Poststr. 18

Außer ein paar Archivdaten und einer Erwähnung in einem Brief konnten wir vom Leben des Ehepaars Julius und Ida Löwenstein nichts mehr ermitteln. Das soll uns aber nicht hindern ihrer zu gedenken und zumindest auf die Umstände einzugehen, unter denen sie lebten.

Beide entstammen kinderreichen Familie und beider Väter waren Kaufmann von Beruf. Die Eltern von Julius waren Heinrich Löwenstein und Sophie geb. Liebmann. Julius wurde am 29. Mai 1868 in Göppingen geboren, ihm folgten noch zwei Brüder und zwei Schwestern. Sein Vater war Inhaber einer Getreidehandlung, die Julius‘ Großvater 1867 in Jebenhausen gegründet hatte. Schon ein Jahr später wurde sie nach Göppingen verlegt. 1870 erwarb Heinrich Löwenstein das Haus Poststraße 18, das 1856 vom Metzgermeister Gottlieb Braun erbaut worden war. Es beherbergte die Wohnung und das Geschäft der Familie Löwenstein.

Ida Löwenstein geb. Gunz wurde am 25. Mai 1875 in Augsburg geboren. Ihre Eltern waren der Kaufmann Nathan Gunz und Wilhelmine (Mina) geborene Feist. Nathan betrieb in Augsburg im Fuggerhaus eine Lederhandlung. Ida war das fünfte von sechs Geschwistern, sie hatte drei Brüder und zwei Schwestern. Ein Bruder ihres Vaters, Salomon Gunz, war Bankier in Augsburg. Er hatte mit seiner Frau sieben Kinder, fünf Töchter und zwei Söhne. Um Ida herum gab es also viele Kinder. Augsburg hatte eine große jüdische Gemeinde und baute in den Jahren 1913 bis 1917 eine große Synagoge, die wenig beschädigt die Pogromnacht 1938 überstand, nach dem 2. Weltkrieg wiederhergestellt wurde und heute zu den schönsten in Europa zählt. Dies sei erwähnt als Hinweis auf ein selbstbewusstes Judentum in Augsburg.

Synagoge in Augsburg

Das nächste was wir von Julius und Ida wissen, ist das Datum ihrer Hochzeit: Am 8. März 1900 heirateten sie in Augsburg. Julius war als ältester von fünf Geschwistern und Mitarbeiter sowie Teilhaber der väterlichen Firma. Das junge Paar musste also in Göppingen seinen Wohnsitz nehmen und fand in der Marktstraße 27 seine erste Bleibe. Zwei Mal zogen sie noch um, ehe sie zwischen 1924 und 1927 die elterliche Wohnung in der Poststraße 18 bezogen. Julius‘ Vater starb bereits 1916, seine Mutter 1922. Julius war nun der alleinige Besitzer des Unternehmens.

Poststraße 18 um 1930

Das Ehepaar blieb kinderlos. Wie sie lebten, mit wem sie verkehrten, was für Interessen sie pflegten, das wissen wir alles nicht. Es gab Verwandtschaft in Göppingen. Eine Schwester von Julius war Selma Hilb, die Frau des Kaufmanns und Matratzenstoffherstellers Emil Hilb, für ihn und seine Familie legten wir 2012 einen Stolperstein in der Frühlingstraße. Ein Bruder von Julius, Albert Löwenstein war mit Gisela geb. Dörzbacher verheiratet, die Anfang der 30er-Jahre seine Kolonialwarenhandlung von der Kirchstraße 31 in die Geislinger Str. 6 verlegte. Idas Cousine Amalie lebte ebenfalls in Göppingen und war mit dem Fabrikantensohn Ludwig Eisig verheiratet. Sie emigrierten 1936 in die Schweiz und später nach San Fransisco. Amalie Eisig war wiederum mit Hedwig Frankfurter verschwägert. Es ist anzunehmen, dass sich die eingesessenen jüdischen Familien in Göppingen alle kannten, vielfach waren sie miteinander verwandt.

Nathan Gunz, Idas Bruder, (hinten rechts) mit Ehefrau Else (vorne rechts)
wahrscheinlich links das Ehepaar Julius (hinten) und Ida Löwenstein (vorne)

Im Juni 1933 übersiedelte das Ehepaar Löwenstein in das jüdische Altersheim ‚Wilhelmsruhe’ nach Sontheim bei Heilbronn. Was sie zu diesem Schritt veranlasst hatte, wissen nicht. War es Druck von außen, war es eine freiwillige Entscheidung? Hatte sich die Getreidehandlung in der Industriestadt Göppingen überlebt? Julius war 65 Jahre alt, Ida 58. Ein halbes Jahr zuvor hatte Hitler die Macht erhalten, unmittelbar danach begannen die Boykottmaßnahmen und Diffamierungen gegen Juden. Der Wunsch, sich unter diesen bedrohlichen Zukunftsaussichten aus dem aktiven Leben zurückzuziehen und unter ihresgleichen zu sein, wäre jedenfalls verständlich. Sein Haus verkaufte Julius Löwenstein 1934 an seinen Schwager Emil Hilb.

Das Altersheim „Wilhelmsruhe“ in Sontheim

Altersheim „Wilhelmsruhe“

Sontheim, das heute ein Stadtteil von Heilbronn ist, war eine Gemeinde mit einer jahrhundertealten jüdischen Tradition. Als das Ehepaar Löwenstein 1933 in das dortige Altersheim „Wilhelmsruhe“ zog, dürfte es noch eine gute Adresse gewesen sein. Es wurde 1907 erbaut nach Entwürfen zweier Stuttgarter Architekten in einer Mischung aus Barock- und Jugendstil. Geplant war es für 32 Personen mit 20 Einzel- und sechs Doppelzimmern. Darüber hinaus gab es ein Lesezimmer, einen Speise- und einen Betsaal, der ein besonderes Schmuckstück gewesen sein soll. Es gab zwei ärztliche Leiter, Dr. Willy Flegenheimer und Dr. Julius Picard. Dass man für dieses Haus den Namen des deutschen Kaisers gewählt hatte, schien damals nicht außergewöhnlich. Die Bürger jüdischen Glaubens fühlten sich als Deutsche mit einer Konfession wie evangelisch oder katholisch, die man in den Aufnahmebedingungen nicht eigens erwähnen musste. Gedacht war das Haus für „erwerbsunfähige alte Württemberger, in Ausnahmefällen Reichsdeutsche oder Ausländer“.

1932 baute man die offenen Veranden auf der Rückseite des Hauses zu Zimmern um, so dass man nun 48 Personen aufnehmen konnte. In den Jahren 1936/37 erfolgte einen abermalige Erweiterung, die 30 neue Einzelzimmer erbrachte. Wahrscheinlich war die Aufnahme in der „Wilhelmsruhe“ für die meisten Menschen zunächst eine Erleichterung. Da vom Ehepaar Löwenstein keine persönlichen Äußerungen bekannt sind, soll stellvertretend für sie eine andere Bewohnerin aus Göppingen zitiert werden, Bertha Tänzer, die Frau, des kurz zuvor verstorbenen Rabbiners Aron Tänzer. Sie schrieb im Dezember 1937: „Ich bin froh, dass ich alles hinter mir habe, und so Gott will, in Ruhe und Frieden leben kann„. Sie fühlte sich wohl in ihrem „behaglichen Stübchen“ und empfand die gepflegte Atmosphäre als Schutzraum vor „einer solchen rauen Außenwelt“. Leider ging diese Periode schnell zu Ende. Der Aufnahmedruck stieg rapide an, 1938 lebten ca. 100 alte Leute im Heim. Im Oktober schrieb Bertha Tänzer an ihren Sohn: „Hier ist für junge Leute keines Bleibens mehr, hier wird alles immer MIESER“.

In der Pogromnacht vom 9./10.November 1938 oder am Tag danach erlebten die Bewohner furchtbare Szenen. Die Heimleiterin, Schwester Johanna Gottschalk und eine nichtjüdische Mitarbeiterin berichteten Jahre danach aus der Erinnerung, dass 9 oder 10 Männer mit Hämmern und Beilen die Haustüre einschlugen, dann von der Leiterin die Herausgabe sämtlicher Fotoapparate verlangten, anschließend die Telefonkabel durchschnitten und sich dann, systematisch Stockwerk für Stockwerk, an die Zerstörung von Mobiliar, Geschirr und Waschbecken machten. Am nächsten Morgen sei kein Fenster mehr heil gewesen, die Lebensmittel sowie etwa 300 Einmachgläser habe man auf einen Haufen geschüttet, sämtliche Lampen und Lichtschalter demoliert. In den Tagen danach mussten sich die Bewohner noch Besuche von Schaulustigen gefallen lassen, die sich an den Zerstörungen weideten und sie fotografierten.

Zu den weiteren Schikanen nach dem Novemberpogrom gehörte, dass für die Gottesdienste im Heim kein Rabbiner mehr zur Verfügung stand. Die Bewohner griffen zur Selbsthilfe und nahmen die Gestaltung der Gottesdienste in die eigene Hand. Unter den Namen, die dafür bereit waren, findet sich der von Bertha Tänzer.

Nach Kriegsbeginn 1939 wurde die „Wilhemsruhe“ Zuflucht jüdischer Flüchtlinge aus der Pfalz und dem Saarland. Mitte November 1940 musste das überfüllte Haus auf Anordnung des zuständigen NS – Kreisleiters geräumt werden. Man benötigte es für die „heim ins Reich“ geholten Volksdeutschen aus den Ostgebieten. Ein Teil der jüdischen Bewohner wurde im Haus des jüdischen Arztes Max Picard untergebracht, der selbst einen Monat später auswanderte. Die übrigen Bewohner wurden auf andere jüdische Altersheime in Württemberg verteilt oder sie mussten sich in ihrer Heimatgemeinde eine Unterkunft suchen.

Aus dem Brief der schon erwähnten Hedwig Frankfurter, die weitläufig mit Julius Löwenstein verwandt war, wissen wir, dass das Ehepaar Löwenstein in Sontheim bleiben und in das Haus des Dr. Picard übersiedeln konnte. Hedwig schreibt an Amalie Eisig am 29. Juni 1941 in der Schweiz: „Deine Base Ida und ihr Mann sind in einem Arzthaus am gleichen Ort untergebracht mit ca. 14 Pensionisten. Julius ist recht krank, jüngst sogar sehr ernstlich, jetzt gehe es wieder besser.“

In einem weiteren Brief vom 3. September 1941 zählt Hedwig Frankfurter auf, wer von den Göppinger Juden verarmt ist, dabei nennt sie auch das Ehepaar Löwenstein. Wer die Kranken nach dem Weggang von Dr. Picard betreute, ist nicht bekannt. Der letzte zuständige Arzt, der von Januar 1942 die Bewohner betreute, nahm sich am 23. April 1942 das Leben, vermutlich auf Grund der zu erwartenden Deportation. Julius Löwenstein starb am 2. November 1941. Er wurde auf dem Israelitischen Friedhof in Sontheim begraben, ein Grabstein ist nicht (oder nicht mehr) vorhanden. Möglicherweise, weil sich auf Grund der damaligen Situation niemand darum kümmern konnte und weil auch die Mittel dafür nicht vorhanden waren.

Ida lebte weiterhin im Hause Picard. Am 20. August 1942 wurde sie zusammen mit den letzten noch verbliebenen Bewohnern über Stuttgart ins Ghetto KZ Theresienstadt deportiert. Nachbarn beobachteten, wie dieser Transport von statten ging; sie berichteten, „dass es dabei zu Tränen und Abschiedsszenen aller Art kam. Man verlud diese letzten Insassen des Heims auf einen gewöhnlichen Leiterwagen und ein Fräulein Israel, das gehbehindert bzw. gelähmt war, wurde auf einer Bahre auf den Wagen gehoben“. Ein Mann wurde geschlagen, weil man in seinem Gepäck eine Nagelschere gefunden hatte. Die Deportation wurde als Umsiedlung in den Osten deklariert.

Eine besondere Perfidie des NS-Regimes den alten Menschen gegenüber waren die „Heimkaufs–Verträge“. Mit diesen Verträgen wurde ihnen suggeriert, sie bezahlten für eine lebenslange Unterbringung, Verpflegung und Krankenversorgung in einer angemessenen Einrichtung für alte Menschen. Die Kosten wurden kalkuliert im Hinblick auf einen Lebenserwartung von 85 Jahren und sollten bar oder in Wertpapieren bezahlt werden. Wer sich weigerte einen Heimkaufsvertrag abzuschließen, wurde mit Zwangsarbeit und Verschleppung bedroht. Zum 1. Juli 1941 mussten auf Anordnung des NS-Staats hin alle bestehenden Verträge in Heimkaufsverträge umgewandelt werden, in denen die wohlhabenden Heimbewohner verpflichtet wurden, auch den Unterhalt für die bedürftigen zu finanzieren. Bei Neuaufnahmen lag der Mindestbetrag bei 11 000 RM. Ob diese Betrugsverträge durchschaut wurden, oder ob sich daran noch letzte Hoffnungen knüpften, wir wissen es nicht.

Diese letzte Reise Ida Löwensteins mit den letzten Sontheimer Altersheimbewohnern endete nach einem einmonatigen Zwischenaufenthalt im Ghetto KZ Theresienstadt am 29. September 1942 im Vernichtungslager Treblinka. Das Todesdatum ist nicht bekannt.

Viele Angehörige der Familien Gunz und Löwenstein wurden in deutschen Ghettos und Vernichtungslagern ermordet:

Ida Löwensteins Bruder Nathan Gunz und dessen Frau Else, die in München lebten, wurden am 20.11.1941 nach Kaunas deportiert und  starben dort am 25.11.1941.

Else Gunz (Quelle: Gedenkbuch München)
Nathan Gunz (Quelle: Gedenkbuch München)

In Augsburg lebte Idas Cousine Hedwig Epstein, geb. Gunz, sie wurde am 05.08.1943 nach Theresienstadt deportiert und starb an den mörderischen Bedingungen dort am 28.03.1944.

Ihre Cousine Irene Gumprich, geb. Gunz, die in Schmalkalden lebte, wurde am 19.04.1943 nach Theresienstadt, deportiert und am 29.02.1944 ermordet.

Rosa Schnell (Quelle: Stadtarchiv Augburg)
Hermann Schnell (Quelle: Stadtarchiv Augburg)

Idas Cousine Rosa Schnell, geb. Gunz, die in Augsburg lebte, wurde am 23.07.1942 zusammen mit ihrem Mann Hermann Schnell nach Theresienstadt deportiert. Rosa starb am dort 23.10.1942, Hermanns Leben endete am 17.12.1942 ebenfalls in Theresienstadt.

Hedwig Hirsch (Quelle: Gedenkbuch München)
Heinrich Hirsch (Quelle: Gedenkbuch München)

Julius‘ Schwester Hedwig Hirsch, geb. Löwenstein, und ihr Mann Heinrich wurden von ihrem Wohnort München aus am 25.06.1942 nach Theresienstadt deportiert. Hedwig Hirsch starb dort am 22.08.1942, Heinrich starb am 19.01.1943.

Julius‘ Bruder Wilhelm Löwenstein, der in Stuttgart lebte, wurde im August 1942 nach Theresienstadt deportiert und dort am 26.03.1943 ermordet.

Julius‘ Göppinger Schwager Emil Hilb wurde am 22.08.1942 nach Theresienstadt deportiert, von dort am 29.09.1942 nach Treblinka verbracht.

Die Poststraße 18 in heutiger Bebauung

Gunter Demnig setzte am 16. Mai 2014 Stolpersteine zur Erinnerung an Ida und Julius Löwenstein an dem Ort, wo ihr früheres Haus gestanden hatte.

Andrew und Barbara Gunz

Als Vertreter der Familie Gunz waren Ida Löwensteins Großneffe Herr Andrew Gunz mit seiner Frau Barbara aus England angereist und wirkten an der Zeremonie mit.

(06.02.2017 fw)