Schützenstr. 19 (das Haus wurde abgerissen)
Wir wissen nur wenig über Johanna Freys Leben, das vermutlich nicht leicht gewesen ist. Im Jahr 1885, Johanna war 13 Jahre alt, starb ihr Vater, der Schumacher und spätere ‚Handelsmann’ Aron Löw Frey (alternative Schreibweise: Aron Löb Frei).Vom Schwäbisch Haller Stadtarchiv erfuhren wir: „Aron Frey war überschuldet und hinterließ nichts.“
Als Johanna Frey am 12. Juli 1872 in Schwäbisch Hall zur Welt kam, war sie das sechste von acht Kindern des Ehepaars Ester (auch: Ernestine), geb. Rosenfeld und Aron Frey. Nach dem Tod ihres Gatten wird Johannas Mutter Ester vor dem Nichts gestanden sein. Dr. Thomas Kreutzer vom Kreisarchiv Hohelohekreis hat auf unsere Bitte hin recherchiert: „Ester Frei zog nach dem Tod ihres Gatten mit den Kindern von Hall nach Hohebach; ich gehe davon aus, dass sie zu Esters Mutter zogen. Am 3. 9.1885 war Nathan Hähnlein, Lehrer in Hall, als Pfleger für die minderjährigen Kinder verpflichtet worden. Diese Eigenschaft behielt er auch im Weiteren stets bei. Ester, Johannas Großmutter, starb am 2.5.1888 in Hohebach, wo sie auch begraben liegt. Zu diesem Zeitpunkt waren zwei Geschwister Johannas bereits erwachsen und fünf noch minderjährig, darunter Johanna. Zwei Geschwister (darunter auch eines der Minderjährigen) waren bereits nach Amerika ausgewandert. Ab dem 19.3.1889 wurden die fünf minderjährigen Kinder in Hohebach als Pfleglinge geführt; Pfleger und Generalbevollmächtigter war weiterhin Lehrer Hähnlein, über einen örtlichen Vertreter. Nach dem Tod von Brünette Rosenfeld am 2.5.1890 (Johannas Großmutter mütterlicherseits – der Verf.) erbten – neben den noch lebenden Geschwistern von Ester – auch Esters Kinder einen Anteil. Im Testament, beglaubigt am 14.6.1888 werden die aktuellen Wohnorte der Enkelkinder erwähnt (…). Hieraus geht hervor, dass Johanna wieder in Hall wohnt, (…) wahrscheinlich in der Obhut von Verwandten, vielleicht auch von Nathan Hähnlein. Im Jahr 1893, also zum Zeitpunkt der Volljährigkeit, endet die Pflegschaft für Johanna und ihr Vermögen wird von Lehrer Hähnlein in Privatverwaltung übernommen.“
Nach dem Ende dieser womöglich traumatischen Zeit, geprägt vom Tod der nächsten Angehörigen, kam Johanna in ihre Geburtsstadt Schwäbisch Hall zurück – und damit verlieren sich ihre Lebensspuren auf Jahrzehnte hin.
Womit hat Johanna Frey ihren Lebensunterhalt bestritten? Eine qualifizierte schulische Ausbildung dürfte ihr verwehrt geblieben sein, auf einem der wenigen schriftlichen Dokumenten, einem Antrag auf eine Kennkarte im Dezember 1938 wird sie als ‚Rentnerin’ geführt. Vielleicht hat sie sich beruflich an ihrer älteren Schwester Recha (Rosa) Frey orientiert, die in Stuttgart als ‚Hausdame’ und ‚Pflegerin’ arbeitete.
Im Adressbuch von 1930 ist Johanna erstmals in Göppingen nachzuweisen, sie wohnte damals in der Schützenstraße 19, einem Haus, das dem Kaufmann August Erhardt gehörte.
Waren es verwandtschaftliche Beziehungen, die sie nach Göppingen geführt hatten? In Göppingen lebte bis zu ihrem Tod im Jahr 1917 Johannas Halbschwester Bertha, verheiratete Wassermann. Deren älteste Tochter, Johannas ‚Halbnichte’, Therese Wassermann (siehe Stolperstein – Biografie) war nur 12 Jahre jünger als Johanna. Außer Therese lebten noch drei weitere erwachsene Kinder Bertha Wassermanns in Göppingen. Ab 1939 wurden jüdische Mieter nach und nach aus den Mietverhältnissen bei Nichtjuden vertrieben. Vermutlich hat um das Jahr 1939 auch Johanna Frey die Wohnung ihres Vermieters in der Schützenstraße 19 verlassen müssen, ihr Name taucht aber in keinem der Göppinger ‚Judenhäuser’ auf.
Mit dem wahrscheinlich erzwungenen Auszug aus der Göppinger Wohnung begann eine Serie von zermürbenden Umzügen. Dem Berliner Bundesarchiv liegt ein Dokument vor, demnach Johanna bei der Volkszählung vom 17. Mai 1939 im Landesasyl ‚Wilhelmsruhe’ in Sontheim bei Heilbronn untergebracht war. Dieses Haus war zu dieser Zeit keine Adresse, wo sich alte jüdische Menschen wohl fühlen konnten (siehe Stolperstein-Biografie Ida Löwenstein). Wahrscheinlich konnte bzw. musste Frau Frey etwa ein Jahr in der ‚Wilhelmsruhe’ verbringen, denn das Altersheim wurde Mitte November 1940 zwangsgeräumt. Viele der Ausgewiesenen kamen wieder in ihre früheren Wohnorte zurück, bei Johanna Frey stimmt das ungefähr, denn ihr nächster Wohnort ist Jebenhausen / Göppingen – und endlich fand sie wieder ein Zuhause, nämlich im Haus der Witwe Betty Lauchheimer. Bettys Enkelin, Inge Auerbacher, die seit November 1938 bei ihren Großeltern Betty und Max Lauchheimer wohnte, erinnert sich an das ‚Fräulein Frey’, das „wie ein Familienmitglied“ im Haus ihrer Großmutter gewohnt habe – festgehalten auf dem Foto, das im Sommer 1941 aufgenommen wurde.
Wie konnte Johanna Frey, die als Ledige vermutlich nur eine sehr kleine Rente erhielt, ihr Leben führen? In einem Brief vom 3. September 1941 an ihre in die Schweiz geflüchtete Freundin Thilde Gutmann zählt die Göppingerin Hedwig Frankfurter diejenigen auf, die dringend materielle Hilfe benötigten. Auch ‚Fräulein Frey’ ist unter den Genannten.
Am ersten Dezember 1941 wurde Johannas Vermieterin Betty Lauchheimer nach Riga deportiert und später dort ermordet (siehe Stolperstein-Biografie) Die Auerbachers, die Familie von Bettys Tochter, wurden danach aus dem Haus in Jebenhausen vertrieben und mit ihnen sicher auch Johanna Frey. Ob sie für kurze Zeit in ein Göppinger ‚Judenhaus’ kam, ließ sich nicht klären, jedenfalls musste Johanna Frey am 29. Dezember 1941 Göppingen verlassen. Sie wurde in das Zwangsaltenheim Schloss Eschenau bei Heilbronn eingewiesen, ein Gebäude im Besitz des Alchemisten und Lyrikers Alexander von Bernus. Er und die Gemeinde Eschenau profitierten übrigens erheblich an der Vermietung des Gebäudes, das nur provisorisch für die neue Nutzung umgebaut worden war. Zu den damals entstehenden Zwangsaltenheimen schreibt der Tübinger Historiker Dr. Martin Ulmer: “Im Zuge der Ghettoisierung vor der Deportation wurden im Herbst 1941 in ganz Deutschland alte Menschen in Zwangsaltenheime umgesiedelt und dort festgehalten. 1941 existierten in Deutschland 140 derartige Altenheime. Die Menschen sollten konzentriert und lückenlos überwacht werden, damit die spätere Deportation reibungslos verlaufen konnte. In Württemberg bestanden neben Eschenau sechs weitere Altenheime: in Tigerfeld und Buttenhausen bei Münsingen, in Dellmensingen, Herrlingen und kurze Zeit in Oberstotzingen im Kreis Ulm sowie in Weißenstein im Kreis Göppingen.“ Über die Lebensbedingungen im Schloss Eschenau führt der gleiche Autor aus: „ Die beengten Lebensverhältnisse ohne Privatsphäre in einer notdürftigen und überbelegten Unterkunft teilweise ohne elektrisches Licht und bei unzureichender Hygiene machte den alten Menschen schwer zu schaffen. Außerdem waren sie endgültig aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen. Trotz der erzwungenen Gemeinschaft litten viele unter Einsamkeit, ( … )“. Acht Monate verbrachte Johanna Frey in Eschenau, wahrscheinlich hungernd und in den ersten kalten Monaten auch frierend. Martin Ulmer schreibt: „Die große Mehrheit war in schlechter körperlicher Verfassung, wie sich Augenzeugen erinnern. Die Frauen strickten oft aus Langeweile und besserten Kleidungsstücke aus, weil es für Juden wegen des Wegfalls der Reichskleiderkarten keine Textilien mehr zu kaufen gab.“
Am 19. August 1942 wurde Johanna Frey mit weiteren 79 Heiminsassen nach Stuttgart, Lager Killesberg verbracht. Unter ihren Leidensgenossen waren auch die Göppingerin Helene Simon und deren Bruder Max Hirsch (siehe Stolperstein – Biografien). Drei Tage später, am 22. August fuhr der Zug vom Stuttgarter Nordbahnhof ab, der 1078 Jüdinnen und Juden ins KZ Ghetto Theresienstadt brachte. Die Lebensumstände in Theresienstadt dürften Johannas Gesundheit endgültig ruiniert haben, denn sie wurde auf dem sommerheißen Dachboden der Dresdner Kaserne festgehalten, Stockwerke von einer Toilette entfernt.
Wie schwer Johanna Frey schon unter den Lebensbedingungen in Göppingen und Eschenau gelitten hat, lässt sich daran ersehen, dass sie schon am ersten September des Jahres 1942 im KZ Ghetto Theresienstadt stirbt. Ein Mord auf Raten, was die ( jüdischen )Ärzte, selbst Häftlinge, aber nicht auf die Sterbeurkunde schreiben durften: der zufolge starb Johanna an „Altersschwäche“.
In Theresienstadt hatte Johanna auch das Elend ihrer Schwestern Recha Frey und Jeanette Bacher miterleben müssen. Johannas jüngste Schwester Jeanette hatte den Augsburger Lithografen Leo Bacher geheiratet und mit ihm in München gelebt. Das Ehepaar war im Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert und am 19. September 1942 nach Treblinka deportiert und ermordet worden. Recha Frey wurde ebenfalls am 22. August 1942 ins Ghetto eingeliefert und am 29. September 1942 von Theresienstadt aus ebenfalls ins Vernichtungslager Treblinka verbracht und dort im Gas ermordet.
Die drei Schwestern Recha, Johanna und Jeannette waren die einzigen in Deutschland noch lebenden Kinder des Ehepaars Ester und Aron Frey. Mit ihrer Ermordung erlosch in Deutschland dieser Familienzweig.
Am 16. Mai 2014 setzte Gunter Demnig einen Stolperstein zum Andenken an Johanna Frey an der Stelle, wo sie ihre ersten Göppinger Jahre verbrachte.
Die Zitate von Dr. Ulmer sowie das Ausweis – Foto von Johanna Frey stammen aus dem Buch: ‚Das jüdische Zwangsaltenheim Eschenau und seine Bewohner. Hrsg. Martin Ulmer und Martin Ritter.’ Herr Dr. Thomas Kreutzer vom Kreisarchiv Hohelohekreis recherchierte freundlicherweise den Lebensabschnitt Johanna Freys nach dem Tod ihres Vaters.
Von Inge Auerbacher / New York stammt das Foto aus Johannas Zeit in Jebenhausen. Allen, die uns geholfen haben, danken wir herzlich.
(22.04.2018 kmr)
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