Freihofstr. 46
Bertha Tänzer (14.04.1876 – 25.09.1943) war eine geborene Strauss und wuchs in Merchingen im Odenwald auf. 1913 heiratete sie den Göppinger Rabbiner Dr. Aron Tänzer. Mit diesem Ehebund trat sie an die Seite eines bedeutenden Mannes, der als Geistlicher, Wissenschaftler, Übersetzer und Literat Hervorragendes leistete. Er gab den Anstoß für die Gründung der ersten Leihbücherei in Göppingen. Dr. Tänzer war Witwer. Bertha übernahm mit der Heirat die Verantwortung für seine vier Kinder aus erster Ehe. Zwei weitere Kinder bekam das Paar, 1914 wurde Erwin geboren, 1915 kam Ilse auf die Welt.
Die achtköpfige Familie lebte im oberen Stockwerk des Rabbinerhauses, neben der Synagoge. Während des Ersten Weltkriegs, von August 1915 bis November 1918 diente Dr. Tänzer an der Ostfront. Er war überzeugt davon, dass er bedingungslosen Einsatz für sein Vaterland Deutschland leisten müsse. Dr. Tänzer und auch seiner Familie wurde sein Einsatz im Ersten Weltkrieg nicht gedankt. Bis 1936 kämpfte Dr. Tänzer gegen die Diffamierung, die jüdischen Deutschen hätten sich im Krieg feig und hinterhältig benommen. Am 26. Februar 1937 verstarb er. Nur sehr wenige Christen gingen in dem Trauerzug des Mannes mit, der so viel für die Stadt Göppingen und ihre Bevölkerung aller Konfessionen getan hatte. Eine wichtige Hinterlassenschaft Dr. Aron Tänzers ist seine 1927 erschienene ‚Geschichte der Juden in Jebenhausen und Göppingen‘.
Nach dem Tod ihres Mannes schrieb Bertha Tänzer 257 Briefe an ihre Kinder Erwin und Ilse, die, wie ihre Stiefgeschwister aus Deutschland fliehen konnten und im Ausland lebten. Regelmäßig bestätigte sie in ihren Briefen: „Ich bin gesund.“ Selten erwähnte sie ihren seelischen Zustand, wie am 16. Oktober 1938:
„ …doch fühle ich mich einsam und habe Heimweh nach Euch, und dem sel. Vater. Doch muss man ja froh sein, dass Ihr Kinder draus seid, und dass der Vater diese schwere Zeit nicht mitmachen muss. … Denn hier ist für junge Leute keines Bleibens mehr, es wird immer MIESER.“
In den Briefen versuchte sie mit mütterlicher Sorge an dem Leben ihrer Kinder teilzunehmen. Sie war stolz auf sie, auf ihren Werdegang. Erwin erhielt in Amerika eine Stelle als Ingenieur, Ilse bekam ein Stipendium für das „Royal College“ in London. Seit Ende 1937 lebte Frau Tänzer im jüdischen Altersheim „Wilhelmsruhe“ in Sontheim, in dem auch ihre Schwester Emilie Adler ein Zimmer hatte. Im nahe gelegenen Heilbronn lebten ihr Bruder Max Strauss und seine Familie, so dass die drei Geschwister sich unterstützen konnten. Die gepflegte und behütete Atmosphäre des Heims empfand Frau Tänzer als einen Schutzraum gegenüber „einer solchen rauen Außenwelt …; ich danke Gott, dass Ihr als gleichwertige Menschen unter Menschen, und als Menschen leben könnt …,“ schrieb sie im April 1938 an Erwin.
Doch Bertha Tänzers Blick war nicht eingeengt auf das Leben ihrer Kinder. In ständigem Briefkontakt mit Göppinger Freunden und Bekannten erfuhr sie von den dortigen Firmenschließungen durch „Arisierung“ und von den Auswanderungsversuchen und Problemen der jüdischen Mitbürger. Frau Tänzer nutzte ihre Kontakte und richtete Briefe an Verwandte, Freunde und Bekannte, um Verbindungen ins Ausland herzustellen. Als ihr Neffe Erich Strauss und seine Frau zufällig Plätze auf einem Schiff nach Bolivien erhielten, doch nicht das „Vorzeigegeld“, eine festgelegte Summe, besaßen, appellierte sie eindringlich an die Angehörigen in Amerika, ihnen Geld zukommen zu lassen. Ihr Aufruf blieb nicht ungehört, und als das Geld aus den USA eintraf, dankte sie mit folgenden Worten: „So lange in der Familie der Einsatz u. Hilfsbereitschaft noch so vorhanden ist, gehen wir nicht unter.“
Als „Katastrophe“ bezeichnete sie das, was den jüdischen Deutschen in der Nacht vom 9. auf den 10. November angetan wurde. Erwin hatte spontan nach dem Bekanntwerden der Ereignisse in der Pogromnacht gehandelt. Schon am 4. Dezember 1938 bekam Bertha Tänzer einen großen Briefumschlag zugestellt mit Bürgschaften für sich und ihre Schwester. Wie reagierte Frau Tänzer? „Ich war sprachlos, Tante Emilie weinte vor Freude, und ich?! Ich wusste nicht, soll ich weinen oder lachen, mir war, als wenn mir der Boden unter den Füßen weggezogen würde. … Jetzt ist`s ein Jahr, dass ich Göppingen verlassen habe …, und froh war, nach all der Unrast, Sorge und Kummer endlich eine Bleibe, ein Ruheplätzchen gefunden zu haben, wo ich in Frieden leben kann, unabhängig von meinen Kindern, und Niemanden zur Last. – Jetzt soll sich auf einmal alles, alles wenden?! Halte mich nicht für undankbar, lieber Erwin, es ist die ganze Umwälzung, die ganze Erschütterung der letzten Wochen. Alle Ideale sind zusammengestürzt, „Glaube + Heimath“. Nun werde ich 63 Jahre alt. Eltern, Großeltern und Urgroßeltern haben hier gelebt, geachtet, angesehen und ausgezeichnet mit den höchsten Ehren, … und Dein lieber Vater war ein glühender Verehrer Deutschlands … Ihr Kinder seid verstreut in verschiedene Länder, ich bin noch allein hier, und wollte bleiben, weil ich zu sehr verwurzelt bin.“ Sie wollte abwarten, „ …wie sich die Verhältnisse weiter gestalten; jetzt ist alles noch zu neu; vielleicht werde ich dann reif.“ Sie dankte ihm für seine „Liebe + Fürsorge“ und führte das Argument an, das sie in den folgenden Monaten immer wieder nannte: „Erwin, hast Du es Dir auch überlegt, was es für Dich heißt, die Mutter zu Dir kommen zu lassen?! – Es heißt eine große Verpflichtung und Verantwortung auf sich nehmen, es ist eine Umstellung für Dich; bisher warst Du allein, konntest tun und lassen, was Du für richtig hieltst, brauchst auf Niemand Rücksicht nehmen, warst frei und unabhängig, so wie auch ich. Bisher konnte ich von meiner Pension leben, und wenn ich bei Dir bin, müsstest Du für zwei sorgen, und verdienen …“
Ihrem jüngsten Sohn zur Last zu fallen, war ihr unerträglich. Auch ihre Tochter Ilse ließ nichts unversucht und schickte ihrer Mutter umgehend eine Permit-Karte vom britischen Konsulat, die es ihr ermöglichte, ein Besuchsvisum für England zu beantragen. Doch Frau Tänzer argumentierte: „So gerne ich auch bei Dir wäre, … so bin ich hier unabhängig, selbständig und belästige Niemand.“ Das Schlimmste für sie war, dass Erwin, egal ob sie nach Amerika oder nach England gehen würde, ihr Versorger sein müsste. Denn Ilse war als ausländische Studentin in einer rechtlich und finanziell ungesicherten Position. Außerdem konnte sie noch nicht gehen, „da ich doch meinen Bruder und seine Familie nicht in Not lassen will.“ Bertha Tänzer unterstützte die Familie Strauss finanziell seit der Reichspogromnacht. Sie bat um Aufschub für ihre Entscheidung, Deutschland verlassen zu müssen. Im Sommer 1939 wirkte Frau Tänzer erschöpft und ausgelaugt und sie schrieb an Ilse: „Wenn Gefahr ist, komme ich doch nicht mehr heraus. Denn es dauert Monate bis alles zur Ausreise erledigt ist, und ich selbst habe auch gar keine Energie es durchzuführen.“
Am 1. September 1939 hatte der Zweite Weltkrieg begonnen, die Grenzen zu England wurden geschlossen. Das Schicksal hatte Bertha Tänzer die Entscheidung abgenommen. Sie konnte nicht mehr zu ihrer Tochter ausreisen, sie musste in Deutschland bleiben. Zum jüdischen Neujahrsfest schrieb sie ihr: „Ich will keinen Rückblick werfen, sonst müsste ich mir Vorwürfe machen, weil ich Deinem kindlichen Rat nicht gefolgt bin.“ Seit dem November 1938 nahm die Zahl der Bewohner im Landesasyl „Wilhelmsruhe“ stetig zu, so dass Frau Tänzer ein Zimmer mit ihrer Schwester teilen musste. Ältere jüdische Bewohner aus Heilbronn wurden gezwungen, ihre Wohnungen aufzugeben und ins Landesasyl umzusiedeln. Gegen die Widrigkeiten und das Elend ihrer Lebensumwelt setzte Bertha Tänzer ihre Erinnerungen, beschrieb glückliche Ereignisse ihres Lebens in ihren Briefen. Wie eine Mauer des Widerstands baute sie diese positiven Gedanken gegen die Düsternis ihrer Welt auf.
Ende 1940 begannen die Deportationen. Ihr Schwager, Lehman Mayer, einer der ersten Opfer des Rassenwahns der Nationalsozialisten überlebte die Strapazen des Lagers „Camp de Gurs“ nicht. Ihre Worte, „der Tod war Erlösung“ für ihn, waren ein Trost für sie. Gleichzeitig hatte sein Schicksal ihr unbarmherzig vor Augen geführt, dass auch sie Opfer des Terrorregimes des ‚3. Reichs’ werden könnte. Im November 1940 wurde das Heim „Wilhelmsruhe“ von der „Volksdeutschen Mittelstelle“ beschlagnahmt. Die 150 bis 160 zumeist alten Menschen standen auf der Straße. Frau Tänzer und Frau Adler fanden Unterschlupf bei ihrem Bruder Max Strauss in Heilbronn. Sie wünschte sich: „Nun gebe Gott dass wir hier in Ruhe + Frieden leben können“. Sie hatte hautnah zu spüren bekommen, von welcher fremdbestimmten Willkür ihr Leben abhängig war. Der Gedanke „ … mir könnte das gleiche Los bestimmt sein wie Onkel Lehman“, begleitete sie ab diesem Ereignis ständig. Die drei Geschwister wohnten bis zum März 1942 in diesem sogenannten „Judenhaus“. Die Verhältnisse, die Unsicherheit, ließen Frau Tänzer ihre Meinung zum Thema Auswanderung nach Amerika ändern.
Im Januar 1941 formulierte sie vorsichtig in einem Brief an Erwin:„ … auch ich wäre jetzt froh, wenn ich bald dorthin könnte“. Neue Bestimmungen kamen ihrem Anliegen entgegen: Ab März 1941 konnten Kinder in den USA ihre Eltern anfordern, unabhängig vom Quotensystem. Daraufhin präzisierte sie ihre Bitte: „Wenn Du jetzt schon in der Lage bist, dass Du mich kommen lassen kannst, dann möchte ich Dich bitten, auch mich so rasch als möglich kommen zu lassen. … Gerne hätte ich Dich ja noch verschont, ich wollte Euch Kindern noch nicht zur Last fallen, aber ich kann und darf jetzt diese Rücksicht nicht mehr nehmen“. Erwin setzte alle Hebel in Bewegung, schickte eine neue Bürgschaft, zahlte die vorgeschriebenen Gebühren und die Schiffspassage. Frau Tänzer reichte die Papiere bei der „Mittelstelle“, der „jüdischen Auswanderungsstelle in Stuttgart“ zur Prüfung ein. Hoffnungsvoll wartete sie auf einen positiven Bescheid. Im Juni 1941, verfügte die US-Regierung nach einigen U-Boot-Zwischenfällen die Schließung der amerikanischen Konsulate. Bertha Tänzers und Tante Emilies Papiere lagen unbearbeitet im Konsulat. Sie schrieb: „Wir haben somit wenig oder gar keine Aussicht auswandern zu können. Wir sind sehr deprimiert, doch müssen wir uns mit noch vielen Anderen trösten die das gleiche Los tragen“. Ihrem Sohn bestätigte sie: „Dir aber mag es ein beruhigendes Bewusstsein sein, was die Zukunft auch bringen mag, dass Du alles für mich getan hast, um zu ermöglichen, dass ich zu Dir kommen kann. Ich bin jedenfalls stolz und glücklich, dass ich so einen braven Sohn habe“. In ihrem Brief vom Oktober 1941 flehte sie, ihr eine Ausreise über das Übergangsland Cuba zu finanzieren, denn „dringende Hilfe ist notwendig.“ Sie schloss ihren Brief mit den Worten, die sie meist am Ende verwandte: „Sei innigst gegrüßt von Deiner Mutter“. Es war ihr letzter an Erwin gerichteter Brief. Fünf Monate danach wurden sie, ihre Schwester Emilie, ihr Bruder Max, seine Frau Hermine und seine Schwiegermutter nach Haigerloch zwangsumgesiedelt.
Ein Lebenszeichen, in Form einer Karte, schickte Frau Tänzer am 3. August 1942 an ihre Kinder. In dem Satz „zum 18. August innigste Segenswünsche“ gab sie verschlüsselt das Datum ihrer Deportation bekannt. Am 19. August 1942 wurde sie zusammen mit 135 Personen, ausnahmslos ältere Menschen, zum Bahnhof Haigerloch geführt. Bertha Tänzer war zu dem Zeitpunkt 66 Jahre alt. Eingepfercht in Waggons wurden sie und ihre Geschwister mit über 1200 Menschen ins Inferno gebracht. Aus Theresienstadt kamen 1943 noch zwei Nachrichten über Bertha Tänzer. Auf der zweiten Karte teilte ihr Bruder Max im Dezember 1943 mit, dass seine Schwester Bertha Tänzer am 25. September gestorben war. Sie war unter elendiglichen Umständen verhungert. Die Leiche wurde verbrannt und die Asche in den Fluss Eger geworfen. Auch 60 Jahre später litt ihr Sohn Erwin bei dem Gedanken, welche Realität sich hinter den Worten „wir sind gesund“ verborgen hatte.
Berthas Schwester Emilie Adler war schon ein Jahr zuvor im KZ Theresienstadt gestorben, das Leben ihres Bruders Max Strauss endete im Juni 1944 am gleichen Schreckensort. Seine Gattin Hermine wurde von Theresienstadt aus im Oktober 1944 ins Vernichtungslager Auschwitz gebracht und dort ermordet.
Seit April 2007 liegt der Stolperstein für Bertha Tänzer vor dem Gebäude Freihofstr. 46, dem ‚Aron-Tänzer-Haus’. Bei der Verlege-Feierlichkeit hatte Berthas Enkelin Helen Lott mitgewirkt, die aus New York angereist war.
(31.01.2018 clm)
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