Schillerstr.33

Am ersten September 1936 trat Fritz Max Erlanger das Amt des Vorbeters (Kantor) und Lehrers bei der Israelitischen Gemeinde in Göppingen an. Er folgte damit Berthold Levi, der die Ämter seit 1926 inne hatte und wenige Monaten zuvor in den Ruhestand getreten und nach Stuttgart gezogen war. Dass es sich aber um keinen üblichen Generationenwechsel im Amt handelt, ergab sich aus den Zeitumständen, denn seit über drei Jahren herrschten die Nazis in Deutschland. Seit den ‚Nürnberger Gesetzen‘ aus dem Jahr 1935 wurde die Diskriminierung und Entrechtung der jüdischen Deutschen zum Staatsziel. Den Judenhass schürte aber nicht nur der Staat, viele arische Volksgenossen‘ handelten aus eigenem Antrieb, um den jüdischen Nachbarn und ihren Kindern das Leben schwer zu machen.

Die Aussonderung der jüdischen Kinder in Göppingen

Warum hatte sich der Vorstand der Göppinger Israelitischen Gemeinde entschlossen, trotz knapper finanzieller Mittel hier eine Schule für die jüdischen Kinder im Grundschulalter einzurichten? Jüdische Kinder gingen ja schon seit vielen Jahrzehnten auf die Allgemeinen Schulen, dort wo konfessionelle Trennung herrschte, meist auf die evangelische Schule. Die jüdischen Lehrer und Vorbeter waren in erster Linie Religionslehrer, ähnlich wie es bei den Geistlichen der christlichen Konfessionen oft der Fall war. (Jüdischen Lehrern war der Eintritt und Verbleib in den Allgemeinen Schuldienst erst seit wenigen Jahren möglich gewesen. So scheiterte noch Fritz Erlangers Vor-Vorgänger Carl Bodenheimer am Widerstand christlicher Eltern, siehe Stolperstein-Biografie Sophie Bodenheimer). Das  generelle Verbot für jüdische Kinder, die Allgemeinen Schulen zu besuchen, wurde von den Nazis erst am 15. November 1938 ausgesprochen. Im Mai 1936 begann jedoch die Stadt Göppingen, die bisher nach Konfessionen (evangelisch / katholisch) getrennt geführten allgemeinbildenden Schulen aufzulösen und durch die ‚Deutsche Schule‘ zu ersetzen, in der Kinder beider christlicher Konfessionen gemeinsam unterrichtet wurden. Die erste Schule in Göppingen, die diesen Schritt vollzog, war die Evangelische Knabenschule – also gerade diejenige Schule, die auch von jüdischen Kindern besucht worden war. Für sie war auf der ‚Deutschen Schule‘ kein Platz mehr, die Umbenennung in ‚Hans-Schemm‘ -Schule macht deutlich dass hier nach der Ideologie der Nazis unterrichtet werden sollte. (Hans Schemm war unter anderem der Gründer des ‚Nationalsozialistischen Lehrerbunds‘).

Aus der Sicht jüdischer Kinder und Eltern gab es freilich schon vor dem Mai 1936 Gründe, die es ratsam erscheinen ließen, die Kinder vor der ‚Volksgemeinschaft‘ zu schützen. So erinnert sich der geflüchtete Göppinger Hermann Freudenberger in einem Brief aus dem Jahr 1966: „Ich konnte nicht mit ansehen, wie meine Kinder in der Schule behandelt wurden“. Freilich hing es stark vom Anstand des Lehrers ab, ob den Nazi – Pimpfen Einhalt geboten wurde, und ein Lehrer wie Karl Baun, der seinen Schülern klarmachte, dass der jüdische Klassenkamerad Erich Steiner ‚zu uns‘ gehört, war sicher eine positive Ausnahme. (Karl Baun war bis zu seiner zwangsweisen Absetzung durch die Nazis Lehrer und Rektor an der schon erwähnten evangelischen Knabenschule.)

Jüdische Jugendliche, die weiterführende oder berufsbildende Schulen in Göppingen besuchten, blieben bis 1938 mehr oder weniger unbehelligt und konnten bis dahin auch noch Schulabschlüsse tätigen.

Auf einem Stockwerk des Rabbinerhauses wurden die jüdischen Kinder unterrichtet.

Die jüdische Schule im Rabbinerhaus

Die jüdischen Kinder im Grundschulalter konnten ihre Aussonderung oft nicht begreifen. Doris Rosenkranz, geb. Rosenfeld, Jahrgang 1927 erinnert sich, dass sie ab 1933 / 34 und 1935 noch die Allgemeine Grundschule besuchen konnte, dass sie aber vermutlich 1936 „rausgeschmissen“ wurde, was ihr bis ins hohe Alter eine traumatische Erinnerung blieb. Sie zog mit ihrer Mutter dann nach Stuttgart und flüchtete 1939 in die Schweiz. Ähnliche Erinnerungen hat der gleichaltrige Herbert Steiner:

„Die ersten paar Schuljahre war ich in der normalen Volksschule, aber im Jahr 1936 mussten alle jüdischen Kinder in eine getrennte Jüdische Schule gehen.“ Und der ebenfalls 1927 geborene Richard Fleischer (t) beschrieb die Situation: „Meine Schule war in der Uhlandstraße. (Heute Burgstraße, Uhland – Grundschule – Anm. d. Verf.) Ich verließ die Schule, bzw. wurde 1936 heraus genommen. Meinem Vater wurde klar gemacht, dass ich unter keinen Umständen hier bleiben kann. Mein Vater schickte mich nach Esslingen.“ (Gemeint ist das jüdische Waisenhaus und Internat ‚Wilhelmspflege‘ in Esslingen – Anm. d.Verf.).

Viele jüdische Kinder im Grundschul – Alter und darüber besuchten seit 1936 die neu eingerichtete jüdischen Schule im Göppinger Rabbinerhaus (Freihofstraße 46), wo das Erdgeschoss als Schulraum diente. Der Raum war nach dem Wegzug von Kantor Levi frei geworden, im oberen Stockwerk lebte bis Dezember 1937 noch die Rabbiner-Witwe Berta Tänzer, während der neue Rabbiner Luitpold Wallach eine Wohnung außerhalb des Hauses nutzte.

Wie viele Kinder besuchten die Schule, bei der es keine Jahrgangsklassen gab? Herbert Steiner bezieht sich auf die Zeit bis zu seiner Flucht im Dezember 1938: „Wenn ich mich richtig erinnere, hatten wir ungefähr 20 – 30 Kinder im Alter von 6 bis 14 in einem Zimmer.“ Seine Mitschülerin Beate Dörzbacher (heute Betty Greenberg), ebenfalls Jahrgang1927, bewahrte ein Poesiealbum auf, das sie von ihrem Lehrer Fritz Erlanger zum Abschied im Juli 1937 erhalten hatte. Darin haben 18 Mitschülerinnen und Mitschüler unterschrieben.

Diese Zahl von insgesamt 18 Schülerinnen und Schülern entspricht von der Größenordnung her der Zahl von 17 SchülerInnen, die im Buch von Paul Sauer, ‚Die Schicksale der jüdischen Bürger Baden-Württembergs 1933-1945‘ auf Seite 66 genannt wird. Sauer bezieht sich dabei auf das Amtsblatt des Württembergischen Kultministeriums vom 27. November 1937. SchülerInnen verließen die Schule, wenn sie mit ihren Familien flüchten konnten, neue SchülerInnen kamen nach. So z.B. Renate Reutlinger, die an ihrem Wohnort Kirchheim nach der Pogromnacht 1938 die dortige öffentliche Schule verlassen musste.

Beate Dörzbacher, Doris Rosenfeld, Doris Vetter & Herbert Steiner im Garten vom Haus Rosenfeld. Beate und Herbert waren Schüler bei Fritz M. Erlanger.

In der jüdischen Schule waren die Kinder vor ungerechten Lehrern und gehässigen Mitschülern geschützt. Die brutale Wirklichkeit holte sie aber außerhalb des Schul – und Elternhauses wieder ein. Herbert Steiner schreibt aus leidvoller Erfahrung: „Der direkte Weg zur Schule von der Bahnhofstraße 6 war nicht sehr lang, aber die Umwege, die ich machen musste, um die geschmissenen Steine von den anderen Schulbuben zu vermeiden, machte es zu einem ernsten Unternehmen.“

„Fritz Erlanger war ein sehr beliebter Lehrer“

Bei seinem Dienstantritt im September 1936 war Fritz Max Erlanger gerade erst 23 Jahre alt und die Göppinger Lehramtsstelle war nach einer dreijährigen Lehrtätigkeit an der Esslinger ‚Wilhelmspflege‘ seine zweite dauerhafte Anstellung. Nach seiner Ersten Dienstprüfung 1933 folgten kürzere Anstellungen in Tübingen und Rottweil. Er muss, so die wenigen überlieferten Erinnerungen seiner Schüler, ein begabter Pädagoge gewesen sein. Herbert Steiner: “ Fritz Erlanger war ein sehr beliebter Lehrer, der die Kinder gut verstanden hat. Rabbiner Wallach hatte nie den gleichen Rapport mit uns, aber man muss dabei anerkennen, dass die Zeiten immer schwieriger wurden und dass er auch andere Pflichten hatte.“ Auch Betty Greenberg hat positive Erinnerungen: „Ich kann mich zwar nur noch vage an Herrn Erlanger erinnern, aber er war mit Sicherheit ein liebenswerter junger Mann“.

Fritz Max Erlanger im Tübinger Freibad

Neben seiner sympathischen Ausstrahlung muss Fritz Erlanger auch einiges didaktisches Können bewiesen haben: „Die Fächer in der Jüdischen Schule waren ’normal‘, aber natürlich mit nur einem Lehrer und etwa 30 Schüler in allen Stufen war der Unterricht schon ein bisschen chaotisch. Als ich 1939 in Amerika ankam, wusste ich mehr über Mathematik als die meisten Kinder hier, aber Englisch war mir fremd, die religiöse Erziehung spielte keine große Rolle“ erinnert sich Herbert Steiner. Im ‚Israelitischen Wochenblatt‘ vom 16. März 1938 wird von einem Elternabend der Jüdischen Schule berichtet, wo Fritz Erlanger seine schulischen Lernziele darlegte:

„Er warnte vor den bisherigen Berufen, welche unsere Jugend nirgends in der Welt aussichtsreich seien. Chancen hat heute nur ein manueller Arbeiter, vor allem der Handwerker und der Landwirt, und auch diese nur bei gründlicher Vorbildung. Der Redner hob sodann die einzelnen im In- und Ausland heute gegebenen Ausbildungsmöglichkeiten hervor und beleuchtete im besonderen Hascharah und Jugend – Alijah (Vorbereitung für die  Auswanderung nach Palästina – Amn. d. Verf.) … „

Fritz Max Erlanger (h.r. helles Hemd) mit seinen Schülern auf einem Ausflug 1936/37

Das Datum dieses Berichts ist auch ein Hinweis für die Fortdauer der jüdischen Schule in Göppingen. Durch die Flucht vieler Familien reduzierte sich auch der Kreis möglicher Schüler und Schülerinnen. Spätestens vor dem 9. Juni 1939 muss der Schulbetrieb im Rabbinerhaus geendet haben, denn zu diesem Zeitpunkt erwarb die Stadt Göppingen das Gebäude, das laut Adressbuch fortan „unbewohnt“ blieb.

Im Jahr 1940, als das jüdische Kind Inge Auerbacher sechs Jahre alt wurde, kann die Göppinger Jüdische Schule, egal in welcher Räumlichkeit, nicht mehr existiert haben, denn Inge musste mit dem Zug nach Stuttgart fahren, um dort die einzige jüdische Schule im weiten Umkreis zu besuchen.

Dass Fritz Max Erlanger auch sein religiöses Amt wahrnahm, darauf verweist eine Notiz im ‚Israelitischen Wochenblatt‘ vom April 1937: „Am 27. März veranstaltete das Vorsteheramt der isr. Gemeinde gemeinsam mit der Jüdischen Schule und der Zionistischen Ortsgruppe einen Sederabend, den Rabbiner Dr. Wallach (Laupheim) und Lehrer Erlanger in vorbildlicher und erhebender Weise gaben.“

In der Nacht vom 9. auf 10. November 1938, als die Synagoge in Brand gesetzt wurde, gehörte Fritz Max Erlanger zu den jüdischen Männern, die verhaftet und am 12. November ins KZ Dachau verfrachtet wurden. Bis zum 5. Dezember dauerte seine Haft. Aus dem Zugangsbuch des KZ erfährt man auch, dass Fritz Erlanger damals noch als ‚Lehrer‘ geführt wurde und dass er nicht mehr an seiner ersten Göppinger Wohnadresse, der Schillerstr. 33 gemeldet war. Da die 1938 genannte Adresse Wilhelm Murrstr. 30 (heute Mörikestraße) ein ‚Judenhaus‘ war, in dem die Menschen zwangsweise einquartiert wurden, kam der Stolperstein am Ort des früheren Hauses in der Schillerstr.33 zu liegen.

Überrascht waren wir, als in einem Brief vom August 1940 Fritz Erlanger erwähnt wurde. Die jüdische Stuttgarterin Hanne Leus schrieb an die Verwaltung der Göppinger Heilanstalt ‚Christophsbad‘, wo ihre psychisch erkrankte Schwester Charlotte Schulheimer untergebracht war. Aus dem Brief geht hervor, dass der ‚Lehrer Erlanger‘ der erkrankten Schwester öfters eine kleinen Geldbetrag hatte zukommen lassen. Frau Schulheimer wurde  im Juli 1942 in Auschwitz ermordet.

Fritz Max Erlanger lebte noch bis Mitte 1941 in Göppingen.Vermutlich wurde er als Zwangsarbeiter verpflichtet, wir wissen aber nichts näheres.

Kindheit und Jugend als ‚Trennungswaise‘

Fritz Max Erlanger erscheint in den Erinnerungen als fröhlicher Mensch, der sicher im Leben stand, auch seine weitere Biografie ist davon geprägt. Entgegen üblicher Erwartungen entstammte Fritz Erlanger aber keineswegs ‚geordneten Verhältnissen‘.

Fritz Erlangers Eltern Anne Therese und Hugo Erlanger

Seine Eltern, Anne Therese, geb. Dessauer und sein Vater Hugo Erlanger trennen sich, als Fritz, ihr einziges Kind, elf Jahre alt war und mit der Trennung endete auch Fritz Familienleben, denn er wurde auf das schon erwähnte Internat ‚Wilhelmspflege‘ in Esslingen geschickt. Seine Eltern verließen das Niederbayerische Pfarrkirchen, wo Fritz am 31.März 1913 geboren worden war und kehrten in ihre Geburtsorte zurück, Vater Hugo nach Buchau am Federsee, wo er Textil- und Tabakwaren vertrieb. Relativ jung verstarb er in einem Ulmer Hospital im Januar 1937. Anne Erlanger wollte wieder bei ihren Eltern in Tübingen wohnen, in einer eher wohlhabenden Umgebung, wo Fritz sie öfters besuchen sollte. Nach seinem Wegzug von Göppingen im Juli 1941 war Fritz einen Monat lang wieder bei der Tübinger Adresse seiner Mutter gemeldet.

Das Haus der Familie Dessauer, Tübingen, Uhlandstr.16

Hannover – Ahlem: Noch einmal Lehrer sein!

Ab 12. August 1941 war Fritz Max Erlanger in Ahlem bei Hannover gemeldet, er fand wieder eine Anstellung als Lehrer und zwar an der Israelitischen Gartenbauschule. Diese Einrichtung ging auf das Jahr 1893 zurück, als der Hannoveraner Bankier Alexander Moritz Simon den Kindern der osteuropäischen jüdischen Einwanderern eine gute Ausbildungsmöglichkeit geben wollte. Männliche Jugendliche (Lehrlinge) konnten sich zu Gärtnern oder Handwerkern, z.B. Schustern und Schneidern ausbilden lassen, für weibliche Jugendliche wurde eine hauswirtschaftliche Ausbildung angeboten. Daneben gab es eine Schülerabteilung, in der Volksschulkinder aufgenommen wurden. Generell war die Schule als Internat konzipiert. Als Fritz Max Erlanger dort seine Stelle antrat, war die Gartenbauschule eine der letzten jüdischen Erziehungseinrichtungen auf deutschem Boden. Seitdem es jüdischen Kindern verboten war, allgemeine Volksschulen zu besuchen, war die Zahl der Volksschulkinder, die in der Schülerabteilung der Gartenbauschule unterrichtet wurden, stark angewachsen. Im Mai 1940 waren es 109 Kinder von insgesamt 240 jungen Menschen, die an der Schule lernten. In einem Protokoll aus dieser Zeit erfährt man, dass “ … 109 Jungen und Mädchen von acht Lehrern unterrichtet“ wurden. In dieses Kollegium, dem der Direktor Leo Rosenblatt vorstand, wurde Fritz Max Erlanger aufgenommen. Ein Hinweis auf sein Mitwirken stammt vom 2. Oktober 1941, als bei einer Schulkonferenz „unter dem Vorsitz von Direktor Rosenblatt die Ahlemer Lehrer Karl Waldmann, Friedrich Haas, Fritz Erlanger und Meta Schloss mit den Kollegen aus Hannover diskutierten … „

Das Direktorenhaus der Gartenbauschule in Ahlem

Edeltraud Lapidas tritt in Fritz Leben

Liebe auf den ersten Blick? Edeltraud Lapidas und Fritz Max Erlanger konnten sich gerade drei Wochen lang gekannt haben als sie am vierten November in Ahlem heirateten, denn Edeltraud war erst nach dem 20.Oktober 1941 von Berlin nach Ahlem gezogen. Edeltraud Lapidas, in Rössel / Ostpreußen geboren, war wenige Monate jünger als ihr Ehemann und Erzieherin von Beruf. Es ist nicht überliefert, ob auch sie eine Anstellung in der Gartenbauschule erhalten hatte, bzw. warum sie überhaupt nach Ahlem gekommen war, ihre Wohnadresse war jedenfalls die Gartenbauschule. Bis zur Pogromnacht hatte Edeltraud Lapidas das Jüdische Grunewald – Kinderheim in Bad Saarow geleitet, wo 14 Kinder aus sozial schwachen Familien Ruhe und Erholung finden konnten. Danach arbeitete sie in Berlin in einem jüdischen Krankenhaus und von Juni 1940 bis Oktober 1941 wurde sie Zwangsarbeiterin in den Berliner Siemens – Schuckert – Werken. Leider gibt es kein Foto von Edeltraud Erlanger, in einem Häftlingspersonalbogen aus dem Jahr 1944 findet sich folgende Beschreibung:

Gestalt: mittel, Gesicht: rund, Augen: braun, Nase, Mund und Ohren: normal, Haare: schwarz.

Konnten Juden in Deutschland Ende 1941 überhaupt noch offiziell heiraten? In allen späteren Dokumenten werden Edeltraud und Fritz jedenfalls als Eheleute geführt.

Gedenktafel für Edeltraud Erlanger

Riga, Stutthof…

Anfang Dezember 1941 erging vom NS – Reichssicherheitshauptamt eine Weisung an die Hannoveraner Gestapoleitstelle, die Deportation von 1000 Jüdinnen und Juden aus Hannover einzuleiten. Ziel sollte die lettische Stadt Riga sein, genauer, das dortige jüdische Ghetto, das kurz zuvor der Ort eines grausamen Verbrechens gewesen war: Anfang Dezember 1941 waren 27 000 lettische Jüdinnen und Juden durch deutsche Sicherheitspolizei und der SD Einsatzgruppe A erschossen worden. So wurde ‚Platz‘ geschaffen für Juden, die aus dem ‚Reich‘ verschleppt werden sollten. Die Neuankömmlinge wohnten demnach in den gerade erst, oft fluchtartig verlassenen Wohnungen ihrer lettischen Glaubensgenossen und waren somit ständig mit deren Ermordung konfrontiert.

Als Sammellager für die Deportation aus Hannover wurde ausgerechnet die Jüdische Gartenbauschule ausgewählt, wo keine Voraussetzungen für die tagelange Unterbringung von 1000 Menschen bestanden. Die Betroffenen mussten z.T. bei winterlicher Kälte in den Gewächshäusern auf Strohsäcken übernachten. Der Abtransport von Ahlem begann am Morgen des 15. Dezembers. Mit Lastwagen wurden die Männer, Frauen und über 100 Kinder von Ahlem zur Sonderrampe am Lindener Bahnhof Fischerhof gefahren. Drei qualvolle Tage später erreichte der Transport das Ghetto von Riga. Im Transport waren auch Edeltraud und Fritz Erlanger.

Das Ghetto in Riga wurde ab Sommer 1943 aufgelöst, die noch lebenden Bewohner wurden in das KZ Kaiserwald verschoben. Vor den herannahenden sowjetischen Truppen wurde auch dieses KZ evakuiert und die gequälten Häftlinge ab August 1944 in das KZ Stutthof bei Danzig gebracht. (siehe auch Stolpersteinbiografien Rosa und Flora Frank). Hier trafen am 1.Oktober 1944 auch Edeltraud und Fritz Max Erlanger ein, der Häftlingspersonalbogen von Edeltraud ist ein letztes gesichertes Lebenszeichen des Ehepaars. Es grenzt schon an ein Wunder, dass beide noch am Leben waren, denn den Transport aus Hannover überlebten gerade 86 von den ursprünglich 1001 Menschen. Wir wissen nicht, ob Edeltraud und Fritz in Riga oder Kaiserwald Kontakt zueinander hatten, die Hoffnung auf ein gemeinsames Überleben dürfte ihnen Kraft gegeben haben. Über die letzten Lebensmonate des Paars wissen wir nichts. Es ist überliefert, dass die Häftlinge aus dem KZ Stutthof auf Todesmärsche geschickt wurden. Vielleicht gelang Fritz Erlanger dabei die Flucht, was die Erklärung zu folgender Familienüberlieferung sein könnte. Dr. Lothar Dessauer, ein Cousin von Fritz Mutter gab 1971 zu Protokoll: „Ich erinnere mich, dass mein verstorbener Vetter Hermann Levi mir vor vielen Jahren gesprächsweise mitteilte, dass Fritz Erlanger versehentlich von den Russen erschossen worden sei, als er sich mit Kameraden um Lebensmittel bei Bauern bemühte. Angeblich stammt diese Mitteilung von einem Leidensgenossen von Fritz Erlanger, dessen Namen ich begreiflicherweise nicht kenne.“

Ermordete Familienmitglieder

Leider sind weder Fritz Max noch Edeltraud Erlanger die einzigen, die aus ihren Familien ermordet wurden:

Fritz‘ Großmutter väterlicherseits, Luise Erlanger, geb. Neuburger, die in Bad Buchau wohnte, erlag mit 86 Jahren den unmenschlichen Lebensbedingungen im KZ Theresienstadt am 2. September 1942.

Fritz Mutter Anne Erlanger, geb. Dessauer wurde im Oktober 1942 zunächst gezwungen, von Tübingen nach Haigerloch zu ziehen. Von dort kam die schwer krebskranke Frau noch in eine Klinik in Fürth. Wenige Monate später wurde auch sie von Nürnberg aus nach Theresienstadt gebracht, wo sie am 30. September 1942 starb.

Annes Bruder und Fritz‘ Onkel Ernst Nathan Dessauer, der in Hamburg lebte, wurde am 21.Januar 1942 im Ghetto Litzmannstadt (Lodz) ermordet. Für ihn liegt ein Stolperstein in Hamburg-Altona.

Ein weiterer Bruder Annes, Dr. Erich Dessauer, Rechtsanwalt in Stuttgart, wurde am 16. Oktober 1944 im KZ Theresienstadt ermordet; ein Stolperstein in Stuttgart erinnert an ihn. Seine Frau Emma hatte das Glück, den Schreckensort zu überleben. In Stuttgart eröffnete sie nach dem Krieg eine Buchhandlung mit angeschlossenem Zeitungsvertrieb.

Dr. Erich Dessauer, Frtz Max‘ Onkel

Annes Zwillingsschwester Julie Babette Berger, die in Berlin als Lebensmittelhändlerin lebte, wurde ermordet und zwar im Dezember 1942 im Vernichtungslager Auschwitz.

Auch die Familie von Edeltraud Erlanger, geb. Lapidas wurde von den deutschen Nazis ausgelöscht:

Ihr Vater, Samuel Rischmann Lapidas starb im Mai 1942 im Ghetto Litzmannstadt, Edeltrauds Mutter Erna Ernestine Lapidas starb am gleichen Ort im Oktober 1941. Zwei Monate später endete dort auch das Leben von Egon Julius Lapidas, dem 18 – jährigen Bruder Edeltrauds.

Zum Andenken an Fritz Max Erlanger wurde am zweiten Oktober 2013 ein Stolperstein vor dem ehemaligen Haus in der Göppinger Schillerstraße 33 gelegt.

Schillerstrasse 33

Drei Schülerinnen einer 10. Klasse der Göppinger Uhland – Realschule, Pervin Tango, Alina Ortner und Kathrin Bader hatten sich mit einem Vortrag auf die Zeremonie vorbereitet. Aus der Familie Erlanger war Frau Sarah Erlanger aus Zürich angereist, sie konnte über das Schicksal ihres Familienzweigs berichten.

Schülerinnen der Uhland-Realschule berichteten über das Schicksal von F.M.Erlanger. Sarah Erlanger spricht über ihren Familienzweig.

Ein Stolperstein für Fritz Max Erlanger liegt auch in Esslingen in der Mülbergerstr.146, da er drei Jahre lang als Lehrer an der ‚Wilhelmspflege‘ gearbeitet hatte.

Die Stolpersteininitiative bedankt sich bei Richard Fleischer (gest.), Betty Greenberg, Doris Rosenkranz (gest.), Eric Steiner (gest.) und Herbert Steiner für ihre Erinnerungen und den Fotos. Für das einzige Foto, auf dem Fritz Max Erlanger gut zu erkennen ist, danken wir der Tübinger Geschichtswerkstatt und Herrn Martin Ulmer im Besonderen. Herr Christian Pietà, Mitglied der ‚Initiative Jüdische Spuren in Bad Saarow‘, recherchierte die wichtigsten Informationen zu Edeltraud Erlanger, geb. Lapidas.

(02.12.2022 kmr)