Rosenstr. 3

Die Familie Adelsheimer

Die Familie Adelsheimer gehörte zwar nicht zu den ersten jüdischen Familien, die sich nach 1777  in Jebenhausen niedergelassen hatten, Leopold Adelsheimers Ur – Großeltern Siel und Salomon Löb Adelsheimer zogen aber schon 1796 von Korb/Möckmühl in das damals selbständige Dorf Jebenhausen. Der Familienname verweist auf eine Abkunft aus der Stadt Adelsheim im heutigen Neckar-Odenwald-Kreis, wo beispielsweise Bertha Tänzer geboren wurde.

Wie viele der jüdischen Familien waren auch Adelsheimers in der Textilbranche tätig: Leopolds Vater Salomon Adelsheimer (1836 – 1909) gründete im Jahr 1865 zusammen mit einem Ko-Gesellschafter die Firma ‚Adelsheimer & Walter‘, die bis 1893 bestand. Leopold Adelsheimer wurde am 17.12. 1874 in Jebenhausen als zweites von fünf Kindern geboren und lebte vermutlich seit der Jahrhundert-wende in Göppingen. Am 18. März 1912 heiratete er die fünf Jahre jüngere Ida Goetz, die aus Krumbach/Hürben stammte, einer jüdischen Landgemeinde in Bayerisch Schwaben.

Das Ehepaar Adelsheimer wohnte seit seiner Hochzeit in der Göppinger Rosen-straße 3 zur Miete.

Haus Rosenstr. 3

Das Stadthaus, Eigentümer war der Kaufmann Wilhelm Speidel, gehört zu einem Gebäudeensemble, das in den 1890er Jahre errichtet wurden und als ‚Göppingens erstes Villenviertel‘ gilt. Anfänglicher Wohnungsnachbar war die Familie des jüdischen Fabrikanten Ludwig Eisig. Leopold Adelsheimer hatte einen kaufmänni-schen Beruf erlernt und stieg später zum Prokuristen bei der bedeutenden Göppinger Textilfirma Gutmann auf.

Paulas Kindheit und Jugend

Am 3. September 1914 kam Paula Adelsheimer zur Welt und blieb das einzige Kind von Ida und Leopold. Leider ist sehr wenig über ihre Kinder- und Jugendzeit bekannt, die in die schlechte Jahre im und nach dem Ersten Weltkrieg fiel. Als Tochter aus dem Bürgertum dürfte sie die Mädchen-Oberrealschule (Schulgebäude heute: Mörike-Gymnasium) besucht haben, vermutlich hat sie auch an der jüdischen ‚Konfirmation‘, der Bat Mizwa teilgenommen, die in der ‚liberalen‘ jüdischen Gemeinde Göppingens für Mädchen üblich war. Ihr Vater Leopold hatte einige Ehrenämter in Organisationen der Jüdischen Gemeinde inne: Bei der Gemeindepflege, im Verein ‚Merkuria‘ im ‚Israelitischen Wohltätigkeitsverein‘ und im ‚Israelitischen Männer-Unterstützungsverein‘. Leopolds Engagement in der Israelitischen Gemeinde war aber bescheiden im Vergleich mit dem seines jüngeren Bruders Alexander, der in Ludwigsburg und später in Stuttgart als Religionsoberlehrer tätig war. Ida und Paula scheinen sich in der Gemeinde nicht beteiligt zu haben.

Alexander Adelsheimer (Quelle: Stadtarchiv Ludwigsburg)

Mit 16/17 Jahren hatte Paula vermutlich die Schule abgeschlossen und mit ihrer Berufsausbildung begonnen. Sie ließ sich zur Säuglings- und Kinderkranken-schwester schulen und hatte wahrscheinlich ein Vorbild in der Familie: Ihre Tante Sara Adelsheimer (1877- ca. 1965), die nächstjüngere Schwester ihres Vaters, war gelernte Krankenpflegerin, arbeitete im Frankfurter Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde und war seit 1925 Oberin des ‚Vereins für Jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt a. M. e.V‘. Anschließend, von 1929 bis 1935, arbeitete sie im Münchener ‚Israelitischen Kranken- und Schwesternheim‘, das seit 1931 als Israelitische Privatklinik geführt wurde, als Oberin. Es ist denkbar, dass Paula in Frankfurt ihre Ausbildung absolvierte, sicher ist nur, dass sie bei der Volkszählung im Mai 1939 in Frankfurt gemeldet war und zwar unter der Adresse des ‚Vereins für Jüdische Krankenpflegerinnen‘. Da zwischen einem Berufsabschluss ca. 1932 und dem Datum aus Frankfurt eine Lücke klafft, ist es möglich, dass Paula zuvor in einer (nicht-jüdischen?) Einrichtung gearbeitet hatte und aufgrund der diskriminierenden Nazi-Gesetze entlassen wurde. Es blieb für Paula schwierig, eine längerfristige Anstellung zu erhalten, denn den wenigen jüdischen Krankenpflegeeinrichtungen mangelte es an Geld und sie waren darüber hinaus von Zwangsschließungen bedroht.

Erster Wohnungswechsel: Leopolds Berufsverlust und Tod

Während Paula in berufliche Schwierigkeiten geriet, brach in Göppingen die bürgerliche Welt der ganzen Familie Adelsheimer zusammen. Das Adressbuch von 1937 dokumentiert den Wohnungswechsel der Familie von der Rosenstr. 3 in die Östliche Ringstr. 52, wo sie wieder auf einem Stockwerk zur Miete wohnte.

Haus Östliche Ringstr. 52

Zwar war auch dieses Haus eine ‚gute Adresse‘, was aber auffällt: Die Adelsheimer zogen in eine Wohnung, die eine jüdische Eigentümerin hatte, nämlich Frau Emilie Ott, geb. Veit. Es gibt aber keinen Beleg, dass die Familie Adelsheimer aus ihrer bisherigen Wohnung verdrängt wurde, die seit einigen Jahren Gustav Haueisen gehörte.

Mit dem Jahr 1938 intensivierten sich die Verkaufsverhandlungen zwischen der Göppinger Firma A. Gutmann & Co. G.m.b.H und dem Kirchheimer Textilunter-nehmen Kolb & Schüle. Die Gesellschafter der Firma Gutmann stammten aus jüdischen Familien und sahen zu Recht keine wirtschaftliche Perspektive für ihr Unternehmen im NS-Regime. Leopold Adelsheimer war einer von drei jüdischen Prokuristen, die bei der Fa. Gutmann arbeiteten und er begleitete in verantwort-licher Position den (erzwungenen) Verkauf des Unternehmens.
Der Lokalhistoriker Steffen Seischab schreibt: „Während Sigmund Gutmann bereits im Juli 1938 mit seiner Familie in die USA auswanderte, blieb sein Bruder Ernst einstweilen noch in Deutschland, um die Verhältnisse zusammen mit seinem Mitarbeiter Leopold Adelsheimer zu regeln.“
Was die neuen Eigentümer der Fa. Kolb & Schüle mit den jüdischen Angestellten des erworbenen Unternehmens vorhatten, geht aus einem Protokoll vom 1.11.1938 hervor: Nämlich, „dass in diesem laufenden Jahr auch dem letzten nicht arischen Vertretern gekündigt werden muss“. Leopold Adelsheimer gehörte zwar nicht zu den ‚Vertretern‘, es ist aber sicher, dass er spätestens nach der Pogrom-nacht seine Arbeitsstelle verloren hat und mit großer Wahrscheinlichkeit auch keine mehr finden konnte.

In der Pogromnacht vom 9. zum 10. November 1938 wurde aus der Östlichen Ringstr. 52 der Hausmitbewohner Richard Frankfurter verhaftet. Es ist möglich, dass auch Leopold Adelsheimer erfasst wurde und anschließend zwei Tage in einem der Göppinger Gefängnisse verbringen musste. Eine Verschickung in das KZ Dachau wäre ihm aufgrund seines Alters erspart geblieben, eine Gefängnis-Haft hätte aber eine schlimme Demütigung bedeutet. Leopold Adelsheimers erwähnter Chef Ernst Gutmann gehörte auch zu denjenigen, die verhaftet und im KZ Dachau gequält wurden. Er überlebte zwar das KZ und konnte im August 1939 nach England fliehen; aber physisch und psychisch geschwächt aufgrund der Misshandlungen im KZ starb er schon 1941, nur 60 Jahre alt, im New Yorker Exil.

Auch Leopold Adelsheimer starb verhältnismäßig jung, nämlich am 19. Januar 1940 in Göppingen und wurde auf dem Göppinger Friedhof/Israelitische Abteilung beigesetzt. Im Sterberegisterauszug ist zu lesen, dass Herr Adelsheimer aufgrund von ‚Arterienverkalkung, Zuckerkrankheit, Gehirnkrämpfe‘ verstorben sei.

Grab Leopold Adelsheimer

Abgesehen von seinem generellen Gesundheitszustand dürfte die gesellschaft-liche Degradierung Herrn Adelsheimers Gesundheit negativ beeinflusst haben. Sowohl Paula wie ihre Mutter Ida hielten sich nach Leopolds Tod für einige Wochen in Laupheim auf, wo Idas Schwester Betty, verheiratete Nathan und Idas ledige Schwester Martha Goetz wohnten. Suchten sie Trost bei der Verwandt-schaft? Wahrscheinlich half Paula für kurze Zeit im Laupheimer jüdischen Altenheim aus, das damals schon zu einer Zwangseinrichtung geworden war.

Am 31.07.1939 hatte Emilie Ott, um fliehen zu können, ihr Haus in der Östlichen Ringstraße verkaufen müssen, der nichtjüdische Käufer hieß Wilhelm Zimmer-mann. Herr Zimmermann war dabei so anständig, die (noch verbliebenen) jüdischen Vormieter, also die Familie Adelsheimer im 2. Stock weiter wohnen zu lassen, zumindest bis zum Einzug seiner Schwägerin. Als Ida Adelsheimer am 25. Juni 1940 von ihrer Schwester Martha Goetz Besuch erhielt, wohnte sie schon im ‚Judenhaus‘ in der Frühlingstr. 29.

Im ‚Judenhaus’ Frühlingstr. 29, Idas Tod

Ob und wenn ja, wie lange auch Paula in der Östlichen Ringstraße gewohnt hatte, lässt sich nicht belegen, es ist aber wahrscheinlich. Ebenso, dass Paula mit ihrer Mutter in die Frühlingstr. 29 wechseln musste.

Haus Frühlingstr. 29

Auch dieses große Stadthaus war zunächst im Besitz der jüdischen Familie Veit und wurde zum Zwangswohnort vieler jüdischer Göppinger Bürgerinnen und Bürger, die von der NS – Verwaltung aus ihren Wohnungen vertrieben oder von ‚arischen‘ Vermietern gekündigt worden waren. Die Vertriebenen lebten unter sehr beengen Verhältnissen (s. Frida Dettelbacher und Sofie Bodenheimer). Dort, am 16. Januar 1942, starb Ida Adelsheimer, der Sterbeurkunde nach an ‚Nieren-problemen‘, ‚Zuckerkrankheit’ und ‚Herzmuskelschwäche’. Die Göppinger Jüdin Hedwig Frankfurter schreibt am 29. Januar 1942 in einem Brief: „Letzthin ist Fr. Adelsheimer nach qualvollem Leiden gestorben und dadurch die arme Paula ganz verwaist. Sie kommt als Hilfe ins Heim nach Laupheim.“

Hatte die bedrückende Lebenssituation zu Idas frühem Tod mit 63 Jahren beigetragen? Wenigstens erfuhr sie eine ärztliche Betreuung, nämlich durch Frau Dr. med. Maria Haist-Hessenthaler, die (als Nicht-Jüdin) ihre jüdischen Patientinnen und Patienten auch in der NS-Zeit nicht im Stich ließ. Ob Ida Adelsheimer wie ihr Mann auf dem Göppinger Friedhof beigesetzt wurde, muss offenbleiben, denn auf dem Grabstein von Leopold Adelsheimer fehlt eine entsprechende Namens–Nennung.

Paula: letzte Berufsstellen, Deportation

‚Sie kommt als Hilfe ins Heim nach Laupheim‘, schreibt Hedwig Frankfurter zu Paulas Zukunft nach dem Tod ihrer Mutter. Mit ‚Laupheim‘ ist das dortige jüdische Altenheim am Judenberg 2 gemeint, in dem Paula vermutlich schon im Jahr 1940 kurz tätig gewesen war. Schon längst war das Heim zum Zwangsaltenheim geworden, so wurde am 21. Januar 1942 der verwitwete Göppinger Emil Hilb dort eingewiesen. Zuletzt lebten im Haus 15 Personen auf engem Raum, darunter auch Ida Adelsheimers Schwester Martha Goetz, also eine Tante von Paula. Wie ’freiwillig’ Paulas Einsatz als Pflegerin in Laupheim gewesen ist, lässt sich nicht überprüfen, Laupheim war auf jeden Fall ein Ort, an dem sich Paula auskannte.

Paulas Einsatz war jedenfalls sehr kurz, er dauerte vom 25. bis zum 29. Februar 1942, danach musste sie nach Stuttgart ziehen. Wo sie dort unterkam, ist nicht belegt. Das nächste überlieferte Datum aus ihrem Leben ist der 2. April des Jahres 1942 . An diesem Tag traf sie in Heilbronn / Sontheim im ‚Haus Dr. Picard‘ ein. Nach der zwangsweisen Auflösung des jüdischen Altenheims ‚Wilhelmsruhe‘ war das Haus des jüdischen Arztes Julius Picard als ‚Altenheim Sontheim‘ eingerichtet worden. Als Paula eintraf, stand das Haus aber fast leer. Nach ihr, am 18. Juli 1942 zog Gretchen (Margarete) Adelsheimer, geb. Seligmann aus Stuttgart mit ins Haus. Sie war Witwe von Paulas Onkel Alexander Adelsheimer, somit eine (angeheiratete) Tante und zudem eine Berufskollegin, denn Gretchen war ausgebildete Krankenschwester. Schon am 4. August musste Gretchen Adelsheimer das Haus Picard Richtung Stuttgart wieder verlassen.

Nach Stuttgart, in das Lager auf dem Killesberg wurden am 20. August auch Paula und die letzten zwei Bewohnerinnen des Haus Picard verbracht. Sie erlebten zwei schreckliche Tage und Nächte im Lager Killesberg, bis sie am 20. August im Zug vom Stuttgarter Nordbahnhof in das Ghetto KZ Theresienstadt deportiert wurden. Spätestens dort traf Paula wieder auf ihre Tante Gretchen, die die Leitung einer dortigen Krankenstation übernahm. Ob, was nahe liegt, auch Paula bei der Krankenversorgung mithalf, ist nicht überliefert. Beide Krankenschwestern wurden am 19. Oktober 1944 von Theresienstadt in das Vernichtungslager Auschwitz verbracht und schon am Ankunftstag ermordet.

Schicksale aus der engeren Verwandtschaft

Familie Goetz
Ebenfalls Ende August 1942 in das Ghetto KZ Theresienstadt deportiert wurde die 1880 geborene Martha Goetz, die jüngste Schwester von Ida Adelsheimer. Martha hatte zuletzt in Laupheim gelebt hatte, in der Enge des Zwangsaltenheims. Sie starb im KZ an den mörderischen Lebensbedingungen am 30. März 1943. Da Martha einige Monate auch in Göppingen bei ihrer Schwester Ida gewohnt hatte, wird sie auch in der Göppinger ‚Judenliste‘ aufgeführt. Marthas (und Idas) ebenfalls in Laupheim lebende Schwester Betty Nathan, geb. Goetz konnte am 17. Juni 1941 in die USA fliehen. Deren Tochter Frida (*1900) war in Göppingen mit Josef Walz verheiratet. Auch dieser Familie gelang die Flucht in die USA. Idas im München lebender Bruder Arnold Goetz (*1874) konnte sein Leben durch die Flucht nach Shanghai/China retten, wo er allerdings schon im Oktober 1945 starb. Er hatte sich 1940 unter Zwang von seiner katholischen Ehefrau scheiden lassen müssen.

Arnold Goetz (Quelle: Stadtarchiv München)

Idas ältester Bruder Gustav Goetz rettete sich und seine Familie ebenfalls durch Flucht in die USA.

Familie Adelsheimer
Die oben erwähnte Margarete (Grete/Gretchen) Adelsheimer, geb. Seligmann (*1886) hatte 1925 den verwitweten Alexander Adelsheimer, Bruder von Leopold geheiratet und wurde zur ‚zweiten Mutter‘ für die beiden Töchter aus Alexanders erster Ehe. Alexander Adelsheimer starb schon 1933; Margarete wurde, wie oben erwähnt, im Vernichtungslager Auschwitz ermordet. Für sie wurde in Stuttgart an der Hospitalstr. 36 ein Stolperstein verlegt. Ihre Stieftöchter konnten durch Flucht ihr Leben retten. Die ledig gebliebene Sara Adelsheimer (*1877), die als Krankenschwester wohl Paulas berufliches Vorbild gewesen war, konnte nach Palästina flüchten und starb in Israel im Jahr 1965 oder 1964. Idas jüngste Schwester Maja Mina (*1883), verheiratete/geschiedene Schulze floh in der Nazi-Zeit nach Norwegen und überstand dort auch die Besatzungs-Zeit.

Es ist vorgesehen, für Ida, Leopold und Paula Adelsheimer im Jahr 2025 Stolpersteine vor ihrem langjährigen ‚Zuhause‘ in der Göppinger Rosenstraße 3 legen zu lassen.

(17.12.2024 kmr)