Lutherstraße 11
Zauberer und Wanderer
„Am besten kann ich mich an Jakob Frankfurter erinnern. Denn wenn er zu uns auf Besuch kam, brachte er einen großen Koffer mit und hat von ihm wunderbare Sachen hervorgezaubert. Er zauberte auch aus seinen Taschen und Ärmeln seines Anzugs oder Mantels. Da waren wir entzückt und sind im Zimmer gehüpft. Er konnte auch sehr schöne Geschichten erzählen. Er hat meine Eltern, meinen Bruder und mich auf kleinere Touren in der rauhen Alb mitgenommen. Da sangen wir zusammen.„
So erinnerte sich Doris Doctor (†), geb. Bernheim, Jahrgang 1923 an ihren Großonkel Jakob Frankfurter.
Die geschilderten Begegnungen dürften um das Jahr 1930 stattgefunden haben, da war Jakob Frankfurter 62 Jahre alt und sollte noch zwei Jahre seine Stellung im Familienunternehmen ausüben. Von 1901 bis Ende 1932 war er persönlich haftender Gesellschafter in der 1896 gegründeten Firma Gebrüder Frankfurter OHG zusammen mit seinem Bruder Sigmund. Inwieweit er im operativen Geschäft tätig war, ließ sich nicht mehr feststellen. Während sich sein Bruder Sigmund in vielerlei Weise gesellschaftlich einbrachte, ist Ähnliches von Jakob nicht überliefert. Der ledige Unternehmer zog nach seinem Ausscheiden aus dem Betrieb nach Stuttgart, eine Wohnadresse in Göppingen (Burgstraße 12) blieb aber formal bestehen. Das Haus und damit die gemietete Wohnung gehörte seit 1936 der Familie Dittus.
Aber weder bei Dittus, noch bei ehemaligen Nachbarn konnte man sich an Jakob Frankfurter erinnern, was die Vermutung stützt, dass er die Göppinger Wohnung nur sehr wenig genutzt hat. Aus den Einwohnermeldakten ist aber überliefert, dass seine Nichte Marie Bach 1936 einige Wochen in der (leerstehenden?) Göppinger Wohnung ihres Onkels wohnte. Bach, das war der Ehename von Jakobs Schwestern Ida und Mathilde. Die Schwestern hatten die Brüder Bach aus Augsburg geheiratet, wo die Familien dann auch wohnten. Jakob muss sich der Familie seiner Schwester Mathilde Bach nahe gefühlt haben, denn auf Fotos von Familienfeiern der ‚Bachs‘ taucht er als einziger ‚Frankfurter‘ auf und auch die anfangs geschilderten Kindheitserinnerungen bekräftigen diese Vermutung, denn Doris Doctors Großmutter war Mathilde Bach.
Gestörter Ruhestand in Stuttgart
Aus der Zeit, in der Jakob Frankfurter in Stuttgart lebte, ist als erste Wohnadresse, die Vogelsangstr.103 bekannt. In den Restitutionsakten (Staatsarchiv Ludwigsburg) liest man, dass es sich um eine Vier-Zimmerwohnung gehandelt hat.
Ab Mai 1940 taucht im Stuttgarter Adressbuch eine neue Adresse auf, die Werfmershalde 12, die auch in einer Stuttgarter ‚Judenliste‘ zu finden ist. Wahrscheinlich wurde Jakob Frankfurter zu diesem Umzug gezwungen, da die NS-Gesetzgebung ab Mai 1939 untersagte, dass Juden bei ‚Ariern‘ wohnten, was nach und nach umgesetzt wurde. Mit im Haus wohnte das jüdische Ärzte-Ehepaar Dr. Benno und Ida Jakob, sowie die alleinstehende Jüdin Anna Wieler. Dr. Benno Jakob war vom Hauseigentümer zum Verwalter mir weitreichenden Befugnissen ernannt worden. Das ermöglichte ihm, im Keller des Hauses eine Radioanlage zu installieren, mit der ausländische Sender gehört werden konnten.
Jakob Frankfurters Wohnsituation bereitete seiner Göppinger Schwägerin Hedwig Frankfurter zunehmend Sorge. In einem Brief vom 26. Juni 1941 schreibt sie: „Hoffentlich verliert mein Schwager seine Clara nicht. „Hedwigs Sorge war verständlich, denn eine ‚Arierin‘, die bei einem ‚Juden‘ arbeitete, war gesellschaftlich geächtet. Clara, deren Identität leider nicht geklärt werden konnte, war für Jakob aber viel mehr als eine Haushälterin. Die Familienüberlieferung weiß, dass Jakob und Clara ein Paar waren, das sich nicht offiziell zueinander bekennen konnte. Weniger die religiöse Differenz, vielmehr der ‚Standesunterschied‘ stand (schon vor der NS-Zeit) einer Ehe im Weg. Clara wollte und konnte aber bis auf weiteres bei Jakob bleiben, doch schon am 4. November 1941 hält seine Schwägerin fest: „Jakob hat plötzlich seine Wohnung verlassen und wenn er Zuzug bekommt, wollen wir ihn aufnehmen, damit er wieder ein Heim hat. Für’s erste wohnt er jetzt bei Babette M.“
Warum Jakob aus der Wohnung in der Werfmershalde 12 ausgezogen ist, bleibt offen, die anderen Hausbewohner mussten ihr Heim erst im April 1942 verlassen. Hatte Jakob von der illegalen Radiostation erfahren und war aus Furcht vor Entdeckung ausgezogen?
Die im Brief erwähnte Babette M. (=Marx – kmr) war eine jüdische Stuttgarter Unternehmerin, in deren Betrieb Leopold Fleischer, ein entfernter Verwandter Jakobs als Prokurist tätig gewesen war. (Siehe Stolperstein – Biografie Rosa Fleischer).
Auch Frau Marx wird später von den Nazis ermordet werden. Im gleichen Brief vom 4.11 findet sich auch der einzige Hinweis, dass Jakob Frankfurter die Flucht aus Deutschland plante: „Er hat eine Bürgschaft von Johanna, ebenso Ida, die momentan nutzlos ist. Selbst das Zwischenland Cuba sei gesperrt.“
Bei der Bürgin handelt es sich wahrscheinlich um seine Nichte Johanna Bernheim, geb. Bach, die mit ihrer Familie seit Juli 1939 in den USA lebte.
Unfreiwillig zurück in Göppingen
Jakobs Umzug nach Göppingen in die Lutherstraße 11 erfolgt nach kurzer Frist, in einem Brief vom 3. Dezember 1941 schreibt seine Schwägerin Hedwig: „ Onkel J. hat sich gut eingelebt. Er lebt wie eine Uhr; morgens liest er die Zeitung, dann lernt er italienisch, geht eine Stunde spazieren und nachmittags tur er das selbe. Er stört mich nicht viel, da er die meiste Zeit auf seiner Bude ist. Clara und ich kochen friedlich nebeneinander …“
Im Januar 1942 schreibt Hedwig Frankfurter noch: „Mein Schwager ist froh, daß er bei uns sein kann„, doch Anfang Juni 1942 droht allen ein erzwungener Umzug nach Oberdorf bei Bopfingen, wobei bekannt ist, dass die Wohnverhältnisse miserabel sein würden. Hedwig schreibt: „Jakob ist auch sehr bedrückt und sieht der Zukunft trüb entgegen. Seine Clara versorgt ihn rührend„.
Zu dem Umzug nach Bopfingen kommt es aber nicht mehr, es kommt viel schlimmer: Jakob Frankfurter wird zusammen mit seinem älteren Bruder Sigmund und seiner Schwägerin Hedwig am 28. August 1942 über Stuttgart in das KZ Theresienstadt deportiert und stirbt dort 74 jährig an den mörderischen Haftbedingungen schon am 10. Dezember des gleichen Jahres. Sein Bruder Sigmund stirbt wenige Tage nach ihm, seine Schwägerin Hedwig wird 1944 im KZ Auschwitz ermordet. (Siehe Stolperstein – Biografie).
Ermordet: Bruder, Schwägerin, Schwester, Nichte
Auch Jakobs verwitwete Schwester Ida Bach, die in Augsburg lebte, stirbt im KZ Theresienstadt.
Seine Nichte Marie Bach, Tochter seiner Schwester Mathilde wurde ebenfalls in Auschwitz ermordet. Marie Bach, die 1902 in Augsburg geboren wurde, arbeitete als Haushaltslehrerin zunächst im Esslinger jüdischen Internat ‚Wilhelmspflege‘, später in der Schweiz. Der anschließende Zufluchtsort Paris bot ihr nach Kriegsbeginn keine Sicherheit mehr. Im Mai 1940 wird sie im südwestfranzösischen Lager Gurs interniert. Dort engagierte sich die religiöse, ledige Frau selbstlos für die Belange ihrer Mithäftlinge und erfuhr große Anerkennung. Zwar hätte sie die Chance zur Flucht gehabt, lehnte diese aber aus Verantwortungsgefühl ab.
Doris Doctor(†) hatte Kindheitserinnerungen an ihre Tante Marie:“Sie war eine kleine dünne Person, die schüchtern war und nicht viel mit mir sprach, aber wenn, dann freundlich und liebend. Mir imponierte, dass sie nur von Glasgeschirr aß. Sie erklärte, dass sie dem lieben Gott sehr nahe stand. Das imponierte mir und ich bewunderte sie. Nicht sie, sondern meine Mutter erklärte mir dies auf ihre Weise.“ Als orthodoxe Jüdin benutzte Marie nicht das normale Geschirr ihrer Verwandtschaft, die Fleisch und Milch nicht trennte. (Mehr zu Marie Bach).
Die im Exil überlebenden Söhne von Hedwig und Sigmund Frankfurter ließen neben den Namen ihrer Eltern und ihres Onkel Jakobs auch den Namen ihrer Tante Ida Bach in den Grabstein meißeln, der auf dem Jüdischen Friedhof in Jebenhausen steht.
Gunter Demnig setzte am 25. November 2011 unter Beisein von Jakob Frankfurters Großnichten Ruth Adler und Doris Doctor (†) einen Stolperstein für den ermordeten vor dem Haus Lutherstraße 11.
(25.05.2021 kmr)
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