Lutherstr. 11
Früh auf eigenen Füßen
Rosa wurde als Rosa Goldstein am 21. Januar 1874 in Göppingen geboren. Ihre Eltern waren Martin Goldstein und Sofie, geb. Fleischer. Die Mutter starb früh, 37- jährig, da war Rosa gerade erst 14 Jahre alt. Auch der Vater, der bis 1881 ein Herrenbekleidungsgeschäft in Göppingen betrieben hatte, dürfte bald aus ihrem Leben verschwunden sein. Auf Rosas Heiratsurkunde von 1904 liest man über ihn: „ … mit unbekanntem Aufenthaltsort abwesend, zuletzt in Köln am Rhein.“ Wie wir aber ermitteln konnten, war Martin Goldstein nach England ausgewandert, wo er noch zwei Mal mit neuen Partnerinnen Familien gründete und bis ins Jahr 1928 lebte.
Rosa hatte sechs Geschwister, von denen drei schon als Säuglinge starben. Vermutlich hatte Martin Goldstein seine Göppinger Familie mehr oder weniger mittellos zurück gelassen und womöglich war das der Grund, dass seine Töchter einen Beruf erlernten, der ihnen eine unabhängige Existenz ermöglichte. Im Jahr 1894 begann Rosa in Frankfurt a. M. an der bekannten und anspruchsvollen jüdischen Krankenpflegeschule eine Ausbildung zur Krankenpflegerin. Nach erfolgreichem Abschluss arbeitete sie als Angestellte des ‚Verein für jüdische Krankenpflegerinnen‘ in Frankfurt. Das Institut beschäftigte ledige jüdische Krankenschwestern, die für damalige Verhältnisse gut bezahlt wurden, so dass ihnen ein auch wirtschaftlich selbstständiges Leben möglich war. Vermutlich im Jahr 1902 übertrug der Verein für jüdische Krankenpflegerinnen seiner ‚Armenschwester‘ Rosa Goldstein die Leitung der Kostkinderkommission.
Warum und wann genau Rosa wieder nach Göppingen gezogen ist, lässt sich nicht ermitteln, vor der Ehe wohnte sie jedenfalls in der Nördlichen Ringstraße 33 bei der Familie ihres Onkels Samuel Fleischer. Von der Seite Ihrer Mutter her lebte in Göppingen eine große Verwandtschaft. Silvia Hurst, geb. Fleischer wusste aus der Familiengeschichte, dass Samuel Fleischer Rosa mit ihrem künftigen Mann bekannt gemacht hat, mit dem Ergebnis, dass Rosa im November 1904 den acht Jahre älteren Leopold Fleischer heiratete, einen entfernten Verwandten. (Urgroßeltern von Leopold sind zugleich Ur – Urgroßeltern von Rosa.) Das Paar ließ sich in Cannstatt nieder, wo Leopold als Prokurist bei der ‚Mechanischen Gurten – und Bandweberei Gutmann und Marx‘ angestellt war, einem Unternehmen, das übrigens zunächst in Göppingen gegründet worden war.
Als Ehefrau und Mutter
Drei Kinder kamen zur Welt: Edgar Siegfried 1906, Sofie Gabriele 1909 und als Nachzüglerin Elsbeth Beate 1918. Mit der wachsenden Familie wurde auch mehrfach die Wohnung gewechselt, die längste Zeit, von 1915-1937 wohnte die Familie in der Moltkestr. 29 (heute: Sodenerstraße) in Cannstatt.
Die Bedrohung, die von der NS – Diktatur ausging, dürfte in der Familie früh erkannt worden sein: Der Sohn Edgar verließ Deutschland im Jahr 1934 und floh nach Peru, wo er aber schon 1937 bei einem Flugzeugabsturz auf dem Weg zu seiner Braut ums Leben kam. Die Tochter Sofie Gabriele flüchtete 1936 zunächst nach Italien, Anfang 1939 von dort nach England. Im September 1939 floh Rosas jüngste Tochter Elsbeth mit ihrem Mann Richard Frankfurter und Rosas erstem Enkelkind Edith ebenfalls nach Peru. Rosas Ehepartner Leopold war schon im Oktober 1938 gestorben. Im Nachruf wird er als „ … treuer Begleiter, als hilfsbereiter, tröstender Leidensgefährte seiner seit vielen Jahren schwer leidenden Gattin …“ beschrieben. Das Leiden, das hier angesprochen wird, war eine Zuckerkrankheit, die schlimme Folgen mit sich zog, vor allem die Erblindung Rosa Fleischers.
Im Altersheim
Schon zu Lebzeiten ihres Manns hatte sich das Ehepaar erfolgreich um einen Platz im Jüdischen Altenheim ‚Wilhelmsruhe‘ in Sontheim bei Heilbronn bemüht. Nach Leopolds Tod kam es zu einen anderen Konstellation. Rosas Schwiegersohn Richard Frankfurter schreibt in einem Brief vom 07.11.1938: „Elsbeth ist in Cannstatt bei ihrer Mutter. Diese kommt jetzt wahrscheinlich zusammen mit ihrer blinden Schwester, z. Zt. Friedrichshafen und der gesunden Tante Emilie aus Bonn als Pflegerin, nach Sontheim. Es ist dies eine Regelung, die für alle 3 als glücklich bezeichnet werden kann.“
Bei der erwähnten, ebenfalls blinden Schwester handelt es sich um die ältere Schwester Julie, die ledig geblieben war. Aus einem späteren Brief Richard Frankfurters erfährt man, dass er 5000,- RM zahlen musste, um seiner Tante den Heimplatz zu verschaffen. Die Wohn- und Lebensverhältnisse waren freilich schon längst unter das ursprüngliche gute Niveau gedrückt worden, so mussten sich auf Anordnung der Nazis mehr als doppelt so viele Menschen die Räume teilen als vor der NS – Zeit. Schon im November 1940 wurde das Altersheim von den Nazis geschlossen und die letzten jüdischen Bewohner vertrieben.
Kurze Rückkehr nach Göppingen
Die ältere Schwester Julie war schon im Mai 1940 in Sontheim verstorben und Rosa und Emilie zogen zurück in ihre Geburtsstadt Göppingen, wo ja noch Verwandtschaft lebte. Hier, im Haus Lutherstraße 11 wurden sie von Hedwig und Sigmund Frankfurter freundlich aufgenommen, den Schwiegereltern von Rosas Tochter Elsbeth. In einem Brief vom 2.1.1940 schreibt Hedwig Frankfurter über Rosa: „ Die arme Mutter ist blind und zuckerkrank, also kann man ihr nicht genug Liebes tun.“ In einem Brief vom 24.1.1941: „ Mutter Rosa ist körperlich recht wohl. Sie ist seit kurzem viel im Garten und das bekommt ihr gut. Über unser Unglück spricht sie nicht viel, aber man merkt ihr doch an, daß sie sehr leidet“.
Das angesprochene Unglück war ein Autounfall, bei dem Rosas jüngste Tochter Elsbeth Frankfurter im peruanischen Exil ums Leben kam. Damit verlor auch Rosas 1938 geborenes Enkelkind Edith seine Mutter. Innerhalb von vier Jahren hatte Rosa Fleischer also den Tod ihres Mannes und den von zwei ihrer erwachsenen Kinder erleben müssen, wobei sie nach außen hin erstaunlich gefasst blieb, wie mehrere Aussagen bekräftigen. Aus dem relativen Schutzraum in der Lutherstraße wurden Rosa und ihre Schwester Emilie Goldstein aber schon bald vertrieben und mussten ins Altenheim in Herrlingen ziehen, wo die jüdischen Bewohner beengt untergebracht waren. Hedwig Frankfurter schreibt am 15.9.1941:
„Gestern haben wir den Besuch bei Mutter Rosa gemacht und große Freude hervorgerufen. ( … ) Es geht ihnen gesundheitlich gut und ihre bewundernswerte Ruhe läßt sie über alles leichter hinwegkommen. Sie ist nett untergebracht, das Haus ist gut geführt und liebevolle Menschen suchen sich gegenseitig das Leben zu erleichtern. Das Zimmer ist sehr klein, gerade dass das Nötigste hineingeht, hat aber fliessendes Wasser und Heizung.“
Über Rosas Leben, den Ängsten und den Hoffnungen gibt der Brief vom 22.11.1941 Auskunft, der hier zu lesen ist.
Zwangsaltenheime
Dass dieses ‚Heim‘ und erst recht das nächste nur Stationen auf dem Weg in den Tod waren, wird in einem Brief Hedwig Frankfurters vom 8.5.1942 angedeutet: „Für Mutter Rosa wird die Nachricht (= Neuvermählung des Schwiegersohns Richard Frankfurter.- kmr.) wieder alte Wunden aufreißen, trotzdem auch sie diesen Entschluß Richard’s gewünscht hat. Sie und ihre Schwester müssen demnächst ihr Heim in H. (= Herrlingen – kmr) verlassen, um in die Nähe von Aalen überzusiedeln, was für die kranke blinde Frau eine schlimme Veränderung bedeutet.“
Der neue Deportationsort war das Schloss Oberstotzingen wo alte jüdische Menschen vor allem aus dem Ulmer Raum zwangsweise wohnen mussten. Dem ungeachtet plünderte die NS – Verwaltung die alten Bewohner auch noch finanziell aus, indem sie gezwungen wurden, sich den ‚Heimplatz‘ zu erkaufen. Aus einem Dokument dieser ‚Heimeinkaufsverträge‘ geht hervor, dass von Rosa Fleischer 6500 Reichsmark gefordert wurden, von denen sie 5680 RM bis zu ihrer Deportation nach Theresienstadt gezahlt hatte. Den Abtransport der Bewohner des Oberstotzinger Schlosses hat der Ulmer Archivar Ulrich Seemüller recherchiert: ‚
„Ab Dienstagabend, dem 18. August 1942, mussten sich die Juden zum Abtransport vom Oberstotzinger Schloss bereithalten. ( … ) Noch vor Anbruch des neuen Tages erfolgte die Räumung des Altersheims. Die eine Hälfte der Bewohner musste bis 5.19 Uhr an der Bahnstation Niederstotzingen bereitstehen und wurde deshalb frühmorgens bei Dunkelheit mit landwirtschaftlichen Fuhrwerken, Pferdegespannen und Viehkarren von Dorfbewohnern auf der schlechten, ungeteerten Straße nach Niederstotzingen gefahren. Der Oberstotzinger Ortsvorsteher Josef Groll erinnert sich nach über 50 Jahren noch an diese Nacht: „Die Juden waren sehr verzweifelt und der Abtransport ging keineswegs so still und unbemerkt vonstatten, wie es sich die Gestapo wohl gewünscht hätte. Ihr Jammern und Wehklagen ging mir durch Mark und Bein. Noch heute habe ich das Schreien der alten Leute in den Ohren und kann es wohl nie mehr vergessen“. Offensichtlich ahnten die Altersheiminsassen, was sie erwartete.“
Ermordet in der ‚Stadt, die der Führer den Juden schenkte‘.
Am 22. August traf Rosa Fleischer im KZ Theresienstadt ein. Sie lebte dort nur knapp vier Monate und starb an den tödlichen Haftbedingungen (Hunger, Kälte, mangelhafte medizinische Betreuung) am 12. Dezember 1942. Ihre Schwester Emilie überlebte die Jahre im KZ Theresienstadt, wurde aber in Auschwitz ermordet. (Siehe Stolperstein – Biografie). Aus der Familie mütterlicherseits wurden Rosas Cousins Bernhard, Julius und Arthur Fleischer ermordet, die Cousine Pauline Guggenheim flüchtete in den Tod. Auf die gleiche Weise endete das Leben von Otto Goldstein, ihrem Cousin väterlicherseits.
Rosas einziges sie überlebendes Kind, die Tochter Sofie Gabriele Fleischer wohnte bis zu ihrem Tod 1992 in London. In der Nähe von London lebte auch Sofies 1951 geborener Sohn Edgar Fleischer, der 2023 gestorben ist. Rosas Enkelin Edith Neisser, geb. Frankfurter lebt weiterhin in Peru und hat ihrerseits zwei Söhne und sechs Enkelkinder.
Am 25.November 2011 legte Gunter Demnig zum Andenken an Rosa Fleischer einen Stolperstein vor dem Haus Lutherstraße 11.
Wir danken Frau Adler, Frau Johnson, Frau Neisser und Herrn Fleischer (✝) für die Informationen und Fotos.
Stammbaum Leopold und Rosa Fleischer
(09.09.2024 kmr)
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