Schlossstraße 16
Eine Viehhändlerstochter aus Haigerloch
Helene Simon trug den Mädchennamen Hirsch und stammte aus der jüdischen Gemeinde Haigerlochs, wo der Vater als Viehhändler tätig war. Ganz exakt ist ihr Geburtsdatum überliefert: Vormittags um 10.30 Uhr am 3. Juni 1863 kam sie auf die Welt, als jüngstes Kind des Ehepaars Jette und Samuel Hirsch. Jette starb schon mit 58 Jahren, da war Helene gerade erst 15 Jahre alt. Drei von Helenes Geschwistern wanderten nach Amerika aus und ein Bruder, nämlich Max Hirsch sollte später nach Göppingen ziehen, woher – genauer gesagt aus Jebenhausen – schon Mutter Jette, geb. Dettelbacher stammte. Wann Helene Haigerloch verlassen hat, ist nicht überliefert, im Juni 1889 heiratete sie Isidor Simon, einen drei Jahre älteren Göppinger. Isidor, der aus Jöhlingen bei Durlach stammte, war Viehhändler von Beruf und zumindest von 1907 bis 1924 hatte er zusammen mit seinem Bruder Adolph ein eigenes Geschäft betrieben. Wohn- und Geschäftsadresse war zunächst die Querstr.13, dann die Schlossstraße 16, gleich oberhalb des ‚Alten Kastens’.
In den ersten beiden Jahren nach der Eheschließung von Helene und Isidor kamen die Töchter Julie (1890) und Sofie (geb. 30.8.1891) zur Welt. Im Jahr 1894 wurde der erste Sohn Arthur geboren und als letztes Kind, 1896 die Tochter Elvira, die noch im selben Jahr starb. Zumindest seit 1893 bis zu seinem Tod 1897 lebte auch Helenes alter Vater Samuel in Göppingen und wahrscheinlich war Helene für seine Pflege verantwortlich gewesen. Neben ihren Aufgaben als Geschäftsfrau und Mutter fand Helene noch Zeit für ein ehrenamtliches Engagement im jüdischen Gemeindeleben: In Dr. Aron Tänzers Buch findet sich ihr Name als Ausschuss-Mitglied des Israelitischen Frauenvereins, der mit seinen beachtlichen Hilfsleistungen während des Ersten Weltkriegs Anerkennung erfuhr. In diesem Krieg verlor Helene ihren Sohn Arthur, der sich als Freiwilliger gemeldet hatte. Er starb während eines Heimaturlaubs an Grippe.
Juden und Christen unter einem Dach
Etwa seit 1920 bewohnte die Familie Simon das zweite Stockwerk im Haus Schlossstraße 16. Das große Stadthaus war 1904 von Gertrud und Rudolf Keppelmayr erworben worden. Im Erdgeschoß befand sich das Möbelgeschäft der Familie Keppelmayr, das zweite bis vierte Stockwerk wurde vermietet, und zwar, wie sich die Tochter Hildegard Nagel-Shutler, geb. Keppelmayr erinnerte, an jüdische Familien. Bis zu seinem Tod 1924 lebte Eugen Ries mit Familie im dritten Stock, während der vierte Stock von der sechsköpfigen Familie Srodek bewohnt wurde. Von dort, so erinnerte sich Frau Nagel-Shutler, hatte der Schneider Srodek, im ‘Schneidersitz’ auf einem Tisch hockend, einen direkten Blick auf die Turmuhr der Stadtkirche, was er nutzte, um den Zeitaufwand für seine Schneider-Arbeiten abzuschätzen. In der NS-Zeit wurden die Keppelmayrs wegen ihrer judenfreundlichen Haltung von den Göppinger Nazis misstrauisch beobachtet. Als Schikane wurden die Geschäftsbücher des Möbelgeschäfts unnötig oft überprüft, die ‘gewünschten‘ Unregelmäßigkeiten konnten die NS-Beamten freilich nicht nachweisen. Auch an die Simons hatte Frau Nagel-Shutler noch Erinnerungen, so an den kleinen Hund der Familie, der auf einen Pfiff vom heimkehrenden Isidor Simon gleich zu dessen Begrüßung angerannt kam. Als kleines Mädchen besuchte sie oft die Familie im zweiten Stock und durfte dann mit dem Hund spielen. Gern, so erinnerte sie sich, aß sie die ‘Mazzes’, die ihr angeboten wurden.
Die ältere Tochter, Julie Simon, die in Göppingen als eifrige Sängerin im ‚Liederkranz‘ bekannt war, heiratete etwa 1922 den aus Hamburg stammenden Salomon Heilpern. Das Ehepaar ließ sich in Kassel nieder, wo Julie 1923 Zwillinge zur Welt brachte, die aber kurz nach der Geburt starben. Julie und Salomon Heilpern – er wurde nach der Pogromnacht ins KZ Buchenwald deportiert-, flohen 1938 und 1939 nach New York, wo Julie 1959 ohne Nachfahren gestorben ist.
Eine Frau in gehobener Position
Sofie Simon war ledig geblieben und hatte sich beruflich qualifiziert. Frau Dr. Calisir, geb. Kapphan (t), erinnerte sich, dass ihre „Tante Sofie“ ungeheuer sprachbegabt gewesen sei. Sofie Simon war eine Klassenkameradin von Frau Calisirs Mutter und verkehrte viel im Hause Kapphan. Als Auslandskorrespondentin bei der Firma Schuler arbeitete Sofie Simon seit 1932 in einer verantwortungsvollen Position und geriet ins Fadenkreuz der Göppinger Nazis. Das in Württemberg verbreitete Hetzblatt „Flammenzeichen“ schreibt in der Ausgabe vom Januar 1937: „Die Jüdin Simon, beschäftigt in dem wehrwichtigen Betrieb L. Schuler, Maschinenfabrik AG., (die dort viel Auslandskorrespondenz besorgt!), soll im Sinne haben, nach Amerika zu gehen. Wenn ihr herausforderndes Gesicht nicht mehr zu sehen sein wird, freuen sich bestimmt manche biedere Göppinger.“ Diesem unverschämten Vertreibungsdruck wollte die selbstbewusste Sofie Simon widerstehen, wie sich Frau Dr. Calisir erinnerte. Sofie ging daher auch nicht auf das Angebot ihres Arbeitgebers ein, in einen ausländischen Schuler-Betrieb zu wechseln. Daneben dürfte aber auch die Sorge um die inzwischen verwitwete Mutter Helene (Isidor Simon starb 1930) dazu beigetragen haben, dass Sofie nicht auswanderte.
Und Helene? Vermutlich war sie mit über 70 Jahren nicht mehr bereit zu einem Schritt ins unbekannte Exil. Hätte die Witwe überhaupt die finanziellen Möglichkeiten zur Flucht gehabt? Zumal sich mit dem Jahresende 1938 auch Sofies berufliche und finanzielle Situation verschlechtert hatte. Firmenchef Louis Schuler gab 1945 zu Protokoll: „Nach endlosen, für mich nicht ganz ungefährlichen Kämpfen ist erst am 31.12.1938 das in Rede stehende Frl. Simon ausgeschieden“. Wer sich mit Louis Schulers Verhalten in der NS -Zeit befasst, weiß, dass der Druck der Nazis auf ihn und das Unternehmen tatsächlich sehr groß war.
Was Louis Schuler in den Protokollen freilich nicht ausführte, konnte Frau Nagel-Shutler ergänzen: Als Sophie ‘offiziell’ nicht mehr für Schuler arbeiten durfte, wurden ihr heimlich Übersetzungsaufträge nach Hause gebracht und ebenso wieder abgeholt, ein Risiko für alle Beteiligten. Es ist anzunehmen, dass Sophie Simon für diese Arbeiten auch heimlich entlohnt wurde, wobei offen bleibt, wie lange dieses Arrangement bestehen konnte.
Vertrieben, beraubt und ermordet
In den folgenden Jahren wurden Helene und Sofie Simon gezwungen, aus ihrer 4-Zimmer-Wohnung in der Schlossstraße auszuziehen.
Einen großen Teil der Wohnungseinrichtung mussten sie zurücklassen, ein deutlicher Hinweis auf beengte Verhältnisse in der neuen Adresse Lutherstraße 11, wo sie bei Hedwig und Sigmund Frankfurter unterkamen. Das zurückgelassene Inventar, darunter das Klavier der musikbegeisterten Familie, eignete sich der deutsche Staat an: Die Gegenstände wurden versteigert und der Erlös floss an die Finanzkasse. Im April 1942 standen Mutter und Tochter zunächst auf der Deportationsliste nach Izbica im besetzten Polen. Doch nur Sofie wurde auf diesem Weg in den Tod geschickt. Hedwig Frankfurter schreibt in einem Brief vom 10. April: „Zu unserem großen Leid werden uns nächster Tage H. und Fr. Oppenheimer und Frl. Simon verlassen, nachdem wir eine sehr harmonische Hausgemeinschaft hatten. ( … ) Die alte Frau S. wird wohl in ein Altersheim kommen.“
Frau Dr. Calisir konnte noch eine bedrückende Situation wiedergeben, die sie von ihrer Mutter gehört hatte: Die Abfahrt des Deportationszugs in Stuttgart verzögerte sich. Mitglieder der Bahnhofsmission hatten die Möglichkeit, mit den Zuginsassen Kontakt aufzunehmen. Der Zufall wollte es, dass eine ehemalige Klassenkameradin von Sofie Simon als Missionsschwester zugegen war. Als sie Sofie entdeckte, riet sie zur Flucht und bot Hilfe und Zuflucht an. Aber Sofie konnte das Angebot nicht annehmen, sie wollte die Schulkameradin nicht in Gefahr bringen. Izbica im besetzten Polen war ein Ghetto, wo Jüdinnen und Juden ermordet wurden, vor allem war es aber eine Verteilungsstelle, von wo aus Menschen in die Vernichtungslager Belzec und Sobibor gebracht wurden. Es bleibt offen, in welcher deutschen Mordstätte Sofie Simons Leben endete.
Helene Simon wurde am 15. Mai 1942 zunächst in ein Zwangsaltenheim eingewiesen, es war das Schloss Eschenau, das in der heutigen Gemeinde Obersulm bei Heilbronn liegt. Von dort aus wurde sie zusammen mit ihrem Bruder Max Hirsch nach Theresienstadt deportiert. Theresienstadt gilt zwar nicht als Vernichtungslager, doch die Lebensbedingungen waren derart schlecht, dass sie für einen Großteil der alten Menschen das Todesurteil bedeuteten. Der erhaltenen Sterbeurkunde ist zu entnehmen, dass Helene Simon auf dem Dachboden der ‘Dresdner Kaserne‘ einquartiert war – ein Stätte ohne Wärmeisolierung, die Toiletten lagen mehrere Stockwerke darunter. Hier blieb sie noch etwa vier Monate am Leben, der 8.September 1942 ist als ihr Todesdatum überliefert. Die jüdische Ärztin und der Arzt, die ihren Tod protokollieren mussten, schrieben „Altersschwäche“ in die Rubrik ‘Todesursache’. Ebenfalls in Theresienstadt endete das Leben von Helenes Bruder Max Hirsch, auch zwei seiner Töchter und ein Sohn wurden Opfer des Nazi-Terrors.
Auch in anderen Zweigen der Familie Simon wurden Menschen ermordet: Isidors Nichte Blanka Hess, geb. Simon, lebte in Karlsruhe, sie wurde zusammen mit ihrem Mann Adolph im August 1942 im KZ Auschwitz ermordet. In Weingarten / Baden lebte Selma Hagnauer, geb. Simon. Auch sie war eine Nichte von Isidor. Selma, ihr Mann Gustav und ihr 1925 geborener Sohn Heinz Ludwig Hagnauer im März 1944 im KZ Auschwitz ihr Leben.
Vor dem ehemaligen Haus in der Schlossstr.16 wurden im Mai 2009 die Stolpersteine für Helene und Sofie Simon verlegt.
Seit 30. September 2023 liegen auch Stolpersteine für die geflüchtete Familie Bernheimer. Selma Bernheimer, geb. Simon war eine Cousine von Sophie, Julie und Arthur Simon.
Wir danken Frau Dr. Calisir (✝) und Frau Ingrid Rockwell für die Familienerinnerungen. Frau Rockwell stellte freundlicherweise auch das Foto des Hauses zur Verfügung. Für das Foto von Helene und Sophie aus dem Jahr 1926 danken wir Frau Natalie Levinson ganz herzlich.
(08.10.2023 kmr)
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