der aus einer Dachluke der Dresdner Kaserne springen wollte. Papa gelang es, ihn an den Beinen zu packen und zurückzuziehen. Zu seiner Überraschung handelte es sich um einen alten Mann aus unserem Transport. Papa redete ihm ermutigend zu und nahm ihm das Versprechen ab, dies nicht wieder zu tun. Am nächsten Morgen lag ein zerschmetterter Körper leblos im Hof der Kaserne. Es war der alte Mann.“
Aufgrund der Sterbeurkunde aus dem KZ Theresienstadt ist es möglich, dass Max Hirsch gemeint war, der auf diese Weise am 29. August 1942 sein Leben beendete.
Das zynische ‚Nachwort‘ auf das Leben des Max Hirsch soll das Finanzamt Heilbronn haben:
“ 22.4.1943. Der Jude Max Israel Hirsch, früher in Eschenau Str.23/ 451 wurde im Kalenderjahr 1942 ausgebürgert und aus dem Reich abgeschoben. Sein Vermögen wurde eingezogen. Rechtsnachfolger ist das Reich geworden. Das Soll an Einkommenssteuer für 1942 wird auf 166,- RM festgesetzt.“
Die einzige Zeitzeugin, die sich 2011 noch an Max Hirsch erinnern konnte, war Frau Adomeit (✝), die in der Nachbarschaft einen Bäckerladen betrieben hatte. Herrn Hirsch habe bei ihr „morgens immer seine Weckle gekauft“. Sie war sogar Zeugin, als Herr Hirsch aus seiner Wohnung ‚abgeholt‘ wurde.
Max Hirschs einziger überlebender Sohn Karl starb ledig 1959 mit 65 Jahren in New York, wo er sich als Aufzugsführer durchgeschlagen hatte. Vor seiner Flucht hatte Karl im elterlichen Haus einen Vertrieb für Futterstoffe betrieben.
In den 1970er-Jahren besuchte Max Hirschs Tochter Julie Hanauer ihre Heimatstadt, wo sie gute Beziehungen zur Nachbarsfamilie Eisele/Neher pflegte. Hoch betagt mit 92 Jahren und ohne Nachkommen starb sie 1990 in New York, wo ihr Ehemann Moritz schon im Oktober 1965 verstorben war.
Max Hirschs Enkelinnen, also Pauline Mendles Töchter Karolina und Irene hatten ihrerseits Nachkommen, so dass heute jeweils zwei Urenkel in England und in den USA leben. Kontakt besteht mit Frau Elaine Israel und mit Frau Judith Ward, denen wir viele Fotos aus der Familie Hirsch verdanken. Unser Dank gilt auch Herrn Roland Eisele für die Familienerinnerungen und das Nachbarschafts-Foto. Frau Natalie Levinson, Urenkelin von Max Hirschs Bruder Hermann ließ uns freundlicherweise das Foto vom Familientreffen 1926 zukommen, auch ihr sei herzlich gedankt.
Von seinen Kindern abgesehen wurden aus Max Hirschs naher Verwandtschaft ermordet: Seine Schwester Helene Simon und deren Tochter Sofie Simon sowie die Nichte seiner Frau, Elise Bensinger, und ihre Neffen Josef Stern und Milton Bauland.
Gunter Demnig legte die Stolpersteine für Elsa, Hermann und Max Hirsch am 19. September 2012. Elaine Israel, Judith Ward und ihre Tochter Hannah Lovell waren angereist und begleiteten die Zeremonie.
Max Hirschs Haus in der Spitalstraße 17 wurde im Jahr 2018 leider abgerissen und durch einen Neubau ersetzt. Damit verschwand auch ein Zeugnis der jüngeren Geschichte Göppingens.
Am 15. März 2023 wurden in Stuttgart, Frühlingshalde 8 die Stolpersteine für Paula Mendle, geb. Hirsch und Hermann Mendle gelegt.
(14.11.2023 kmr)
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