Darin: S. 155ff: Aus „Überfremdungsgründen“ abgelehnt: Das lange Ringen der Familie Hilb um eine neue Heimat.
Ein im Familienarchiv gehütetes Bündel Briefe offenbart eine besondere Leistung des hartnäckig um seine Zukunft kämpfenden jungen Mannes. Gerade als er selbst in den größten Schwierigkeiten steckte, und seine Heimatstadt verlassen und vor jeder Verlängerung seiner „Duldung“ in der Schweiz bangen musste, kümmerte sich Ernst Hilb rührend um die Belange von noch weitaus gefährdeteren Familienangehörigen: In Göppingen lebten sein Onkel Emil Hilb sowie dessen Tochter Elsbeth und deren zweiter Mann Ludwig Oberdorfer mit den Töchtern Lise und Doris und dem 1983 geborenen Sohn Franzl. Ludwig Oberdorfer war Teilhaber und schließlich Inhaber der Firma seines Schwiegervaters gewesen, eines Unternehmens, da Füllungen für Matratzen, Polstermöbel und Betten herstellte. Nach dem Pogrom im November 1938 war Ludwig Oberdorfer mit anderen Göppinger Juden im KZ Dachau inhaftiert gewesen. Danach wurde er gezwungen, sein Unternehmen an den örtlichen NSDAP – Ortsgruppenleiter zu verschleudern. Seit dieser Zeit intensivierte sich der Briefverkehr zwischen den Göppinger Hilb-Oberdorfers und den Kreuzlinger Hilbs.
Während er selbst nach Einwanderungsmöglichkeiten suchte, sich mit Konsulaten, Reisebüros, Speditionen und oft zwielichteigen Auswanderungsagenten herumschlug, nutzte Ernst hilb die Möglichkeiten der Schweiz, um auch für die Göppinger Verwandten einen Weg zur Ausreise in ein sicheres Drittland zu finden. Über seine Adresse liefen Erkundigungen nach Chile, Bolivien, Brasilien, Kuba, Venezuela, Nicaragua, Südafrika, Argentinien, Haiti, Peru und über die Dominikanische Republik. Da Juden im Deutschen Reich über keinen Telefonanschluss mehr verfügen durften und Ferngespräche in die Schweiz für die finanziell bedrängten Verwandten zu teuer geworden waren, unterhielt Ernst einen intensiven Briefverkehr mit seinem angeheirateten Vetter Ludwig.
Der gebürtige Regensburger schlug anfangs noch einen heiteren Tonfall an, gab sich optimistisch und zuversichtlich, dass irgendein Land der Welt ihn und seine Familie schließlich aufnehmen werde:
„Und wenn es einmal so weit ist, dass müssen wir uns auf den Hosenboden setzen und alles probieren und wenn wir auf einem Frachtdampfer fahren“, schrieb er noch im Sommer 1939. doch dann wurde er krank und musste operiert werden; Ernst hilb mahnte eine Entscheidung an, San Domingo, Chile, Kuba seien noch offen, doch der etwas zögerliche Ludwig dachte gerade über Haiti nach.
Der Krieg begann, und viele Länder schlossen die Grenzen. Ludwigs Briefe klangen bald mutloser, schreckliche Ängste beherrschten seine Familie. Anfang 1940 erfuhr er, für Haiti müssten nun 5000 US-Dollar als Sicherungsleistung in den USA deponiert werden. Ludwig Oberdorfers Monatsgehalt im eigenen Unternehmen hatte zuletzt 400 Reichsmark betragen. Aufs Neue durchziehen Oberdorfers Briefe Erwägungen, wer außer seinem amerikanischen Vetter, der als bürge fungierte, und dem treuen Ernst hilb noch helfen könnte, Einreisebewilligungen zu erhalten, die nötigen Depotgelder aufzubringen und irgendwie ein rettendes Ufer zu erreichen. Ein Vetter in New York, Inhaber eines Krawattengeschäfts, hatte bereits eine höhere Kaution hinterlegt, die nun durch dubiose Agenten und politische Einwirkungen verloren gegangen zu ein schien.
Im März 1940 schreibt Ludwig Oberdorfer über die schöne, ferne Idee eines Wiedersehens mit Ernst hilb die bitteren Zeilen:
„Da aber bis auf unsere USA-Nummer alles auf dem Nullpunkt steht, sind die Aussichten dazu mehr als schlecht. Lasst bald wieder von Euch hören; wir warten mit Schmerzen auf jede Post und freuen uns damit und hoffen und hoffen und hoffen.“
Zu den ungewissen Aussichten in der Auswanderungsfrage gesellten sich materielle sorgen, denn Ludwig Oberdorfer hatte kein Einkommen mehr. Immer häufiger kündigt Ernst in seinen Briefen an, man werde wieder einmall Lebensmittel schicken: Schweizer Schokolade, Käse und Ovonmaltine bereiteten den Verwandten kleine Freuden. Im Dezember 1940 berichtete Ernst Hilb in vorsichtigen Andeutungen über die eben erfolgte Deportation der badischen Juden in das Lager Gurs: „Dass viele unserer früheren Bekannten nach Südfrankreich gekommen sind, werdet Ihr gehört haben. Solche können dort sehr gut warme Kleidung, Überschuhe, Kissen etc. gebrauchen.“
Ob die selbst bedrängten Göppinger noch etwas zur Linderung der Not in Gurs beitragen konnten? Die Briefe sagen nichts darüber aus.
Im Dezember 1940 sinken die Hoffnungen auf die USA wieder einmal: „Wir sind außerordentlich bedrückt“, schreibt Ludwig an Vetter Ernst. Einige Monate später, der Überfall auf die Sowjetunion hatte gerade begonnen, schloss das US-amerikanische Konsulat in Stuttgart seine Pforten. Das war besonders bitter, hatten die Oberdorferrs doch in letzter Minute noch eine Zusage für ein Visum erhalten, es hatte nur noch die Schiffspassage gefehlt. „Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich tun soll, was könnt Ihr mir raten?“ fragt Ludwig im Juni 1941 die Verwandten in Kreuzlingen. Noch einmal keimt Hoffnung auf, nachdem sich Ernst Hilb der Sache erneut angenommen hatte. Doch nun mussten 2000 US-Dollar, mehr als zuvor, für die Schiffsfahrkarten aufgebracht werden. Die Hälfte hatte ein weiterer Verwandter aus den USA gestiftet. „Wie gerne täten wir uns mit 3. Klasse-Schlafraum zufrieden geben“, beteuerte Ludwig gegenüber Vetter Ernst, doch auch die Kreuzlinger konnten die fehlende Summe nicht aufbringen. Als die Sache auch im September noch nicht voran gekommen war, schreibt Ludwig: „Wie Ihr Euch leicht vorstellen könnt, sind wir seelisch vollständig erledigt und auch an die Verwirklichung der Auswanderung kann ich nicht mehr glauben.“
Sein letzter umfangreicher handschriftlicher Brief datiert vom 17. Oktober 1941. Er ist das erschütternde Zeugnis völliger Hoffnungslosigkeit und Verlorenheit. Ludwig Oberdorfer resümiert bitter:
„Unserer Auswanderung scheitert an unserer eigenen großen Hilflosigkeit.“
Kuba, Chile, letzte Rettungsanker, die Ernst Hilb vorgeschlagen hatte, waren wegen des fehlenden Geldes unerreichbar geworden. Ludwigs letzte Zeilen an die so hilfreich gewesenen Verwandten lauten: „So hoffen und wünschen wir immer, dass uns bald wieder Frieden wäre und der Herrgott auch mit uns weder ein Einsehen hätte.“
Sechs Tage später erließ Reichsführer SS Heinrich Himmler ein generelles Ausreiseverbot für Juden. Die Judenpolitik des NS-Staates trat in die radikalste Phase ein, die Vernichtung jüdischen Lebens in Deutschland und in den besetzten Gebieten. Am 27. November 1941 wurden die ersten Göppinger Juden, darunter auch Ludwig und Elsbeth Oberdorfer und ihre Kinder Lise, Doris und der dreijährige Franzl, mit kleinem Gepäck über Stuttgart in das „Reichskommissariat Ost“ nach Riga in das dortige Ghetto deportiert. Elsbeths Vater Emil Hilb blieb zunächst alleine in Göppingen zurück. „Herr Hilb kommt jetzt öfters zu uns, er ist ganz verstört“, teilte eine Bekannte nach der Deportation mit. Im Dezember schreibe er selbst den Kreuzlinger Verwandten, von denen er Auskunft über den Verbleib seiner Familie zu erhalten hoffte. Doch es kam keine Nachricht mehr. Im darauffolgenden Sommer wurde Emil Hilb ins KZ Theresienstadt und von dort in das Vernichtungslager Treblinka deportiert und ermordet. Einen letzten dienst konnten die Hilbs in Kreuzlingen der Mutter Ludwig Oberdorfers, Ricka, erweisen. Auch sie wurde nach Theresienstadt deportiert. Immerhin durfte sie von dort nach Kreuzlingen schreiben und ab und an ein Lebensmittelpaket empfangen. Auf ihrer letzten Postkarte an die Hilbs, geschrieben am 13. Oktober 1943 in Theresienstadt, dankt sie für die Grüße und teilt mit: „Dass wir beide, Sie und ich, noch nichts von Ludwig gehört haben, macht mir große Sorge und ich hoffe doch, dass bald gute Nachricht durch’s Rote Kreuz eintrifft.“
Diese Hoffnung sollte sich nicht erfüllen. Nach späteren Feststellungen war die gesamte Familie Oberdorfer während einer Mordaktion im März 1943 ums Leben gekommen. Ricka Oberdorfer starb im Januar 1944 im KZ Theresienstadt.
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