Vorderer Berg 23 (Jebenhausen)
„Ich bin sehr glücklich und dankbar, dass ihr meiner seligen, guten Oma einen Stolperstein setzen wollt“, schrieb Inge Auerbacher aus den USA, als sie von dem Stolperstein-Projekt hörte. Denn ihre Jebenhäuser Großmutter Betty Lauchheimer wurde 1942 in Riga ermordet. Betty Lauchheimer, geb. Leiter kam am 11. April 1883 in Aufhausen / Neresheim zur Welt. Sie war eines von 14 Kindern von Malchen und Heinrich Leiter, einer religiösen jüdischen Familie. Viele von Bettys Geschwistern starben schon als Kleinkinder, ihre Brüder Josef und Moritz fielen als deutsche Soldaten im ersten Weltkrieg. Am 8. Mai 1903 heiratete sie Max Lauchheimer, der in Jebenhausen geborenen wurde und den Beruf eines Viehhändlers ausübte.
Die Vorfahren von Max Lauchheimer gehörten zu den ersten jüdischen Familien, die sich 1777 in Jebenhausen nieder gelassen hatten. Mitte der 1930er Jahren war die Familie Lauchheimer aber die einzige der ‚alten’ jüdischen Familien, die noch in Jebenhausen wohnte. Schon im 19. Jahrhundert waren viele der Jebenhäuser entweder nach Übersee ausgewandert, oder hatten sich in Göppingen und anderen Städten der Umgebung nieder gelassen. Max wurde am 13. Juni 1871 als zweites von sechs Geschwistern geboren. Zwei Schwestern starben schon im Kindesalter, die anderen Geschwister verließen Jebenhausen schon in frühen Lebensjahren.
Im Ersten Weltkrieg wurde Max als „Landsturmmann“ eingezogen. Bei älteren Jebenhäuser Bürgerinnen und Bürgern hielt sich noch lange die Erinnerung an Max Lauchheimer, der ein ‚Original’ gewesen sein muss: Vor allem seine witzigen Begrüßungs – Varianten blieben im Gedächtnis.
Zwei Kinder und eine Enkelin
Betty und Max lebten in Jebenhausen im Wohn- und Geschäftshaus am Vorderen Berg 23 und hatten zwei Kinder, Regina, geboren 1905 und Karl, geboren 1907. Karl heiratete 1933 Gertrud Blumenthal, die aus Laupheim stammte, beide lebten bis Juni 1938 in Jebenhausen, dann flüchtete das kinderlose Paar in die USA. Anlass der Flucht war nicht zuletzt, dass Karl als Jude von den Nazi-Behörden keine ‚Reiseerlaubnis’ als fahrender Händler erhielt.
Tochter Regina wählte 1928 den Kippenheimer Textilhändler Berthold Auerbacher zum Ehemann und zog mit ihm in dessen badische Heimat, wo am 31.12.1934 ihre Tochter Inge zur Welt kam.
Pogromnacht in Kippenheim
Ein schwerwiegender Einschnitt in der Geschichte der Familie war die Pogromnacht vom 9. / 10. November 1938. Inge Auerbacher schildert in ihrem Buch ‚Ich bin ein Stern’ sehr drastisch, wie gewalttätig die Nazis gegen die Juden der kleinen Stadt vorgingen waren. Sie selbst hatte Glück, nicht von einem Stein getroffen zu werden, der durch das Fenster ihrer Wohnung geworfen wurde. Schlimme Folgen hatte die Pogromnacht auch für Max Lauchheimer, der mit seiner Frau Betty gerade in Kippenheim zu Besuch weilte. Er wurde genau so wie die Kippenheimer jüdischen Männer, darunter sein Schwiegersohn Berthold verhaftet und am übernächsten Tag ins KZ Dachau deportiert. Wäre Max Lauchheimer an diesem fatalen Tag in Göppingen / Jebenhausen gewesen, wäre er wahrscheinlich nicht ins KZ Dachau verbracht worden. Max war zu dieser Zeit 67 Jahre alt und kein jüdischer Göppinger dieses Alters wurde nach Dachau deportiert, wo Max bis zum 22. November gequält wurde.
In Folge der Pogromnacht wurde Berthold Auerbacher die Geschäftstätigkeit untersagt und die Familie zog im Mai 1939 ins Haus der Schwiegereltern nach Jebenhausen. Die Tochter Inge wird sich später lebhaft und positiv an ihre Kindheit bei den Großeltern in Jebenhausen erinnern. Nicht einmal fünf Jahre alt war sie damals – die folgenden zwei Jahre sollten mit die schönsten ihres Lebens werden.
Inge war Bettys einziges Enkelkind und fand hier bei der Oma eine Kinderwelt voller Geborgenheit und Glück, an die sie sich noch heute gut erinnert: Inge, wie sie der Großmutter beim Kuchenbacken helfen durfte, wie sie mit ihrem Schlitten den Vorderen Berg hinunter sauste oder wie sie an Feiertagen an Großvaters prächtig gedecktem Tisch saß. Doch das Glück hielt nicht lange an. Inges Opa Max Lauchheimer starb am 26. Mai 1939. Nach der Haft im KZ Dachau war seine Gesundheit erheblich beeinträchtigt worden. Inge Auerbacher schreibt: „Großvater starb bald an gebrochenem Herzen. Seine Krankheit und die Enttäuschung über das Land, das er liebte, waren zu viel für ihn.“
Die Initiative Stolpersteine entschied sich, auch für Max Lauchheimer einen Stolperstein setzen zu lassen. Die Patenschaft für den Stein übernahm der Verein Haus Lauchheimer.
Das Ende der Hausgemeinschaft – Bettys Tod
Nach Max Tod beherbergte Betty Lauchheimer für kurze Zeit die aus Göppingen stammende Jüdin Johanna Frey Inge Auerbacher erinnert sich, dass „das Fräulein Frey“ wie ein Familienmitglied behandelt worden sei. Bald wurde die harmonische Hausgemeinschaft auseinander gerissen. Betty Lauchheimer wurde am ersten Dezember 1941 zusammen mit weiteren 26 Göppingerinnen und Göppingern von den Nazis nach Riga / Lettland deportiert und im Lager Jungfernhof fest gehalten. Starb Betty an den mörderischen Bedingungen in diesem Gutshof, der keineswegs für die Aufnahme vieler hundert Menschen geeignet war? Viele der dort eingepferchten Menschen erfroren schon im Winter 1941 / 1942, die meisten der Überlebenden wurden im März 1942 im Waldstück Bikernieki vor ausgehobene Gruben gestellt und von ‚Einsatzgruppen’ oder lettischen Hilfswilligen erschossen.
Familie Auerbacher: Aus dem Haus vertrieben
Nach Bettys Vertreibung und Ermordung raubte der NS – Staat ihr Haus in Jebenhausen und überlies es gegen Miete einer ‚arischen’ Familie. Berthold, Regina und Inge Auerbacher mussten in das ‚Judenhaus’ in der Göppinger Metzgerstraße 16 einziehen, das dem Ehepaar Pauline und David Geschmay gehörte.
Aus dieser Zeit stammt ein wichtiges Dokument, nämlich ein Foto, das Berthold Auerbacher vor dem Haus in der Metzgerstraße 16 aufgenommen hat: Darauf sieht man acht Kinder, darunter Inge. Einzigartig ist das Foto deshalb, weil es für die meisten der Kinder das letzte bzw. einzige Dokument bleiben sollte, auf dem sie vor ihrer Ermordung zu sehen sind.
Das beengte Leben in diesem ‚Judenhaus’ dauerte aber nicht lange. Am 20.August 1942 wurde die Familie Auerbacher zusammen mit weiteren 23 Göppin ger Bürgerinnen und Bürgern ins KZ Theresienstadt deportiert und lebte dort, von Hunger geschwächt, medizinisch mangelhaft versorgt und immer in der Angst vor dem Transport in die Vernichtungslager. Inge Auerbacher beschreibt in ‚Ich bin ein Stern’ das armselige, von Krankheiten bedrohte Leben in der alten Festung sehr anschaulich, Inge zum Beispiel erkrankte an Scharlach.
Doch Regina, Inge und Berthold hatten das Ausnahme – Glück zu überleben und wurden am 8. Mai 1945 von der Roten Armee befreit. Ihre Großmutter Betty sah Inge freilich nie wieder …
Nach ihrer Befreiung lebte die Familie Auerbacher noch kurze Zeit in Göppingen, wanderte aber im Mai 1946 in die USA aus. Inge Auerbacher arbeitete als Chemikerin und ist als Verfasserin mehrerer Bücher bekannt, darunter das erwähnte autobiografische Jugendbuch ‚Ich bin ein Stern’, das wir unbedingt als Lektüre empfehlen. Die Jahre seit dem Ende ihres Berufslebens widmet Frau Auerbacher ihrer Mission für Toleranz und friedlichem Miteinander, wofür sie vielfach geehrt worden ist.
Ermordete Verwandte
Zwei jüngere Schwestern von Betty Lauchheimer wurden ebenfalls von den Nazis ermordet: Rosa Leiter starb wie Betty zwischen Ende 1941 und März 1942 in Riga / Lager Jungfernhof, ihre Schwester Mina Leiter wurde im Rahmen der T4-Aktion als psychisch Kranke im Oktober 1940 in der Tötungsanstalt Grafeneck ums Leben gebracht.
Bettys Schwägerin Babette Leiter, geb. Pappenheimer wurde am 1. Dezember 1941 ebenfalls ins Lager Riga / Jungfernhof deportiert, wo sie ermordet wurde. Zuvor war die Witwe im Schloss Weißenstein, im Landkreis Göppingen, das als Zwangswohnheim für alte jüdische Menschen missbraucht wurde, einquartiert worden
Auch die Familie Auerbacher hatte Opfer zu beklagen: Betroffen waren Berthold Auerbachers Schwester Klara Breslau, geb. Auerbacher, ihr Mann Paul und die 18-jährigen Tochter Lore. Vom Wohnort Frankfurt / M. wurde die Familie Breslau im Oktober 1941 ins Ghetto Litzmannstadt (Lodz) deportiert und dort oder in einem Vernichtungslager ermordet. Für sie liegen Stolpersteine in Frankfurt.
Im April 2007 legte Gunter Demnig den Stolperstein für Betty Lauchheimer vor dem Wohnhaus Vorderer Berg 23, Jebenhausen. Die Enkelin Inge Auerbacher erinnerte bei der Zeremonie mit bewegenden Worten an das zerstörte Leben ihrer Großeltern.
Der Stolperstein für Max Lauchheimer wurde im Oktober 2017 gesetzt.
(14.10.2017 kmr)
Die Arbeit mit den Stolpersteinen, dem Vergessen entgegen zu wirken… ist eine
sehr wertvolle und wichtige Arbeit.
Denn es darf sich diese Menschenverachtung von Staat toleriert und gefördert….nie mehr widerholen!!!
Gerade heute, wo der Faschismus überall wieder sein hässliches Haupt erhebt…., gilt es wo es geht dagegen anzuschreiben und die Geschichte immer wieder Öffentlichkeit schenken!!
Vielen Dank dafür und weiter so..