Hauptstr. 20

Im Jahr 1996 bekam das Göppinger Stadtarchiv Besuch aus Köln. Frida (Fridl) Liebermann zeigte ihrem Sohn die Stadt, in der sie 1914 als Frida Zitter geboren wurde. Sie hinterließen ihre Adresse und so hatte die Stolperstein–Initiative das Glück, Angehörige nicht erst mühsam suchen zu müssen.

Für Frida Liebermann war die Rückkehr nach Göppingen mit bedrückenden Erinnerungen verbunden gewesen. Denn während sie und ihre Schwester Selma im März 1939 nach England flüchten konnten, blieben die älteren Schwestern Sara Zitter (geb. 1. Mai 1910) und Rosa Zitter (geb. 1. Juli 1907) mit ihrer seit 1940 verwitweten Mutter Paula Zitter (geb. 15. Februar 1881 oder 1882) in Göppingen zurück. Göppingen, Nazideutschland wurde für die Hiergebliebenen zur Todesfalle.

von links: Frida Zitter, Bernhard Neumann, Sara Zitter, Rosa Zitter (1933)
Paula Zitter (Datum unbekannt)

Schon bei der ersten Deportation am 28. November 1941 (1. Dezember von Stuttgart aus) wurden sie erfasst und nach Riga deportiert.

Paula Zitter im Lager auf dem Stuttgarter Killesberg, kurz vor der Deportation nach Riga. Ihre Entdeckung im Nazi-Propagandafilm von 1941 verdanken wir Jean-Marie Kutner (Quelle: Standfoto aus: Stuttgart 9150 Kriegschronik Fi 34 Judensammellager Killesberg).

Das ehemalige landwirtschaftliche Gut ‚Jungfernhof ‚ wurde von den Nazis als Lager für etwa tausend Jüdinnen und Juden aus Württemberg missbraucht. Vor allem die unzureichende Unterbringung während des Winters 1941/42 ließ schon viele Lagerinsassen sterben, was durchaus im Sinn der NS–Verwaltung war. Paula Zitter und ihre beiden Töchter überleben die Winterkälte.

Ende März 1942 beschlossen die Nazis einen weiteren Massenmord. Unter dem Vorwand, sie würden zur einer neuen Arbeitsstelle gebracht (eine Konservenfabrik in Dünamünde – die es gar nicht gab), wurden die meisten Lagerinsassen in die umliegenden Wälder gefahren. Deutsche Mordkommandos ‚Einsatzgruppen‘ erschossen die Menschen in einer zweitägigen Blutorgie. Unter den Opfern sind auch Paula, Rosa und Sara Zitter. Zum Transport nach Riga und dem erbärmlichen Leben im Jungfernhof gibt der Brief von Richard Fleischer Auskunft.

Seit drei Jahrzehnten in Göppingen

1942, im Jahr der Morde, war es 28 Jahre her, dass die Familien Zitter nach Göppingen gezogen waren. Familien deshalb, denn drei Geschwister mit ihren Ehepartnern und Kindern ließen sich hier nieder. Sie kamen aus der polnischen Stadt Lodz, die zum Zeitpunkt ihrer Abreise noch zum zaristischen Russland gehörte.

Samuel Zitter, geboren 1875, ist der älteste der Geschwister, seine Frau Paula geb. Rottmann hatte schon in Lodz die Töchter Rosa und Sara zur Welt gebracht.

Paula Zitter in Bad Nauheim 1930

Pinkus Zitter, geb. 1877, Samuels jüngerer Bruder und seine Frau Natalie (Necha) geb. Rosenberg hatten auch schon Kinder, nämlich die Söhne Aron, Hermann, Wolf und Julius.

Ester Kuttner, geb.1882, die jüngste der Geschwister, war schon seit zehn Jahren mit Joel Kuttner verheiratet und brachte zwei Söhne mit nach Deutschland.

Aus der Familiengeschichte gibt es keine Überlieferung, die erklärt, was die Geschwister bewogen hat, Lodz zu verlassen. Allerdings haben im 19. und frühen 20. Jahrhundert Millionen Juden Rußland verlassen, um dem Antisemitismus und den beschränkten Lebensverhältnissen zu entkommen.

‚Zitter’ oder ‚Cyter’?

Weniges ist nur aus der Familie von Pinkus und Natalie bekannt. Natalie, die 1915 in Göppingen noch eine Tochter gebärt, starb schon im Dezember 1922.

Wenn man ihre Todesurkunde liest, fällt ein später eingetragener Zusatz auf, vom Standesbeamten Storz unterzeichnet: ‚Göppingen am 2. Oktober 1935. Auf Anordnung des Amtsgerichts Göppingen wird berichtigend vermerkt, daß Zitter in Wahrheit „Cyter“ heißt.‘ Der Eintrag lässt sich so interpretieren: Juden, gar solche, die aus dem ‚Osten‘ stammen, dürfen keine Deutschen sein, und schon am Namen soll man sie erkennen. Dass ein Teil der Familie nach der Nazi-Zeit weiter die Schreibweise ‚Cyter‘ verwendet, wird verständlich.

Zwei Jahre nach Natalies Tod heiratet Pinkus Zitter Frau Dorothea Bronstein und schon 1927 zieht der Großteil der Familie nach Leipzig.

Die Abschiebung ‚Polenaktion’

In Göppingen geblieben war das junge Ehepaar Cilly und Julius (Israel Chil) Cyter. Pinkus’ jüngster Sohn und dessen Frau wurden Opfer der Abschiebung von Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit im Oktober 1938.

Julius schreibt im September 1955 in einem Restitutionsverfahren: „In der Nacht vom 27. zum 28. Oktober 1938 wurden meine Frau und ich in unserer Wohnung in Göppingen, Hauptstr.11, von der Polizei geweckt und von dieser mit vorgehaltenem Revolver gezwungen mitzukommen und in das dortige Gefängnis geschafft. Wir durften nur unsere Ausweispapiere mitnehmen. Am gleichen Tag (28. Oktober) um die Mittagszeit wurden wir unter polizeilicher Bewachung vom Gefängnis auf das Polizeikommissariat in Göppingen geführt, wo uns eine Ausweisungsverfügung des Landrats in Göppingen vom gleichen Datum übergeben wurde, deren Empfang wir schriftlich bestätigen mussten. Wir wurden dann im Sammeltransport mit anderen Verhafteten nach Stuttgart auf die Gestapo geschafft, von dort auf den Bahnhof in Stuttgart und in Begleitung von Polizei in abgeschlossenen Eisenbahnwaggons nach Bentschen (Polnische Grenze) abgeschoben, wo wir unserem Schicksal überlassen wurden.“

Cilly und Julius Cyter hatten Glück im Unglück und konnten im August 1939 von Polen nach Argentinien (Buenos Aires) flüchten. Auch die anderen Kinder von Pinkus und Natalie Cyter konnten sich in Sicherheit bringen. Kontakt besteht zu Michael Cyter, Sohn von Hermann Cyter und zu seinem Cousin Reuven Shachaf, einem Sohn von Wolf Abraham Cyter. Beide sind also Enkel von Natalie und Pinkus Zitter.

Eine Familie kommt zu bescheidenem Wohlstand

Zurück zur Familie von Paula und Samuel Zitter: Aus den Göppinger Adressbüchern kann man einen gesellschaftliche Aufstieg der Familie nachvollziehen: 1914 wird Samuel Zitter als Tagelöhner geführt, der in der Vorderen Karlstraße 32 lebt; 1924 ist er schon mit seinem gelernten Beruf als Weber verzeichnet und ab 1927 wohnt die Familie in der Hauptstraße 20, einem bürgerlichen Wohnviertel.

Hauptstr. 20

Im Rahmen der Restitutionsverfahren erstellte Frida Liebermann geb. Zitter eine Aufstellung der Wohnungseinrichtung, die sich wohl auf die letzte freiwillig genutzte Wohnung in der Hauptstraße bezog. Wohnzimmer, Elternschlafzimmer, ein gemeinsames Zimmer für die jüngeren Schwestern Frida und Selma, je ein einzelnes Zimmer für die beiden älteren.

Frida Zitter (stehend in der Mitte), Selma Zitter (sitzend rechte Ecke) 1934 in Boll

Eher die Ausnahme bei den jüdischen Familien Göppingens war, dass die jüdischen Speisegesetze eingehalten wurden. Aussage Fridas aus den Restitutionsakten: „Da wir einen koscheren Haushalt geführt haben, mußten wir alles Geschirr und Bestecke doppelt haben. Separat für Fleisch und Milch.“

Die Nazis zwangen die Familie, ab Juli 1939 in ‚Judenhäuser‘ in der Geislinger Straße 6 und 8 zu übersiedeln, die der Familie Dörzbacher gehörten. Die Wohnsituation wurde, wie man Sara Zitters Briefen entnehmen kann, sehr beengt. Über ihre Vermieter schreibt sie aber wie von Familienmitgliedern („Tante Gisela“), ein Hinweis, dass die zwangsweisen Mieter freundlich aufgenommen worden sind.

Sara Zitter (Datum unbekannt)

In ihrer Göppinger Zeit waren alle vier Töchter ledig geblieben und übten einen Beruf aus.

Sara Zitter (links) 1927 mit Kameradinnen aus der Nähereischule

Rosa arbeitete als Schreibkraft, Sara als Näherin und Frida war als Verkäuferin im Textilgeschäft von Julius und Pauline Guggenheim angestellt.

von links: Frida Zitter 1931 mit ihren Arbeitskolleginnen Annie Kohnle, Elsa Fahninger und ??? in der Grabenstraße, nahe ihrer Arbeitsstelle, dem Bekleidungshaus Einstein & Guggenheim
Im Bild links unten auch sichtbar: Ladenschild der Metzgerei Oppenheimer

Selma und Fridas Leben in England

Erst nach ihrer Flucht fanden Frida und Selma in England einen Lebenspartner. Selma schloss sich Martin Goldmann an, der in England seinen Nachnamen in White änderte. Ihre Tochter Susan lebt in Kanada.

Frida heiratete Emil Liebermann, der auf schrecklichste Weise dem Terror der Nazis ausgesetzt war. Sein Sohn Peter Liebermann berichtet:
„Ursprünglich aus Kattowitz stammend, Ausbildung und Tätigkeit in Breslau bis er dort entlassen wurde. 1935 siedelte er zusammen mit seiner (ersten -kmr) Frau nach Dresden. Aus dieser Ehe stammen 4 Kinder. Im Rahmen des Novemberpogroms wurde mein Vater verhaftet und über längere Zeit inhaftiert. Auf Grund seiner schweren Misshandlungen musste er notfallmäßig operiert werden und entging dadurch dem Transport nach Buchenwald. Nach der OP war er weiter inhaftiert, bis er aufgrund eines Visums nach Shanghai entlassen wurde. Ende 1939 verließ er Dresden alleine. Sein jüngstes Kind wurde nach seiner Flucht geboren. Seine [erste – kmr] Frau und die Kinder wurden alle ermordet.“

Emil und Frida Liebermann lebten bis 1959 in England und zogen dann nach Köln, wo Emil Liebermann 1987 starb, Frida Liebermann starb im Jahr 2015.

Zeitzeugnis: Sara Zitters Briefwechsel

Die Stolperstein-Initiative dankt Herrn Liebermann und Frau Nau für die vielen Fotos, die ein Licht auf das Leben der Zitter-Familie werfen.

Herr Liebermann stellte auch die Briefe zur Verfügung, die seine Tante Sara (‚Susi‘) Zitter von August 1939 bis August 1941 an die Schwestern nach England geschrieben hatte. Da England zum ‚feindlichen Ausland‘ gehörte, mussten die Briefe den Umweg über die Schweiz nehmen, wo die befreundete Familie Neumann lebte. Die Briefschreiberin musste immer damit rechnen, dass die Nazi-Zensoren ihre Schreiben öffneten, kritische Worte zur Lebenssituation waren ihr also nicht möglich. Scheinbar banale Fragen zur Gesundheit und zu den Essgewohnheiten werden damit zu verschlüsselten Signalen, denn nichts ist für eine Jüdin in Nazi-Deutschland mehr selbstverständlich.

In der Abfolge der Briefe häufen sich gegen Schluss die sprachlichen Wendungen, die Resignation ausdrücken, das Ausgeliefertsein einem scheinbar allgemeinen Schicksal, das doch eines war, das die deutsche Nazi–Gesellschaft bestimmte oder tolerierte. Der Tod des Vaters Samuel Zitter im Jahr 1940 nimmt einen großen Raum in den Briefen ein. Zwar ist es ein ’natürlicher‘ Tod, also von einer Krankheit verursacht, das Thema bekommt aber vor dem Hintergrund der Zeit eine Dimension, die auf den gewaltsamen Tod verweist, der auch der Briefschreiberin drohte.

Grabstein des Vaters Samuel in Göppingen

Ein bestimmendes Thema in Saras Briefen ist auch der Beruf. Auch wenn er schlecht bezahlt und mit langer Anreise nach Stuttgart verbunden war, wird er zum Hoffnungspol – wenigstens hier erfuhr sie noch Bestätigung und Ablenkung von der alltäglichen Demütigung. Aber zwischen den Zeilen der Briefe spürt man die Verzweiflung, die Aussichtslosigkeit, als die letzte Chance zur Flucht erlischt. Göppingen, die Stadt in der Sara und Rosa aufgewachsen waren, schaute weg. Kein ehemaliger Schulkamerad, keine Arbeitskollegin und keine Nachbarin stellte laut die Frage, was mit Sara, Rosa und Paula Zitter am 28. November 1941 und danach geschehen war.

Am 25. November 2011 setzte Gunter Demnig drei Stolpersteine vor dem Haus Hauptstraße 20, die an Paula, Rosa und Sara Zitter erinnern. Zur Verlegung war Frida Zitters Sohn Peter Liebermann mit Familie angereist, ebenso aus der Familie Pinkus Zitter die Cousins Reuven Shachaf und Michael Cyter und als Nachkomme von Ester Zitter ihr Enkel Jean-Marie Kutner mit Familie.

Nachkommen der Familien Zitter und Kuttner bei der Stolpersteinverlegung 2011

(12.04.2017 kmr)

Interview mit Frida Liebermann, geb. Zitter

veröffentlicht in:
Unter Vorbehalt – Rückkehr aus der Emigration nach 1945, Köln 1997, Seite 163 (Auszug)

„Ich wollte nicht zurück“

Ich habe mich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, nach Deutschland zurück zu gehen. Aber mein Mann überredete mich, er sagte, wir sollten es für ein oder zwei Jahre versuchen. Zuerst pendelte er zwischen London und Köln, bis wir uns 1959 schweren Herzens entschlossen, nach Köln zu gehen. Wieso gerade dort hin? Als mein Mann das erste mal nach Deutschland fuhr, reichte seine Fahrkarte bis Köln. Dann wurde mein Sohn hier eingeschult und vier Jahre gingen schnell herum. Anschließend kam er auf das Gymnasium, da konnte man den Jungen wieder nicht herausreißen. In der Zwischenzeit hatten wir uns bemüht, in London wieder eine Wohnung zu bekommen. Aber das war sehr, sehr schwierig. Wenn das geklappt hätte, wäre ich wieder zurück gegangen. Die britische Staatsangehörigkeit habe ich bis heute behalten.

Fridl Liebermann

Fridl Liebermann geb. Zitter (rechts) und Ihre Freundin Paula Tabak 1996
(Foto: Henning Kaiser/transparent)