Spitalstraße 17

Elises Vater Michael Wertheimer war 1876 mit seinen Eltern aus dem Dorf Bodersweier bei Kehl nach Göppingen gekommen. Im gleichen Jahr heiratete er die Jebenhäuserin Berta Bauland; auch sie stammte aus einer Familie, die mit Vieh handelte. Die Viehhandlung der Wertheimers zu wurde nach Michaels Tod im Jahr 1909 von dessen Sohn Berthold weiter betrieben

Elise, am 17. Februar 1877 geboren, war das erste Kind, im nächsten Jahr kam ihr Bruder Berthold zur Welt und 1880 eine Schwester Paula, die schon nach zwei Monaten starb.

In den Jahren vor ihrer Ehe schloss sich Elise dem ‚Israelitischen Jungfrauenverein‘ an und übernahm das Amt des 2. Vorstands im Zeitraum von 1895 – 1897. Das war gerade die Zeit, als der Verein sich eine neue Aufgabe stellte. Der Göppinger Rabbiner Dr.Tänzer schrieb dazu:

„Ihren Höhepunkt aber fand die Tätigkeit des Vereines mit einer 1895 erstmalig von ihm der ganzen Gemeinde dargebotenen neuen Einrichtung, mit der alljährlichen Chanukka-Feier. Anfänglich nur als die bescheidene Feier für arme Kinder gedacht, die beschenkt und bewirtet wurden, gestaltete sie sich sehr bald zu einer sehr beliebten Institution für die ganze Gemeinde und deren Jugend. Theateraufführungen, Deklamationen, Gabenverlosungen usw. machten Alten und Jungen stets viel Freude und erwarben dem Verein allseitige Anerkennung.“

Leider sind Dokumente dieser Aufführungen nur aus späteren Jahren erhalten geblieben, so dass es offen bleiben muss, inwieweit Elise auch inhaltlich mitgewirkt hat. Ihr Engagement endete auf jeden Fall mit dem 8. März 1898, da heiratete sie den neun Jahre älteren Berthold Bensinger. Auch er stammte, wie Elises väterliche Familie, aus Bodersweier und er führte als Viehhändler die Familientradition fort.

Das Paar zog nach Straßburg, das damals zum deutschen Kaiserreich gehörte, wohnte am Kronenburger Ring, dem heutigen Boulevard du Président Wilson und für Elise dürfte sich eine neue großstädtische Welt erschlossen haben. Das erste Kind, der Sohn Kurt, wurde 1899 geboren, der zweiten Sohn, Max, kam 1903 zur Welt. Warum die Familie 1913 von Straßburg nach München übersiedelte, muss offen bleiben.

Schlimm für Elise muss der frühe Tod ihres Mannes im März 1916 gewesen sein. Ohne Verwandte in der Nähe aber mit zwei Söhnen in der Pubertät lebte sie als ‚Privatiere‘ allein in München. Dass ihr Ältester am 13. Februar 1923 seine Promotion an der Münchener Universität abschloss, dürfte sie bestimmt beruhigt haben.

Die Wege der Söhne

Dr. med. Kurt Bensinger zog bald nach Frankfurt/Main, wo er im Juli 1925 die Witwe Irma Beatrix Hirsch, geb. de Lange heiratete. Irma brachte ein einjähriges Kind, ihren Sohn Otto mit in die Ehe. Erst nach sechs Jahren bekam der kleine Otto Hirsch einen (Stief-)Bruder; Bert Fritz Bensinger wurde das neue Kind gerufen. Ein Dokument (Hausstandsbuch) sagt aus, dass Dr. Bensinger nicht im studierten Beruf sondern als kaufmännischer Angestellter gearbeitet hat – Jahre vor der NS-Zeit – wohlgemerkt. Gleich zu Beginn der NS-Diktatur zog die Familie nach Paris; das Abmeldedatum aus Frankfurt ist der 6. Juli 1933.

Elises jüngerer Sohn Max nahm kein Studium auf und blieb in München. Mehrere Aufenthalte in München, Neu-Ulm und Frankfurt sind bei ihm verzeichnet, zunächst als Lehrling, dann als Handlungsgehilfe und zuletzt als Kaufmann mit Vertretungen für Tabakwaren. Wie sein Bruder verließ er Nazideutschland schon früh und übersiedelte am 1. Mai 1933 in seine Geburtsstadt Straßburg, wo er bis zu Kriegsbeginn lebte. Bei Ausbruch des Kriegs wurde die gesamte Straßburger Bevölkerung und die des Umlands in die Dordogne evakuiert, die Straßburger Verwaltung verlagerte ihren Sitz in die südwestfranzösische Stadt Périgueux. Hier, in der Rue Louis Blanc, lebte auch Max Bensinger, der als Laborgehilfe und als Vertreter seinen Lebensunterhalt verdiente. Am 22. Februar 1940 heiratete er die fünf Jahre ältere Dora Staripolsky, die in Saverne (Zabern) geboren wurde, auch sie stammte aus einer jüdischen Familie.

Das nächste und zugleich letzte Zeichen vor seiner Ermordung durch die Nazis ist der Eintrag in einer Deportationsliste, die wiedergibt, wer am 2. November 1943 im Zug Nr. 47 von Drancy nach Auschwitz gebracht wurde.

Über das Leben von Dr. Kurt Bensinger und seiner Familie in Frankreich ist ebenfalls sehr wenig zu finden. Irma Bensinger muss schon vor dem August 1941 in Frankreich gestorben sein, denn in einem danach ausgestellten Dokument wird Kurt als Witwer bezeichnet. Auch er kam in Frankreich 1944 als ‚Internierter‘ zu Tode; Näheres ist nicht bekannt.

Wie überlebten Elises Enkel, also die beiden Söhne von Kurt und Irma Bensinger? Glücklicherweise finden sich die Namen ‚Bert Fritz Bensinger’ und ‚Otto Hirsch’ auf keiner Opferliste und zumindest Bert Fritz muss es gelungen sein, in die USA zu fliehen, wo er eine Familie gründen konnte.

Dem ‚Gedenkbuch der Münchner Juden‘ kann man entnehmen, dass sich Elise Bensinger seit November 1938 erfolglos um eine Flucht nach Frankreich bemüht hatte. Der Terror der Pogromnacht wird auch ihre letzten Hoffnungen zerstört haben, in Deutschland weiter leben zu können. In München lebte sie ohne Verwandtschaft – war das der Grund, dass sie am 13.09.1939 wieder in ihrer Geburtsstadt Göppingen eintraf?

Zunächst kam sie in der Spitalstraße 17 unter. Dieses Haus gehörte dem Witwer Max Hirsch, dessen verstorbene Frau Ida, geb. Bauland eine Schwester von Elises Mutter war. Im Herbst 1939 lebten hier auch noch Elises Cousin Karl Hirsch und die Cousine Elsa Hirsch.

von links: Karl Hirsch, Klara Wertheimer (sitzend), Berthold Wertheimer
Frau in der Mitte (stehend): Elise Bensinger

Elise scheint aber nicht immer bei ihrem Onkel gewohnt zu haben. Aus der Restitutionsakte für Jenny und Felicia Heimann geht hervor, dass Elise auch im ‚Judenhaus‘ Wilhelm-Murr-Str. 30 (heute Mörikestr. 30) gewohnt hat, wo sie sich die Küche mit mehreren anderen zwangseingewiesenen Frauen teilen musste.

Elise kehrte anscheinend wieder ins Haus von Max Hirsch zurück, denn in seinem Testament vom 5. November 1941 schreibt er: „Meine Nichte Elise Sara Bensinger, Witwe, geb. Wertheimer in Göppingen, z. Zt. bei mir Spitalstr.17 wohnhaft, ( … )“.

Spitalstr. 17 (inzwischen abgerissen)

Seiner „Nichte Elise“ wollte Max Hirsch übrigens die Hälfte seines Vermögens im Erbfall zukommen lassen, die andere Hälfte sollte an seine Schwester Helene Simon gehen, da seine ins Ausland geflüchteten Kinder nach Nazi-deutschem ‚Recht‘ nicht erbberechtigt waren. Spätestens zum 1. Dezember 1941 wird Elise die Wohnung aber verlassen haben, denn zu diesem Datum wurde das Haus verkauft und im Kaufvertrag wird ein Wohnrecht für sie nicht erwähnt.

Es ist der 20. August 1942, als Elise Bensinger mit 16 weiteren Göppinger Jüdinnen und Juden die Stadt verlassen muss und am 22. August von Stuttgart ins Ghetto KZ Theresienstadt gebracht wird, wo sie wieder auf ihren Onkel Max Hirsch trifft. Sein früher schrecklicher Tod dürfte sie tief erschüttert haben. Während die meisten Internierten aus der Göppinger Gruppe bis auf weiteres in Theresienstadt blieben, wurden Elise Bensinger, Pauline Geschmay, Rosa Bühler und Emil Hilb schon am 29. September des gleichen Jahres ins Vernichtungslager Treblinka gebracht und dort zu einem nicht bekannten Zeitpunkt ermordet.

Aus Elises näherer Familie starben somit durch die Hand der Nazi-Mörder oder aufgrund der von ihnen geschaffenen Verhältnisse: Ihre Söhne Max und Kurt, ihre Schwiegertochter Irma, ihr angeheirateter Onkel Max Hirsch, ihre Cousinen Elsa Hirsch und Paula (Pauline) Mendle, geb. Hirsch, ihr Cousin Hermann Hirsch sowie ihre Cousins Josef Stern und – vermutlich auch – Milton Bauland.

Das Schicksal von Elises Bruder Berthold Wertheimer und seiner Familie

Berthold Wertheimer lebte mit seiner Frau Klara, geb. Fellheimer in der Göppinger Bleichstr. 10, wo Berthold den Viehhandel der Familie in der zweiten Generation führte. Lange Jahre konnte er das Geschäft mit Gewinn betreiben, drei eigene Kraftfahrzeuge waren Ausdruck des Erfolgs. Mit Beginn der Nazi-Zeit und aufgrund des Boykottdrucks auf seine Kunden brach der Umsatz ein, so dass Berthold Wertheimer sein Viehhandelsgeschäft Ende Juni 1938 abmelden musste. Zu diesem Zeitpunkt war der 1907 geborene Sohn Alfred schon in die USA geflohen und wohnte in Chicago.

Die beiden Geschwister: Elsbeth (oben rechts) und Alfred (unten rechts)

Während der Pogromnacht 9./10. November 1938 befand sich Berthold Wertheimer in einem Cannstatter Krankenhaus und entging so der Verhaftung. Seine 1913 geborene Tochter Elsbeth Dreyfuss, geb. Wertheimer erinnerte sich 1966 in einem Brief an Georg Weber:
„Ich nahm den Zug nachmittags, um meinen Vater zu besuchen. Im gleichen Wagen saßen Schülerinnen, die sich rühmten, dass sie Eier und Töpfe an die Wand im Café Dettelbacher schmissen.“
(Das Café Dettelbacher nahe dem Bahnhof hatte jüdische Eigentümer und wurde in der Pogromnacht beschädigt – Anm. d. Verf.).
Elsbeth Dreyfuss konnte im Jahr 1939 ebenfalls nach Chicago fliehen.

Nach der Pogromnacht war Berthold Wertheimer, wie alle jüdischen Deutschen gezwungen, sein Eigentum unter Wert zu verkaufen. Das Haus und Grundstück der Familie kaufte die benachbarte Firma Roth, die Kraftfahrzeuge wurden versteigert, alle Erlöse gingen auf ein Sperrkonto. Die Flucht des Ehepaars zögerte sich auf bedrohliche Weise heraus. Erst Ende August 1941 konnten Klara und Berthold Wertheimer mit einem Sonderzug, der in Berlin startete, nach Lissabon/Portugal gelangen. Diese Fluchtroute war aufgrund der Kriegshandlungen als einzige ‚legale‘ noch bis Oktober 1941 offen geblieben. In Lissabon bestiegen die Wertheimers ein Schiff nach Cuba, von wo aus sie zu ihren Kindern in den USA gelangten. Das Ehepaar Wertheimer waren somit die letzten der jüdischen Göppinger, die noch fliehen konnten. Die Flucht fand im Rahmen des ‚Altreu – Passageverfahrens‘statt, das sich der Nazi-Staat teuer bezahlen ließ. Die Familie verlor dabei ihr ganzes Vermögen.

Über die Folgezeit schreibt Elsbeth Dreyfuss:
„Es ist mir im Jahr 1941 gelungen, meine Eltern aus der Hölle herauszubekommen. Meine Mutter kam mit einem Herzfehler und verschied nach 4 Monaten. Sie konnte nie über den Verkauf ihres väterlichen Hauses etc. wegkommen und konnte leider die Wiedergutmachung nicht erleben. Mein Vater war zu alt, um in Amerika Arbeit zu finden, und auch er verschied zu früh (nach 1 ½ Jahren), um nach Deutschland zurückzukehren oder eine Abfindung zu bekommen.“ 

Aus Klara Wertheimers Herkunftsfamilie wurden ihre Cousins Josef und Theodor Fellheimer sowie ihre Cousine Elsa Hammer, geb. Fellheimer in der Shoah ermordet.

Zum Andenken an Elise Bensinger legte Gunter Demnig am 19.09.2012 einen Gedenkstein vor dem Haus Spitalstraße 17, das mittlerweile leider abgerissen wurde. Damit verschwand auch ein Zeugnis der jüngeren Geschichte Göppingens.

Spitalstr. 17 (Neubau rechts)

(28.11.2024 kmr)