Franklinstr. 5
„… aber sie waren sehr einsam“
Anfang 1936 zog die jüdische Familie Stern aus Nordeck/Hessen (heute Teilgemeinde der Stadt Allendorf) nach Göppingen. Es waren die 42-jährige Erna Stern, geb. Strauß und ihr ein Jahr älterer Mann Leo, zusammen mit ihren Kindern, Hilde Berta geb. 1929 und den Söhne Herbert Ludwig, geb.1920 und Berthold Artur, geb.1923. In Nordeck, einem Dorf mit damals ca. 550 Einwohnern hatten die Eheleute ein zunächst gut gehendes Textil – Einzelhandelsgeschäft betrieben, dem Erna Stern als Geschäftsführerin vor stand. Es ist überliefert, dass die Sterns im Ort ein Grundstück mit Wohnhaus besaßen. Familie Stern prägte die örtliche jüdische Gemeinde: Leos Vater Meyer Stern war bis 1923 Synagogenältester und Gemeindevorsteher, Leo ab 1932 Schatzmeister der Gemeinde. Die kleine jüdische Gemeinde von Nordeck hatte auch schon Zeiten des ausgeprägten Judenhasses erlebt, während NS – Regimes verhielt sich die nichtjüdische Mehrheit aber eher gemäßigt. So sorgte der Bürgermeister dafür, dass in der Pogromnacht die Synagoge nicht zerstört wurde.
Was die Familie Stern bewog, von Nordeck weg zu ziehen, ging aus den eingesehenen Akten nicht hervor. Leos Bruder Heinemann Stern, der schon lange seine Heimatstadt verlassen hatte, erinnerte sich aber: „1935, also noch in der sogenannten ‚guten alten Zeit‘, war ich in meiner Heimat. Niemand hat den (jüdischen – kmr) Leuten etwas getan. Aber sie waren sehr einsam. Sie gingen nur aus dem Hause, wenn sie unbedingt mußten. Nicht aus Angst, daß ihnen etwas geschehen könnte; nur um nicht immer wieder erfahren zu müssen, wie gemieden sie waren. Ich als Fremder und Besuch konnte es noch wagen, zu den alten Freunden ins Haus zu gehen, sie, die eingesessenen Juden nicht mehr.“ Von den jüdischen Familien verließ, wer konnte Nordeck in den folgenden Jahren, nur die arme Familie Lion hatte keine Chance zur Flucht, sie wurde 1941 und 1942 deportiert und ermordet.
Ebenso wenig lässt sich klären, warum die Sterns gerade nach Göppingen gekommen waren. Gab es vielleicht Kontakte, die über Geschäftsbeziehungen zustande gekommen waren? Ihre erste Göppinger Wohnung in der Franklinstr.5 gehörte nämlich der Unternehmerfamilie Rothschild, den Eigentümern einer Weberei in Uhingen. Betty Rothschild, eine 58-jährige Witwe muss der Familie Stern eine erheblichen Teil ihres Hauses überlassen haben, denn die Sterns konnten ihren gesamten Hausrat, einschließlich mehrerer Zimmereinrichtungen in Göppingen unter bringen. Anhand der Aufzählung erfährt man auch, dass die Familie Stern zwar für Pessach ein gesondertes Geschirr bewahrte, ansonsten aber keinen koscheren Haushalt führte.
Bei seinen Vermietern fand Leo Stern auch Anstellung: Zum einen sorgte er als Hausmeister für die Häuser Franklinstr. 5 und 7, die der Familie Rothschild gehörten und wahrscheinlich arbeitete er von März 1936 bis April 1937 zugleich in deren Uhinger Weberei, denn in AOK – Unterlagen wurde er als ‚Fabrikarbeiter‘ geführt. Vom Mai 1937 bis November 1938 war er in der Papierfabrik Eislingen tätig, die noch im Besitz der jüdischen Familie Fleischer war. Für sein Amt als Hausmeister erhielt Leo Stern 40 RM monatlich, allerdings durfte die Familie mietfrei wohnen. Zusätzlich verdiente er in der Papierfabrik etwa 160 RM monatlich brutto. Bei diesen recht mageren Einkünften wird wahrscheinlich auch Erna Stern gearbeitet und mitverdient haben, es lässt sich aber nicht belegen. Am 26. Juli 1938 verkaufte Betty Rothschild das Haus Franklinstraße 5 an das Württembergische Finanzministerium und am 10. November fand der NS – Landrat Alfred Nagel dort eine repräsentative Wohnung für sich. Sehr wahrscheinlich musste die Familie Stern darauf hin ausziehen. Es fällt auf, dass Leo Stern während der Pogromnacht vom 9. zum 10. November 1938 nicht verhaftet wurde. Er wird auch nicht als Häftling in einem der KZs geführt, in denen jüdische Männer nach der Pogromnacht inhaftiert wurden. Auch der knapp 18-jährige Sohn Herbert Ludwig hätte Opfer dieser Judenverfolgung werden können, aber vermutlich lebte er damals schon nicht mehr in Göppingen. Herbert Ludwig hielt sich eventuell eine Zeit lang in Frankfurt a. M. auf und gelangte schließlich nach Palästina.
Bertholds Hachschara und Flucht
Besser belegt ist der Weg des jüngeren Sohns Berthold Artur: Nach den Göppinger Unterlagen verzog der erst 15-jährige im Juni 1938 nach Rathenow / Brandenburg. Auch wenn diese Entscheidung im Nachhinein gesehen Bertholds Leben retten sollte, es war bestimmt eine schwere Entscheidung für die Eltern, ihren 15-jährigen Sohn einem ungewissen Schicksal zu überlassen. Bertholds Ziel war freilich nicht die Kleinstadt Rathenow, sondern das in der Nähe gelegene ‚Landwerk Steckelsdorf‘. Diese Einrichtung hatte einen zionistischen Hintergrund, denn hier sollten jüdische Jugendliche für das Leben in Palästina tauglich gemacht werden: ‚Hachschara‘ ist der hebräische Begriff, der das Ausbildungsziel dieser Stätte umriss, in der die Jugendlichen vor allem handwerklich und im landwirtschaftlichen Bereich qualifiziert wurden. Die Organisationsstruktur des ‚Landwerks‘ hatte den Kibbuz zum Vorbild und das Leitungskomitee organisierte auch die Auswanderung nach Palästina. Es scheint aber nur eine einzige 15 – köpfige Gruppe von Jugendlichen aus Steckelsdorf in den Nahen Osten gelangt zu sein, wie Ezra Ben Gershom aus eigener Erinnerung beschreibt. (In: David – Aufzeichnung eines Überlebenden) Somit ist es gut möglich, dass Berthold Artur Stern im September 1940 mit seinen Kameraden in Wien ein Donauschiff bestieg und im November den Hafen von Haifa erreichte, nachdem sie und die übrigen Flüchtlinge in Rumänien auf drei hochseetüchtige Schiffe übergesetzt hatten. Bevor die von der Fahrt erschöpften Menschen an Land gehen konnten, wurden die Schiffe vom britischen Militär aber gestoppt. Die Briten zwangen die Passagiere, von zwei der drei Flüchtlingsschiffen auf das Schiff ‚Patria‘ zu wechseln, mit dem die Menschen auf die Insel Mauritius verschleppt werden sollten. Um dies zu verhindern brachte die jüdische Kampforganisation ‚Haganah‘ einen Sprengsatz an der ‚Patria‘ an. Tragischerweise verschätzten sich die Kämpfer bei der Dosierung des Sprengmittels und das Schiff sank viel schneller als vorgesehen – ca. 270 jüdische Flüchtlinge starben im Hafen von Haifa, darunter aber keiner aus der Steckelsdorfer Gruppe und damit auch nicht Berthold Artur Stern. Den Überlebenden der ‚Patria‘ gegenüber zeigten sich die Briten gnädig und ließen sie doch noch an Land, die Passagiere des dritten Flüchtlingsschiffs wurden aber doch nach Mauritius verbannt.
Hilde Berta – auf der Jüdischen Schule
Während ihre Brüder sich auf die Flucht nach Palästina vorbereiteten, besuchte Hilde Berta die im September 1936 neu gegründete Jüdische Schule in Göppingen, für die das Rabbinerhaus in der Freihofstr.46 als Schulraum diente (siehe Biografie Fritz Max Erlanger). Ihr Name als Mitschülerin steht im Poesiealbum von Beate Dörzbacher, die diese Schule besuchte.
Auch wenn Hilde Berta hier vielleicht noch Kameradinnen und Kameraden finden konnte, wurde es um sie herum mit Sicherheit immer einsamer. Kaum noch jüdische Kinder lebten in Göppingen, die meisten der übrig gebliebenen sieht man auf dem Foto, das Inge Auerbachers Vater im Winter 1940 aufgenommen hat.
Mit ‚arischen‘ Kindern durfte sie keine Freundschaft pflegen. Hilde Berta Stern ist sehr wahrscheinlich das dritte Mädchen von links in der hinteren Reihe. Der Ort der Aufnahme, ist das ‚Judenhaus‘ in der Göppinger Metzgerstr.16, das der Familie Geschmay gehörte. Ob die Familie Stern nach ihrem Wegzug von der Franklinstraße und vor der Einweisung in die Metzgerstraße noch ein anderes Quartier gefunden hatte, ist ungeklärt. Ihren umfangreichen Hausstand hatten die Sterns sicher nicht mit in die Metzgerstraße nehmen können, so dass er wohl zugunsten des Finanzamts (also des NS-Staats) versteigert wurde. Gut möglich ist es, dass sich noch Teile ihrer Einrichtung im einen oder anderen Göppinger Haushalt finden ließen.
Heinemann Stern – ein ‚Promi‘ in der Familie
Leo Stern, geboren 1892 war der jüngste unter fünf Geschwistern. Zu überregionaler Bekanntheit gelangte sein 14 Jahre älterer Bruder Heinemann Stern. Dieser lernte den Beruf des Lehrers und wurde zu einem anerkannten Pädagogen, der didaktische und methodische Schriften verfasste. Seine schulische Karriere wurde gekrönt, als er der Vorsitzende des Jüdischen Lehrerverbands Deutschlands wurde. Daneben engagierte sich Heinemann Stern im ‚Zentral-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens‘, wo er zum Mitglied des Hauptvorstands aufstieg. Ein sehr interessantes Zeit – Zeugnis, in dem jüdisches Leben aus ‚Innensicht ‚ reflektiert wird, ist sein nach der Emigration geschriebenes Buch „Warum hassen sie uns eigentlich?“
Im Mai 1940 flohen Heinemann und seine Frau nach Rio de Janeiro, nicht, ohne sich zuvor von den Verwandten zu verabschieden: „In München nehmen wir noch einen Tag Aufenthalt, um von meinem jüngsten Bruder und seiner Familie, die aus Göppingen herübergekommen sind, Abschied zu nehmen. ( … ) Wir haben meine Schwester in Berlin (ihre beiden Mädchen in Holland) und einen Bruder mit Frau und Kind in Süddeutschland zurückgelassen. Aus den letzten Briefen Ende des Jahres 41 war zu ersehen, daß sie stündlich mit dem Abtransport rechneten.“
Die Stunde der Deportation…
… begann am 28. November 1941, als Erna, Hilde Berta und Leo Stern von Göppinger Polizeibeamten zum Bahnhof geführt wurden. Sie gehörten zu den ersten Juden, die aus Göppingen deportiert wurden, sieht man von der ‚Polenaktion’ im Oktober 1938 ab. Insgesamt 39 Personen, darunter neun Kinder und Jugendliche im Alter zwischen drei und 14 Jahren wurden erfasst. Drei Tage nach der Verhaftung in Göppingen fuhr der Deportationszug vom Stuttgarter Nordbahnhof ab und erreichte abermals drei Tage später die lettische Stadt Riga, wo die Göppinger zusammen mit etwa 1000 Jüdinnen und Juden im Landgut ‚Jungfernhof, einige Kilometer außerhalb der Stadt untergebracht wurden. Über das Elend der Fahrt, der Ankunft in Riga und die grausamen Lebensbedingungen hat der damals 14-jährige Richard Fleischer berichtet.
Die meisten der jüdischen Göppinger aus dem ‚Jungfernhof‘ wurden am 26. März 1942 ermordet: In nahe liegende Wälder gebracht und über ausgehobenen Gruben erschossen. Die Täter waren deutsche SS und ‚Sicherheitspolizei‘ unterstützt durch lettische Hilfspolizisten. Wahrscheinlich ist, dass auch Erna, Hilde Berta und Leo Stern auf diese Weise ums Leben gebracht wurden.
Während von Erna Sterns engerer Verwandtschaft, der Familie Strauss aus dem bayerisch-schwäbischen Binswangen, niemand ermordet wurde, gab es leider noch weitere Opfer aus der Verwandtschaft von Leo Stern: Leos fünf Jahre ältere Schwester Berta hatte Julius Hess geheiratet und mit ihm die Zwillinge Hannelore und Rosemarie bekommen. Nach der Scheidung von Julius lebte Berta in Berlin-Steglitz wo sie seit 1934 ein eigenes Lebensmittelgeschäft führte, das erfolgreich bis 1938 bestand. Ihre beiden Töchter lebten seit Anfang 1939 in Utrecht / Niederlande (Wer gab den 13-jährigen Kindern Zuflucht?). Im Jahr 1943, die Niederlande waren von Nazi-Deutschland besetzt worden, wurden die Zwillinge über das Lager Westerbork nach Sobibor deportiert und dort am 5. März ermordet. Zu diesem Zeitpunkt lebte ihre Mutter schon nicht mehr: Berta Hess wurde 1941 gewaltsam aus Berlin weggebracht, es ist aber nicht bekannt, wo sie im gleichen Jahr ermordet wurde.
Die beiden Söhne von Erna und Leo Stern wohnten zunächst in Israel, wanderten aber um 1960 in die USA aus. Herbert Ludwig Stern lebte und arbeitete in Denver/Colorado als ungelernter Fabrikarbeiter, Berthold Artur (Abraham) Stern wohnte in New York. Nachfahren von Heinemann Stern leben in Israel und in Brasilien.
Am zweiten Oktober 2013 wurden die Stolpersteine zum Andenken an Erna, Hilde Berta und Leo Stern vor dem Haus in der Göppinger Franklinstraße 5 gelegt, wo die Familie zunächst eine großzügige Aufnahme gefunden hatte.
(22.07.2023 kmr)
outros descendentes de Heinemann Stern, moram no Brasil. São os filhos e descendentes de Seu filho Ludwig Alfred Stern que se casou com Margot Levy. Em Israel estão os descendentes da filha de Heinemann, Margareth
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Roberto Stern schreibt:
Weitere Nachkommen von Heinemann Stern leben in Brasilien. Sie sind die Kinder und Nachkommen seines Sohnes Ludwig Alfred Stern, der Margot Levy heiratete. In Israel leben die Nachkommen von Heinemanns Tochter Margareth.