Metzgerstr. 16
Die Stolpersteine liegen vor dem ehemaligen Haus Metzgerstr. 16; das Haus wurde abgebrochen.
Beide waren so starken und kämpferischen Mutes …
Am 25.12.1859 kam im böhmischen Ronsperg (heute Pobezovice / Tschechien) David Geschmay zur Welt, als achtes von zehn Kindern von Karoline und Salomon Geschmay. In der Stadt lebten seit Jahrhunderten Jüdinnen und Juden, der Ort war der Schauplatz von innerjüdischen religiösen Konflikten und der Begründer des Chassidismus, Bal Shem Tov hielt sich mehrfach in Ronsperg auf. David Geschmays Eltern verließen die Böhmische Heimat und ließen sich in Windsheim nieder, wo Salomon Geschmay am 30.August 1888 das Bürgerrecht erhielt. Sechs Jahre nach Davids Geburt, am 25.03. 1865 wurde Pauline Schloßberger in Hollenbach bei Künzelsau geboren, ihre Eltern waren Halma, geb. Strauß und Moses Baruch Schloßberger. Auch Pauline stammte aus einer kinderreichen Familie, sie hatte fünf ältere und ein jüngeres Geschwister. Aus der Kindheit und Jugend von David Geschmay und Pauline Schloßberger ist nichts überliefert. Schon in Windsheim war David Geschmay als innovativer Kaufmann tätig, so vertrieb er 1892 Hochräder aus englischer Produktion.Über ihre Großeltern, die 1888 in Mergentheim geheiratet hatten, schreibt Anna Laura Geschmay Mevorach: „Oma Pauline Schloßberger war nach Meinung meines Großvaters David die schönste Frau, die er je kennen gelernt hatte. Beide waren so starken und kämpferischen Mutes, dass sie im Eifer einer Auseinandersetzung ein Stuhlbein zerbrechen konnten. In Windsheim bekamen Pauline und David im Jahr 1890 ihre erste Tochter Milly genannt, ein Jahr später folgte Erna, 1893 wurde Irma geboren und 1900 der Sohn Hans Walter.
In Windsheim handelte David Geschmay zunächst mit Textilwaren und eröffnete im Februar 1884 ein eigenes Geschäft für ‚Tuch-, Schnitt – & Modewaaren‘. Aber er interessierte sich auch für die moderne Gebrauchstechnik und vertrieb in den 1890er – Jahren Nähmaschinen und wie erwähnt Fahrräder. Neben seiner Berufstätigkeit engagierte sich David Geschmay über 15 Jahre lang bei der Freiwilligen Feuerwehr in Windsheim und wirkte als Trainer in einem Turnverein.
Die ‚Württembergische Filztuchfabrik‘
1910 zog die Familie nach Göppingen, wo David Geschmay eine 1860 gegründete Filztuchfabrik kaufte. David und später sein Sohn Hans strukturierten den handwerklich geprägten Vorgängerbetrieb um. Das neue Unternehmen wurde zu einer industriell produzierenden Fabrik und firmierte als ‚Württembergische Filztuchfabrik D. Geschmay o.H.G..‘ Die Fabrik befand sich in der Metzgerstraße, wo auch das Wohnhaus der Geschmays stand. Industriefilze zur Papierherstellung waren ein gefragtes Produkt, die Geschmays wurden erfolgreiche Geschäftsleute und angesehene Bürger Göppingens. In seinem Buch über die Jebenhäuser und Göppinger Juden schreibt Dr. Tänzer im Jahr 1927: „Das Unternehmen wurde in den letzten Jahren wesentlich vergrößert und besitzt heute eine eigene Turbinenwasserkraftanlage, Wollwaschanlage, Spinnerei, Weberei und Appreturanlage, darunter Webstühle bis zu 12m Breite.“
Zu dieser Zeit waren auch schon Davids Sohn Hans Geschmay und Leo Neuburger, Ehemann der Tochter Irma als Teilhaber in das Unternehmen eingetreten. Von Davids Schaffenskraft kann seine Enkelin Dr. Geschmay Mevorach berichten: „Zu den Erinnerungen an meine Kindheit oder eher an das, was man uns darüber erzählte, gehört, dass eines Tages Eis die Turbinen blockierte, die unserer Fabrik Energie lieferten. Mein Großvater David bahnte sich einen Weg auf das Eis, bis er mit viel Wagemut und unter einiger Gefahr die Turbine erreichte, von der er das Eis mit den Händen abriss, um sie wieder in Betrieb zu setzen. Ich weiß nicht, in welchem Jahr das geschehen ist, aber sprichwörtlich war dabei der Mut meines Großvaters. Die Arbeit war heilig, und nichts hätte sie stoppen sollen.“
Auch an das Wesen ihrer Großmutter erinnert sich Dr. Anna Laura Geschmay Mevorach: „Oma Pauline war eine charaktervolle Frau und wollte, dass die kleine Hannelore (Anna Laura) mit Sinn für Selbstdisziplin und Selbstbeherrschung aufwachse. Sie kam den Hügel herauf, der zu unserem Haus führte, besuchte uns fast an jedem Nachmittag und hatte Süßigkeiten dabei. Eines Tages kam sie mit einer Art kleinem Pappkoffer und verbot mir absolut, ihn ohne ihre Erlaubnis zu öffnen. Später begriff ich, dass dies dazu diente, mich zur Selbstbeherrschung zu erziehen.“
Zur Religiosität ihrer Großeltern schreibt die Enkelin: „Es ist anzumerken, dass das jüdische ‚Ostern‘ (Pessach) in unserem Haus vollkommen unbeachtet blieb. Ich schließe nicht aus, dass es hingegen von meinen Großeltern irgendwie eingehalten wurde. Ich hörte von vielerlei Geschirr für die Osterzeit sprechen: Es war ein doppeltes Service vorhanden.“
Die ‚Affäre Neuburger‘- Lynchjustiz in Göppingen
Schon in den ersten Monaten der Nazi-Herrschaft erfuhr ein Familienmitglied, nämlich Leo Neuburger, Gatte der Tochter Irma, was es bedeutete, als Jude im Nazi-Staat zu leben. David Block, ein geflüchteter jüdischer Göppinger, schildert 1966 in einem Brief an Georg Weber den Übergriff vom 6. Juli 1933:
„Sie kennen doch die Sache mit Herrn Neuburger, Schwiegersohn eines Herren Geschmay Filztuchweberei, der von einer johlenden Menge unter Führung dieses Oesterreichers (= NS-Ortsgruppenleiter Wilhelm Oesterreicher – kmr) aus seinem Hause mit Gewalt herausgeschleppt wurde unter dem Vorwande, er hätte ein Verhältnis mit einer Arbeiterin von seinem Betrieb, er sei ein Rasseschänder etc. Oesterreicher schlang um den Hals des Herren Neuburger ein langes Seil, machte einen Knoten und dann trieb ihn die entfesselte Menge durch die Straßen Göppingens mit einem Plakat vorne und hinten mit der Aufschrift ‚Ich bin ein Jude, ein Rassenschänder‘. Er mußte unter jeder Straßenlampe dasselbe sagen und wenn er es nicht tat, dann gab ihm Oesterreicher mit seinen hohen Stiefeln einen Tritt in den Rücken, so daß der Arme hinfiel und dann zog Oesterreicher ihn an dem langen Seil aufwärts. So ging das bis zum Polizeigebäude, wo ihn die Polizei in Schutzhaft nehmen wollte. Aber Oesterreicher zog mit dem Seil rückwärts, wobei Neuburger fast erstickt wurde. Der Polizeikommissar Wolf, den ich sehr gut kannte, nahm sein Messer und schnitt das Seil durch. Neuburger kam nach Dachau und ist dann später gestorben.“
Auch die ‚Göppinger Zeitung vom 7. Juli 1933 thematisierte den Übergriff, stellte die Situation aber so dar, als ob die Polizei Herrn Neuburger vor einer Menschenmenge geschützt habe. Die zentrale Rolle von Wilhelm Oesterreicher kam dabei nicht zur Sprache. Im Übrigen hielt die gleichgeschaltete Zeitung den Gewaltakt für gerechtfertigt und schloss mit den Worten: „Deutsche Volksgenossen, seid wach! Nennt uns die ‚Kavaliere‘ und die Nichtjüdinnen mit Namen, die es jetzt noch wagen, die deutsche Rasse zu schänden. An den Pranger mit ihnen! Künftige Geschlechter werden uns dankbar sein.“
Es trifft wahrscheinlich zu, dass Leo Neuburger ein außereheliches Verhältnis hatte – nichts Ungewöhnliches. Aber nur weil er den Nazis als ‚Jude‘ galt, wurde er auf diese Weise gedemütigt. Anders als Herr Block sich erinnert, konnte Leo Neuburger, der 1935 nach Stuttgart gezogen war, später nach Montevideo / Uruguay fliehen, wo er 1965 starb.
Schon im Juli 1934 war seine Frau, die kinderlos geblieben Irma Neuburger, geb. Geschmay im Stuttgarter Karl Olga Hospital gestorben. Begraben wurde sie auf dem Stuttgarter Pragfriedhof, das Grab mit der Nummer 2918 erinnert an sie.
Kurz nach ihrem Tod schied Leo Neuburger aus der Firma Geschmay aus, auch sein Anteil als Gesellschafter wurde ihm ausgezahlt.
‚Euthanasie‘ – Mord an der Tochter Milly Rosenwald
Erstes Mordopfer in der Familie wurde die älteste Geschmay – Tochter Milly, die 1913 Justin Rosenwald geheiratet hatte. Das Paar lebte in Nürnberg, wo Justin Rosenwald seit 1912 einer der beiden Gesellschafter der ‚Nürnberger Stoffspielwaren Fabrik‘ war. Im Mai 1914 kam das gemeinsame Kind Bruno zur Welt. Ende der 1920er – Jahre erkrankte Milly psychisch und lebte seit Juli 1929, unterbrochen von mehreren probeweisen Entlassungen in der Heil- und Pflegeanstalt Erlangen. Als die Nazis beschlossen, psychisch Kranke zu ermorden (T4 – Aktion, als ‚Euthanasie‘ = schöner Tod bezeichnet), wurde Milly am 16.09.1940 in die Heil – und Pflegeanstalt Eglfing-Haar bei München verlegt, freilich nur eine Zwischenstation vor der Ermordung. Schon vier Tage später wurde sie weiter deportiert. Offiziell war das Ziel eine ‚Irrenanstalt‘ in Cholm (Chelm) bei Lublin im besetzten Polen. Diese existierte zu diesem Zeitpunkt aber gar nicht, es handelte sich um eine Tarnadresse. Wahrscheinlich wurde Milly Rosenwald in der Tötungsanstalt Hartheim bei Linz in Österreich mit Kohlenmonoxid – Gas ermordet. Seit 2007 liegt in Erlangen vor der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt ein Stolperstein, der an Milly Rosenwald erinnern soll. Leider sind sowohl der Name wie die Lebensdaten von Milly fehlerhaft wieder gegeben.
Ihr Gatte Justin und ihr Sohn Bruno lebten schon seit Mai 1935 in Göppingen. Justin, der sein Nürnberger Unternehmen schließen musste, arbeitete als Geschäftsführer bei seinem Schwiegervater David Geschmay. Doch schon im Mai 1938 starb Justin Rosenwald, womöglich war unzureichende medizinische Versorgung für seinen frühen Tod mit verantwortlich. Sein Grab befindet sich auf dem Göppinger Friedhof.Justins Sohn Bruno Rosenwald floh ins britische Mandatsgebiet Palästina, dem späteren Israel, wo er mit seiner Frau Ruth, geb. Gutmann drei Kinder hatte.
Erna Neuburgers Flucht in die USA
Erna, die zweitgeborene Tochter von Pauline und David Geschmay, hatte 1921 den jüdischen Unternehmer Sali Neuburger geheiratet und lebte mit ihm in München. Sali Neuburger hatte 1919 einen Großhandel für Holzbearbeitungsmaschinen übernommen, einen florierenden Betrieb. Bald stellte sich Nachwuchs ein, der Sohn Franz wurde 1922 geboren, sieben Jahre später kamen die Zwillinge Kurt und Paul zur Welt. Schon nach drei Monaten starb aber der kleine Kurt. Nach der Pogromnacht 1938 musste Sali Neuburger sein Geschäft aufgeben. Die Familie hatte sich schon zuvor keine Illusionen über die Absichten der Nazis gemacht. Der Sohn Franz floh als 16-jähriger schon im Mai 1938 nach Großbritannien – eventuell im Rahmen der ‚Kindertransporte’. Der übrigen Familie gelang im März 1939 die Flucht in die USA, wo sie sich in San Francisco nieder ließ und den Familiennamen in ‚Newton’ änderte. Erna Newton, geb. Geschmay starb dort im Dezember 1981, sie überlebte ihren Mann um über 21 Jahre. Ihr jüngerer Sohn Paul Newton lebte bis ins Jahr 2004. Leider konnten wir über das Leben des in Großbritannien verbliebenen Sohns Franz nichts erfahren. Auf jeden Fall gelang es Ernas Familie, sich vor den Nazis zu retten, was leider nicht für die Angehörigen ihres Mannes gilt: Ernas Schwiegermutter Jette Neuburger starb im Juni 1942 im KZ Theresienstadt, ihre Schwägerin Klara Neuburger wurde im April 1942 von München ins Ghetto Piaski deportiert und anschließend ermordet.
Anneliese und Hans Gechmay im faschistischen Italien
Bedroht blieb das Leben von Hans Geschmay und seiner Frau Anneliese, geb. Hecht auch nach ihrer Flucht aus Deutschland. 1936 waren sie mit ihren Kindern Hannelore, geb.1931 und Dorothea, geb.1935 ins Italien Mussolinis gezogen. Schon einige Zeit zuvor hielt sich Hans Geschmay vorwiegend in Italien auf, um dort eine neue Fabrik zu errichten, die ihm und seiner Familie als Lebensgrundlage dienen sollte: Die „Feltrificio Veneto“. Diese Fabrik und das nahe gelegene, gemietete Wohnhaus lagen in der venezianischen Stadt Marghera. Die kleine Anna Laura (Hannelore) Geschmay erlebte auch hier den Antisemitismus, der durch das Bündnis Italiens mit Nazideutschland spürbar wurde: So durfte sie keine öffentliche Schule mehr besuchen, konnte allerdings an den Abschlussprüfungen teilnehmen. Schon 1938 gelang es Hans Geschmay, den Aufenthaltsstatus in Italien zugunsten seiner Familie zu klären. Mit Hilfe eines angesehenen faschistischen Anwalts ließ er sich bestätigen, dass sein Betrieb in Marghera für die Staatswirtschaft wichtig sei und dass nur er die geeignete Person sei, die ihn leiten könne. Ein freudiges Ereignis: 1937 wurde die dritte Tochter geboren, die den Namen Silvia erhielt. In Lebensgefahr geriet die Familie nach dem 8. September 1943, als Italien sich von Nazi-Deutschland löste. Vor den deutschen Besatzungstruppen musste sich die Familie fernhalten. 20 Monate dauerte die Zeit der Angst und des Versteckens, die Familie zog von der einen zur anderen Zufluchtsstätte, die Antifaschisten ihnen vermitteln konnten. Einige Zeit kamen die drei Töchter in einem Waisenhaus unter, wo die Eltern nur ein Mal die Woche zu Besuch kommen konnten. Erst Ende April 1945 konnte die Familie in ihr verwüstetes Haus in Marghera zurückkehren, die Fabrik war freilich weitgehend ausgebombt worden. Hans – jetzt Giovanni – Geschmay musste sich 1945 auch noch bemühen, das Firmenvermögen seiner italienischen Fabrik wieder zurück zu erhalten, das der Nazi – Deutsche ‚Kommissar‘ Robert Klingeisen an sich gebracht hatte.
David und Pauline allein in Nazi-Deutschland
Schon vom Juni 1934 ist ein Übergriff auf David Geschmay belegt. Am Abend des 7. Junis versammelte sich eine größere Gruppe von ‚Hitlerjugend’ und ‚Jungvolk’ zu einer lärmenden Demonstration vor dem Wohnhaus von Herrn Geschmay. Er wurde gezwungen, vor sein Haus zu treten und sich von den aufgehetzten Jugendlichen als ‚Jugendfeind’ beschimpfen zu lassen. (In: ‚Göppingen unterm Hakenkreuz’, S. 188f)
Pauline Geschmay blieb auch in der Nazi – Zeit eine mutige, engagierte Frau. 1935 sammelte sie Unterschriften gegen die sogenannten ‚Nürnberger Gesetze‘, mit denen Juden als minderwertig erklärt wurden und viele bürgerliche Rechte verloren. Ihr tapferer Einsatz ließ sie zur Heldin der Jüdischen Gemeinde Göppingens werden. In diesem Jahr besuchte sie noch einmal ihren Sohn und dessen Familie in Italien auch in der Hoffnung, durch Kuren ihr Gelenkleiden zu lindern. David Geschmays Haltung gegenüber dem Nazi-Regime war beispielhaft für viele jüdische Deutsche der älteren Generation. Sein Sohn beschreibt sie 1966 in einem Brief an Georg Weber: „Mein Vater wollte nie auswandern, weil er sich nie anders als jeder andere Deutsche fühlte.“ Mit ‚deutscher Redlichkeit‘ verteidigte er den Familienbesitz, die Firma, die rechtlich inzwischen seinem in Italien lebenden Sohn Hans gehörte. Aber er, David, der greifbar war, wurde von den Nazis unter Druck gesetzt, zu verkaufen. Dieser Zwangsverkauf erfolgte am 30. Dezember 1939.
Der Zwangsverkauf des Unternehmens
Anna Laura Geschmay Mevorach schreibt dazu:
„Wie es für viele Juden der Fall war, so wollten die Behörden auch meinen Großvater zwingen, die Fabrik zu verkaufen. Aber er weigerte sich stets, eine Abtretungsurkunde zu unterschreiben und sagte dabei: ‚Unterschreibe ich oder nicht, ihr entzieht uns die Fabrik trotzdem, die rechtlich meinem Sohn gehört.‘ Die Fabrik wurde dann von einem gewissen Häfele übernommen, den mein Großvater wegen seiner Zwielichtigkeit heftig kritisierte, da er schon dessen Unfähigkeit sah, den Betrieb zu leiten. Als am Ende mein Großvater nicht bereit war, das ihm vorgelegte Dokument zu unterschreiben, wurde er, nunmehr 80 Jahre alt, die Treppen des Rathauses hinuntergestoßen.“
Wie der Nürtinger Historiker Steffen Seischab ermittelt hat, sah sich David Geschmay durch Konkurrenzunternehmen konfrontiert, welche sich mehrheitlich in einer kartellähnlichen Organisation, der 1905 gegründeten ‚Vereinigung Deutscher Filztuchfabrikanten’ (VDF) zusammengeschlossen hatten. Von dieser Seite gab es massive Bestrebungen, die Firma Geschmay aufzukaufen, die nicht zu diesem Kartell gehörte. Das Ziel war, diese anschließend stillzulegen, um Überkapazitäten in der Branche abzubauen. Seischab schreibt: “Da David Geschmay sich aber hartnäckig weigerte, an die VDF zu verkaufen, erhöhte diese den Druck auf ihn, indem sie bei den zuständigen Behörden eine Kürzung der Rohwollversorgung von Geschmay zu erwirken suchte (der knappe Rohstoff Wolle war im Dritten Reich kontingentiert). Hätte die VDF damit Erfolg gehabt, wäre das Göppinger Unternehmen binnen kurzem produktionsunfähig geworden und Geschmay hätte schnellstmöglich verkaufen müssen, um die Firma überhaupt noch irgendwie zu retten. Die Strategie der einflussreichen VDF ging jedoch nicht auf, weil dem Reichswirtschaftsministerium überhaupt nicht daran gelegen war, das ohnehin schon sehr mächtige Kartell der VDF noch weiter zu stärken und deshalb einen anderen Käufer favorisierte, die nicht zur VDF gehörige Kammgarnspinnerei Haefele in Ebersbach an der Fils, an die David Geschmay schließlich dann auch verkaufte.“ Dieser Zwangsverkauf erfolgte am 30. Dezember 1939.
Das ‚Zuhause’ wird zum ‚Judenhaus’
Im Wohnhaus der Geschmays in der Metzgerstraße 16 wurden bald andere jüdische Familien zwangsweise untergebracht. Es wurde zu einem der Göppinger ‚Judenhäuser’. Ein bekanntes Dokument dazu ist das Foto, das der zwangsweise dort wohnende Berthold Auerbacher Ende 1940 vor dem Haus aufgenommen hat. Es zeigt seine Tochter Inge in mitten von einigen der wenigen jüdischen Kindern, die damals noch in Göppingen lebten. Wie fast alle jüdischen Göppinger vereinsamte auch das Ehepaar Geschmay und litt unter der beschränkten Zuteilung von Lebensmitteln. Zu ihrem Glück gab es jedoch die christliche Familie Gassenmayer, deren Lebensmittelladen sich im Haus gegenüber befand: Treue Nachbarn, die ihnen heimlich Lebensmittel zukommen ließen. Auch die Familie Heer, damalige Eigentümer des Hotels Post am Bahnhof, stand zu ihren jüdischen Gästen und ermöglichte den Geschmays, heimlich im Hinterzimmer einzukehren und sich mit Freunden zu treffen.
Vertrieben, ermordet
Am 22. August 1942 wurden David und Pauline Geschmay aus ihrer Heimatstadt Göppingen vertrieben. Die 77-jährige, schwer an Arthrose leidende Pauline wurde im Leiterwagen zur Sammelstelle in der Göppinger Schillerschule gezogen. Der Zeitzeuge Gerhard Kieffer, der in der Nachfolgefirma eine Kaufmännische Lehre machte, erinnert sich: „ Richtig ist, dass Frau Geschmay sen.mit einem Leiterwägele abgeholt wurde. Da sind unterwegs Passanten stehen geblieben und haben laut geschimpft, wie übel mit diesen Leuten umgegangen wird.“
Das Ehepaar kam am nächsten Tag ins Zwischenlager auf dem Stuttgarter Killesberg, wo es bis zur weiteren Deportation festgehalten wurde. Zusammen mit 1076 jüdischen Kindern, Frauen und Männern wurden David und Pauline Geschmay mit dem Zug ins KZ Ghetto Theresienstadt verbracht. Wenige Tage nach der Ankunft im Lager, am 4. September 1942 ging David Geschmay elend zugrunde. Seine Frau Pauline wurde am 26. September 1942 von Theresienstadt ins Todeslager Treblinka gebracht und dort ermordet. Von ihr kennt man nicht einmal ein Todesdatum.
Auch die Eltern von Anneliese Geschmay, geb. Hecht kamen gewaltsam ums Leben: Ludwig und Rosa Hecht, geb. Thalmessinger, die in Ulm lebten, wurden ebenfalls nach Theresienstadt deportiert, wo beiden aufgrund der mörderischen Lebensumständen starben. Seit Mai 2015 liegen in Ulm Stolpersteine für das Ehepaar Hecht. Von den deutschen Nazis ermordet wurde auch Davids älterer Bruder Adolf Geschmay, der in im Dorf Edersgrün lebte und wie sein Bruder ins KZ Ghetto Theresienstadt deportiert wurde. Ein ähnliches Schicksal erfuhr auch Pauline Geschmays nächstältere Schwester Fanny Grünebaum, geb. Schloßberger, die im August 1942 von ihrem Wohnort Frankfurt/M aus nach Theresienstadt deportiert wurde, wo sie am 9. September 1942 elend starb.
Nach dem Krieg entschlossenen sich Giovanni Geschmay und seine Tochter Anna Laura, den zurück erstatteten Betrieb in Göppingen wieder aufzubauen. Nicht zuletzt die Erinnerung an die unbeugsame Haltung von David Geschmay bewog sie zu dieser Entscheidung. Bis ins Jahr 2000 blieb die Firma in Familienbesitz. Der spätere Eigentümer, die Albany – Gruppe betrieb die Firma, die noch den Namen des Gründers führte, an einem neuen Standort in Göppingen – Faurndau. Im Jahr 2015 wurde das Traditionsunternehmen endgültig geschlossen.
Seit Februar 2008 liegen die Stolpersteine für David und Pauline Geschmay am Ort des ehemaligen Wohnhauses in der Metzgerstr.16. Bei der Verlegung wirkten mit: Die Enkelinnen Frau Dr. Anna Laura Geschmay Mevorach (✝) mit Ihrem Sohn Andrea, Frau Dorothea Ravà, geb. Geschmay mit ihrem Sohn Tobia und Frau Silvia Levi, geb. Geschmay begleitet von ihrem Ehemann Prof. Raffaelo Levi.
Viele Informationen über das Schicksal der Familie Geschmay konnten wir dem Buch ‚Von der Schwäbischen Alb zur Venezianischen Lagune‘ entnehmen, das Frau Dr. Geschmay Mevorach verfasst hat und das seit 2011 in deutscher Übersetzung vorliegt (erhältlich im Stadtarchiv Göppingen).
(28.10.2024 kmr)
So beschämend. Wie kann ich Mensch sein, wenn unsere Vorfahren solches Unrecht begingen?