Grabenstraße 18
Spitalstraße 17
Gerhard Katz: Um die Kindheit betrogen
Acht fröhliche Kinder schauen in die Kamera von Berthold Auerbacher, dem Vater Inge Auerbachers, die an ihrer gestreiften Mütze zu erkennen ist. Nach längerer Recherche gelang es, alle abgebildeten Kinder zu benennen, und damit wurde auch das bislang einzige Foto von Gerhard Katz gefunden: Er ist der größere Junge in der ersten Reihe rechts. Das Foto dürfte im Winter 1940/41 aufgenommen worden sein; sieben der acht Kinder hatten noch knapp ein Jahr zu leben …
Gerhard Katz, geboren am 26.06. 1933, wohnte seit September 1939 mit seiner Mutter Rosa Katz in Göppingen und zwar in der Spitalstraße 17 im Haus von Max Hirsch.
Konnte es der alleinerziehenden Frau gelingen, ihren Sohn von den Bedrängnissen der Nazi-Zeit abzuschirmen? Ein „normales“ Kinderleben mit Schulbesuch, Freibad-Vergnügen und Maientags–Freuden [= Göppinger Heimat- und Kinderfest] war jüdischen Kindern längst verwehrt. Den Kindern auf dem Foto blieb nichts anderes übrig, als sich, möglichst unauffällig, untereinander zu treffen – so dürfte auch das Kinderfoto entstanden sein. Inge Auerbacher, die sich noch an Gerhard erinnert, ist sich sicher, dass er nicht wie sie die beschwerliche Reise in die jüdische Schule in Stuttgart antreten musste.
Gerhard Katz wurde in einem Dokument als „Halbjude“ bezeichnet. Wusste er von seinem Vater? Wusste sein Vater von ihm? Er hinterlässt keine einzige Spur in den eingesehenen Dokumenten.
Die pfälzische Metzgerfamilie Katz
Gerhards Familie stammte aus der südwestpfälzischen Kleinstadt Rodalben. Hier lebten seine Großeltern Wilhelm Katz, geb. 1872 und Johannette, geb. Frank, die 1874 geboren wurde. Deren Kinder waren Ludwig, geb. 1900, Emil, geb.1904, der schon im Jahr 1924 starb, Rosa, geb. 1905, Friedrich (Fritz), geb. 1906 und Herbert, geb. 1909.
Wilhelm Katz betrieb in Rodalben mit seinen Söhnen Fritz und Herbert eine Metzgerei – in der dritten Generation übrigens. Der Familie gehörte auch das Haus, in der sich der Laden befand. Im Ort sollen die übrigens nicht-koscheren Wurstprodukte sehr geschätzt worden sein. Dazu aus der Erinnerung einer Verwandten zitiert: „Aber wenn der Fußballverein gewonnen hat, gab’s die beste Wurst. Wenn der Verein verloren hat, dann war er [= Wilhelm] krank, lag im Nebenzimmer mit der Heizung an und hustete“.
Wilhelm Katz dürfte etwas Kauziges an sich gehabt haben, gepaart mit freundlicher Großzügigkeit. Selbst in der Zeit größter wirtschaftlicher Not und politischer Bedrängnis gab es in der Katz’schen Metzgerei immer ein „Wursträdle“ für die Kinder. Seine Hilfsbereitschaft und die vergiftete Stimmung im Ort zeigte sich an einer Begebenheit aus dem Jahr 1936: Vor der Metzgerei war eine Bushaltestelle und Herr Katz sah, wie eine Bekannte stehend schon lange auf den Bus wartete. Um ihre Bequemlichkeit besorgt, holte er einen Stuhl aus dem Haus und bot ihn der dankbaren Frau für die Wartezeit an. Als sie wohlgemut am Abend zurückkehrte, wurde sie von ihrem entsetzten Mann, einem Lehrer empfangen: Welch ein Skandal, sie hatte sich auf den Stuhl eines Juden gesetzt und war deswegen angezeigt worden!
Juden generell, die Familie Katz im Besonderen, wurde im Pfälzer Nazi-Hetzblatt „Der Eisenhammer“ angefeindet. In einer 1926 (!) erschienen Ausgabe liest man unter der Überschrift „Der Sittenmetzger Katz“:
„Zurzeit predigt der ‚Fachmann‘ erneut freie Liebe, ergeht sich in frecher Weise über die Sitten deutscher Mädchen und hält die Abtreibung der Leibesfrucht für absolut ‚unsündhaft‘. Jetzt wissen wir auch, warum es hier noch ‚anständige‘ Frauen und Mädchen genug gibt, für die die Judenmetze einen Anziehungspunkt darstellt.“
Welches männliche Mitglied der Familie Katz die emanzipatorischen Standpunkte vertrat, geht aus dem Text nicht hervor, es dürfte sich aber um einen der älteren Söhne gehandelt haben. Auf die unverschämte Unterstellung, bei Katz würden Abtreibungen vorgenommen, soll nicht eingegangen werden.
Herbert: ein Kraftsportler
Herbert, der jüngste Sohn von Wilhelm und Johannette Katz, war im Ort als Athlet bekannt, denn er war Mitglied im örtlichen Schwergewichtsverein und sogar „Südwestmeister“ im Gewichtheben. Einmal soll er zum Spaß das Auto des Arztes am angetriebenen Ende hoch gehoben und ihn so eine Weile am Wegfahren gehindert haben.
Ob Herberts Mutter, Johannette Katz, geborene Frank die Aktionen ihrer „Männer“ immer für gut befunden hat? In der Verwandtschaft wurde sie als orthodox erinnert, auf jeden Fall aber war sie als herzensgute Seele bekannt.
Anfang 1936 verkaufte die Familie Katz das Wohnhaus mit der Metzgerei, wobei der neue Eigentümer ihnen mietfrei ein Wohnrecht bis Ende des Jahres einräumte und auch nach dieser Frist sollte die Familie gegen Miete ein Stockwerk nutzen können. Aussagen in den Restitutionsakten deuten aber an, dass diese Abmachungen nicht eingehalten wurden und dass Druck ausgeübt wurde, um die Familie Katz aus dem Haus zu treiben.
Pogromnacht in Pirmasens, Ausweisung
Seit April 1937 hatten Johannette, Wilhelm, Fritz, Herbert, Rosa und Gerhard eine gemeinsame Adresse in Pirmasens. Im gleichen Jahr wanderte der Sohn Ludwig, der in Rodalben geblieben war, mit seiner Frau nach Philadelphia/USA aus, wo er als Einziger in der engeren Familie die Nazi-Zeit überleben sollte.
In Pirmasens erlebte die Familie den Horror der Pogromnacht, in der Fritz Katz verhaftet und am 12. November 1938 ins KZ Dachau verbracht wurde, wo er ungewöhnlich lang, nämlich bis zum 10. Februar 1939 in Haft war. Wilhelm Katz wurde wohl aufgrund seines Alters verschont. Herbert hatte wohl das Glück, gerade auf Reisen zu sein, denn er taucht in der Lagerliste des KZ Dachaus nicht auf.
Vor dem erwarteten Krieg mit Frankreich wurde die nahe der Grenze gelegene Stadt Pirmasens von der Zivilbevölkerung geräumt. Für die ‚arische‘ Bevölkerung hatte die NS-Verwaltung Ersatzquartiere in anderen Städten organisiert, die ‚jüdischen‘ Menschen mussten schauen, wo sie bleiben. Die Familie Katz kam auf diese Weise nach Göppingen, wo sie seit dem 8. September 1939 gemeldet war. Eventuell hat Marianne Frank, Nichte von Johannette Katz zur Wahl des Wohnorts beigetragen, denn sie lebte schon seit November 1938 in Göppingen.
Das alte Ehepaar Katz kam mit seinen Söhnen im Haus der Familie Oppenheimer in der Grabenstraße 18 unter, Rosa mit ihrem Kind Gerhard bei Max Hirsch in der Spitalstraße 17, wohin später auch Wilhelm und Johannette ziehen sollten. Die Familie hinterließ in Göppingen sehr wenige Spuren, kein Wunder, wo doch „Nicht auffallen“ zum Überlebensprinzip bei den Verfolgten geworden war bzw. „Nicht hinschauen“ bei den nicht Betroffenen.
Herbert und Ilse: Hochzeit in Göppingen, deportiert nach Gurs, ermordet im Vernichtungslager Auschwitz
Ein wichtiges Ereignis im Leben von Herbert Katz ist freilich dokumentiert: Am 12. April 1940 heiratete er die Schneiderin Ilse Henriette Mai im Göppinger Standesamt. Ilse war auch keine Göppingerin; sie stammte aus Wallhalben, das nicht weit von Rodalben entfernt liegt. Nach der Vermählung wohnte sie mit Herbert in der Grabenstraße.
Später, das Datum ist nicht überliefert, kehrten Herbert und Ilse (wahrscheinlich heimlich) von Göppingen in Ilses Heimatort Wallhalben zurück, blieben aber in Göppingen gemeldet – kein Wunder, denn die Nazis untersagten den Juden der Pfalz die Rückkehr in ihre Wohnungen. Von dort bzw. vom Ortsteil Oberhausen aus wurden Ilse und Herbert von der großen Deportation der Badischen und Saarpfälzer Juden am 20. Oktober 1940 erfasst und trafen am 22. Oktober im südwestfranzösische Lager Gurs ein.
Das Ehepaar dürfte in der begründeten Hoffnung auf eine Flucht in die USA gelebt haben. Sie hatten einen Bürgen in den USA, Herrn van Sommeren, der die Schiffspassage von Marseille nach New York schon bezahlt hatte. Auch ein Visum lag vor. Kurz vor Ablauf der Geltungsfrist des Visums erkrankte Herbert Katz, die Schiffspassage konnten er und Ilse nicht wahrnehmen. Wenige Tage später, am 26. April 1942, wurde Herbert von Gurs in das Lager Les Milles verschoben, später, im August 1942, kam er ins Abschiebelager Drancy, von wo er am 17. August 1942 ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert wurde.
Ilses Schicksal unterscheidet sich von dem ihres Mannes darin, dass sie aus dem Lager Gurs entlassen wurde und danach im Hotel Bompard in Marseille wohnen konnte.
Dieses stillgelegte Hotel diente, wie zwei weitere als „Durchgangslager“ für internierte Frauen und Kinder, die auf ein Visum zur Auswanderung nach Übersee warteten. Aber Ilses Schicksal war an das von Herbert gekuppelt und so änderte sich an ihrem grausamen Schicksal nichts: Auch sie wurde über das Lager Drancy ins Vernichtungslager KZ Auschwitz deportiert. Herbert wurde am 11. Oktober 1942 in Auschwitz ermordet; der Todestag von Ilse ist nicht überliefert.
Riga/Jungfernhof – Theresienstadt
Rosa Katz und ihr Sohn Gerhard wurden bei der ersten Deportation aus Göppingen am 28. November 1941 erfasst, nach Riga verschleppt und dort wahrscheinlich im Wald von Bikernieki erschossen. Vermutlich erlitt Fritz Katz das gleiche Schicksal.
Rosas Eltern Wilhelm und Johannette lebten verwaist bei Max Hirsch in der Spitalstraße. Nach dessen erzwungenem Wegzug ins Altenheim Schloss Eschenau musste das Ehepaar die vertraute Wohnung verlassen und kam in der Metzgerstraße 16 beim Ehepaar Geschmay unter. Zusammen mit ihren Vermietern wurden die alten Leute am 20. August 1942 in das KZ Theresienstadt deportiert. Quälende eineinhalb Jahre fristet das Ehepaar Katz dort sein Leben. Am 8. Mai 1944 starb Wilhelm Katz. Seine Frau Johannette folgte ihm nur zwei Wochen später.
Viele nahe Verwandte wurden ebenfalls ermordet: Johannettes Schwester Frieda Koch, deren Mann Heinrich und ihr Sohn Josef (Seppel), Johannettes Schwägerin Flora Frank sowie ihre Nichten Rosa Frank und Marianne Schwab. Ilses Katz’ Mutter Ida Beitmann wurde in Auschwitz ermordet. Ludwig Katz, der als einziges der Kinder von Wilhelm und Johannette die NS-Zeit überlebte, floh 1937 in die USA. Schon im Jahr1945 starb seine Ehefrau Irma; er selbst verschied 1975 kinderlos in Philadelphia. Mit Gerhard Katz wurde also das einzige Enkelkind von Wilhelm und Johannette Katz ermordet.
Die Recherchen über die Zeit in Rodalben und Pirmasens verdanken wir dem Heimatforscher Peter Conrad, einem gebürtigen Rodalber. Persönliche Erinnerungen aus der Familie hat Dr. Michael Zank notiert, der auf Tagebücher seiner Mutter Rosel Koch zurückgreifen konnte, einer Nichte von Johannette Katz. Wir danken auch dem Stadtarchiv Pirmasens für die Genehmigung, die Passfotos der Familie wiedergeben zu dürfen.
Am 1. Mai 2010 wurden zum Andenken an Fritz, Herbert und Ilse Stolpersteine vor dem Haus Grabenstr.18 gesetzt. Die Steine für Johannette, Rosa, Gerhard und Wilhelm Katz, die vor dem Haus Spitalstraße 17 gesetzt wurden, folgten am 19. September 2012.
(16.10.2020 kmr)
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