Eschenbacher Str. 38-42
Drei Geschwister ziehen nach Göppingen – Holzheim
Patrizka (Dudele) Reinhardt, geb. am 7 Juni 1925 in Stein am Kocher kam als Siebzehnjährige am 11. Juni 1942 aus Heiningen nach Holzheim / St. Gotthardt. Sie wohnte und arbeitete bei einer Bauernfamilie. Ihr Aufenthalt hier endete bereits nach neun Monaten. Ein Schreiben des Ortsvorstehers Feeß von Holzheim an das Arbeitsamt Crailsheim besagt, dass sie „durch Maßnahmen des Reichs weggekommen (ist)“. Deutlicher sind die Unterlagen des Einwohnermeldeamtes Göppingen. Dort ist für den 13. März ihr „Abzug“ nach Auschwitz verzeichnet. Patrizka Reinhardt wurde zwangssterilisiert hat aber die Verfolgung im Nationalsozialismus überlebt. Sie heiratete nach dem Krieg und lebte später in Garmisch-Partenkirchen.
Paula (eigentlich: Paulina) Reinhardt, die ältere Schwester von Patrizka, wurde am 21. April 1921 in Bühlerzell geboren. Sie kam am 4. März 1942 zusammen mit ihrer kleinen Tochter Rita, geboren am 4.Dezember 1941 in Augsburg von dort aus nach Holzheim, wo sie zunächst in der Staufenstraße 16 bei Bassler wohnte. Paula war nicht verheiratet, Ritas Vater, August Labmeier aus Pleckenthal / Vilshofen war zu dieser Zeit Soldat der deutschen Wehrmacht. Am 1. September 1942 zog Paula zusammen mit Anna Reinhardt (siehe unten) nach St. Gotthardt in die damalige Eschenbacher Straße 18. Den Arbeitsplatz hatte sie inzwischen auch gewechselt, sie arbeitete als Hilfsarbeiterin im Furnier- und Sperrholzwerk in Holzheim. Ihre Tochter Rita kam ab April 1942 zunächst bei einer privaten Pflegestelle unter, ab dem 20. Mai 1942 dann im Kinderheim St. Vinzentius in Donzdorf. Das Kreisjugendamt übernahm die Kosten für den Unterhalt des Mädchens. Hatte Anna ihre Tochter freiwillig in Pflege gegeben?
Vier Wochen bevor die anderen Sinti aus Holzheim von der Kriminalpolizei abgeholt wurden, zog Paula Reinhardt zusammen mit ihrer Tochter Rita nach Niederbayern. Am 5. März 1943 meldete sie sich dann beim Einwohnermeldeamt in Lalling an. Doch auch dort entgingen sie ihren Verfolgern nicht. Das Kreisjugendamt in Göppingen bekam am 26. Mai 1943 einen Brief, in dem mitgeteilt wurde, dass „das Mündel Rita Reinhardt, geboren am 4. Dezember 1941, am 2. Mai 1943 im hiesigen Lager verstorben (sei)“. Absender der Todesnachricht war das Konzentrationslager Auschwitz. Paula, die mit ihrer Tochter am 10. April 1943 im KZ Auschwitz-Birkenau registriert wurde, starb dort am ersten April 1944. Auf welche Weise sie ermordet wurde, ist nicht bekannt.
Paul (Ziegeli) Reinhardt, geb. am 22. April 1922 in Laufen am Kocher war ein Bruder von Paula und Patrizka Reinhardt. Am 23. August 1941 zog er von Donzdorf nach Holzheim. Dort lebte und arbeitete er zunächst im landwirtschaftlichen Betrieb des Bauern Hauser in der Hofstraße 5. Später war er beim Holzheimer Furnier- und Sperrholzwerk beschäftigt und wohnte (nicht gemeldet) bei seiner Schwester Paula in St. Gotthardt.
Anna und Paul: Die verbotene Ehe
Auch Anna Reinhardt geb. am 30. Januar 1920 in Zuttlingen / Möckmühl, die Freundin und Verlobte von Paul Reinhardt, lebte hier. (Zufällig trug Anna den gleichen Familiennamen wie ihr Verlobter Paul). Von Giengen an der Brenz war sie am 27. Oktober 1941 nach Holzheim gezogen, wo sie zunächst bei der Familie Moll in der Friedrichstraße wohnte. Am 18. August 1942 kam im Kreiskrankenhaus Göppingen ihr Sohn Rudi zur Welt. Anna und Paul Reinhardt, Rudis Vater, wollten im selben Jahr heiraten.
Doch die Heirat unter ‚Zigeunern‘ bedurfte einer besonderen Genehmigung, weil die Fortpflanzung ‚minderwertiger Rassen‘ aus ideologischen Gründen nicht erwünscht war. Zuvor mussten die Heiratswilligen ein „rassebiologisches Gutachten“ anfertigen lassen. Für Paul Reinhardt erbrachte das Gutachten der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“, erstellt am 24. Juni 1942, die Einstufung als ‚Zigeunermischling ‚. Welche Folgen das für ihn und Anna Reinhardt hatte, erläutert ein Schreiben der Kriminalpolizeileitstelle in Stuttgart: „Ich bitte … gegen die Eheschließung des Reinhardts Bedenken zu erheben und das Weitere zu veranlassen. Eine Eheschließung zwischen Zigeunermischlingen ist nur unter der Voraussetzung der freiwilligen Sterilisation erwünscht.“
Weil sie dieser erpresserischen Forderung nicht nachkommen wollten, verzichteten Anna und Paul auf eine Heirat. Dies führte jedoch dazu, dass ihr nichteheliches Zusammensein von Dorfbewohnern als unmoralisch verurteilt wurde. Der Ortsvorsteher Feeß schrieb am 30. Dezember 1942 einen Brief an den Göppinger Oberbürgermeister: „Die zwei Zigeunerinnen sind in dem städtischen Wohnhäuschen in St. Gotthardt untergebracht. Der Bräutigam einer Reinhardt, Paul Reinhardt, ist als Untermieter dort. Das Zusammenleben ist und bleibt echt zigeunermäßig, erregt geradezu ein öffentliches Ärgernis in dem kleinen St. Gotthardt. Ich beantrage bei den zuständigen Stellen zu erwirken, daß eine Verpflanzung dieser Zigeuner mit gleichzeitiger Trennung durchgeführt wird. Ist dies nicht sofort möglich, so sollte wenigstens Paul Reinhardt, der lange Zeit bei einem Bauern tätig war, zu einem auswärtigen landwirtschaftlichen Arbeitgeber dienstverpflichtet werden. Damit ist dann die Wohnungsfrage für Paul Reinhardt gelöst.“
Im KZ Auschwitz – Birkenau
Drei Monate später sollte sein Anliegen in Erfüllung gehen, wenn auch auf eine andere, viel schlimmere Weise. Solange Paul und Anna in St. Gotthardt gewohnt hatten, mussten sie sich bereits einmal in der Woche bei der Polizei melden. Im März 1943 folgte die Verhaftung.
Anna Reinhardt schilderte nach dem Krieg die damaligen Ereignisse:m„Es hat geheißen, wir würden vorläufig festgenommen und am Montag kamen wir nach Stuttgart. Ich bin überhaupt nicht vernommen worden, und ich weiß auch nicht, warum ich verhaftet worden bin. Als ich verhaftet wurde, sind die ganzen Zigeuner mitgekommen, sowohl mein Verlobter als auch dessen Schwester. Ich, mein Verlobter, und die Schwestern desselben, sind die einzigen, die von Göppingen nach Stuttgart gekommen sind. Von Stuttgart sind wir dann am Abend nach Auschwitz transportiert worden. Es war ein ganzer Eisenbahnzug voll Zigeuner.“
Im Konzentrationslager bekamen die Neuankömmlinge eine Häftlingsnummer in den Arm eingebrannt, die Kinder wurden am Fuß gekennzeichnet. Rudi Reinhardt, zu diesem Zeitpunkt gerade sieben Monate alt, überlebte das Lager nicht lange. Keine vier Wochen nach seiner Einlieferung informierte die Kommandantur des KZ Auschwitz das Kreisjugendamt Göppingen über dessen Tod: „Der Zigeunermischling Rudi Reinhardt ist am 7.April 1943 im hiesigen Zigeunerlager verstorben„.
Wie die Töchter der Anna Reinhardt berichteten, ist er verhungert: „Sie (Anna) bekam nur ein Stück Brot, das sie mit dem Kind geteilt hat. Aber das hat nicht gereicht. … Das Kind ist verhungert, ganz dürr sei es gewesen. Als es tot war, musste sie es auf einen Karren drauf schmeissen. … Die Mütter durften nicht einmal öffentlich weinen, sonst hätten sie noch 30 Schläge auf den Hintern bekommen. Sie durften keine Trauer zeigen, sonst wären sie noch ausgepeitscht worden.“ Auch Paul Reinhardt starb im KZ Auschwitz. Am 22. Mai 1943 wurde er erschossen, nachdem er versucht hatte zu fliehen.
Das Leben der Häftlinge war ständig vom Tod bedroht. Wer die meist schwere körperliche Arbeit nicht mehr verrichten konnte, wurde in den Gaskammern ermordet oder erschossen. Anna Reinhardt versuchte einmal mit ihren Brüdern, die sie in Auschwitz wieder getroffen hatte, aus dem Lager zu entfliehen. Der Fluchtversuch misslang, und die Entdeckten standen schon vor der Erschießung, als ein Fliegerangriff die SS zwang, die Exekution abzubrechen.
Im August 1944 wurde das sog. Zigeunerfamilienlager in Auschwitz-Birkenau aufgelöst. Die Häftlinge, die die Lagerleitung als arbeitsfähig einstufte, wurden in andere Lager verlegt, die Zurückgebliebenen wurden vergast. Die nächste Station auf dem Leidensweg der Anna Reinhardt war das Konzentrationslager Ravensbrück, anschließend arbeitete sie unter Zwang in den zum KZ Buchenwald gehörenden Außenlagern Altenburg und Taucha. Am 13. April 1945 wurde sie von alliierten Truppen im Lager Altenburg befreit. Nach Kriegsende kam Anna Reinhardt nach Württemberg zurück, sie fand ihre Mutter in der Nähe von Heilbronn wieder.
Der von den Nationalsozialisten geplanten und ins Werk gesetzten Vernichtung der europäischen Sinti und Roma fielen zwischen einer viertel und einer halben Million Menschen zum Opfer. Unter diesen befanden sich auch die Angehörigen und Bekannten der Anna Reinhardt: ihr Verlobter Paul, ihre Brüder Konrad und Josef, ihr Sohn Rudi und das Mädchen Rita, Tochter ihrer Schwägerin Paula. Wie ihre Töchter erzählten, war Anna Reinhardt für den Rest ihres Lebens gezeichnet: „Die Mutter hat das KZ ewig gespürt, gesundheitlich und überhaupt. Am Anfang hat sie schwere Depressionen gehabt, dadurch, dass sie so viele Familienangehörige verloren hat … Das hat ihr schwer zu schaffen gemacht.“
Einen Mann, der an der Durchsetzung der diskriminierenden Maßnahmen gegen die Holzheimer Sinti beteiligt war, hat Anna Reinhardt nach dem Krieg wieder getroffen. Ihre Töchter erzählten von einer dieser Begegnungen: „Später, nach dem Krieg, ist er einmal im ‚Bock‘, einer hiesigen Wirtschaft, gesessen. Dort hat der der Mutter von der Wirtin ein Viertele hinstellen lassen. Diese ist dann aufgestanden und hat ihm das Viertele ins Gesicht geleert.“
Anna Hirsch, geborene Reinhardt, starb am 1. Mai 1983 im Alter von 63 Jahren in Sulzbach-Laufen, wo sie bis zu ihrem Tod auch gewohnt hatte. Nach dem Krieg hatte sie Karl Hirsch geheiratet und hatte mit ihm acht Kinder bekommen. Nach dem Verhältnis ihrer Mutter zu den Einwohnern von Holzheim und St. Gotthardt befragt, antwortete eine ihrer Töchter: „Von Göppingen hat sie eigentlich immer geschwärmt. Ich glaube, sie hätte sich dort sesshaft gemacht, wenn sie nicht abtransportiert worden wäre.“
Seit April 2007 liegen die Stolpersteine für Paul und Rudi Reinhardt sowie für Paula und Rita Reinhardt an der Stelle, an der das Wohnhaus der Reinhardts gestanden hatte.
Dieser Text basiert auf Matthias Storrs Beitrag zum Band ‚Göppingen unterm Hakenkreuz’ Seite 224 ff. sowie auf weitergehenden Recherchen dieses Autors.
(19.03.2017 kmr)
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