Stuttgarter Straße 19

Minas erste Ehe mit Salo Brauer

Mina Tekla Fränkl, geborene Reilinger, verwitwete Brauer, wurde am 20.April.1881 im badischen Reilingen geboren. Sie war das siebte von neun uns bekannten Kindern des Ehepaars Josef Reilinger und Frieda, geb. Straßburger. Vor 1870 gab es in Baden keine Standesämter, deshalb sind weitere Geschwister möglich, die vielleicht nicht registriert wurden. Als Beruf des Vaters wird „Handelsmann“ genannt.

Mina Fränkl

Ob Mina selbst eine Berufsausbildung erhalten hat, konnte nicht in Erfahrung gebracht werden, später sollte sie sich aber als Geschäftsfrau bewähren.

Mit 23 Jahren heiratete sie im benachbarten Hockenheim Salo (= Salomon) Brauer, der aus Pyskowice / Peiskretscham in Oberschlesien stammte. Erst sechs Jahre später, im Oktober 1910 kam das einzige Kind des Paars zur Welt, der Sohn Lothar. Wahrscheinlich wohnten Mina und Salo Brauer einige Jahre in Stuttgart, womöglich hat Salo Brauer im Stuttgarter Herrenausstatter-Geschäft von Alfred Süßkind gearbeitet. Dieser Unternehmer gründete nämlich an mehreren Orten Filialen, die unter dem Namen ‚Süßkinds Kleidermagazin‘ firmierten. Ab November 1900 ist eine Göppinger Niederlassung in der Marktstraße 5 verbürgt und auch auf Fotografien zu erkennen. Der Göppinger Rabbiner und Chronist Aron Tänzer vermerkt dazu: „Gegründet 1900 von Alfred Süßkind in Stuttgart, wurde das Geschäft dann von Salo Brauer übernommen.“

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Spätestens seit Ende 1910 dürften die Brauers in Göppingen gewohnt haben. Wahrscheinlich lebte von da an auch Minas verwitwete Mutter Frieda Reilinger bei der Tochter in Göppingen, jedenfalls starb sie im Dezember 1924 in Göppingen.

Der Erste Weltkrieg zerstörte Mina Brauers Lebenswelt. Am 2. Dezember 1914 starb ihr Mann als Soldat (Landwehrmann) in Frankreich und ließ seine Frau in einer bedrückenden Situation zurück: Als Witwe mit kleinem Kind, einer alten, wahrscheinlich pflegebedürftigen Mutter und einem Geschäft ohne Leitung. Wahrscheinlich war Mina Brauer bis 1917 ganz auf sich allein gestellt, danach dürfte sie zumindest im Geschäft eine Hilfe gehabt haben: Isidor Fränkl, einen Münchner, der seit Herbst 1911 in Göppingen lebte.

Ein netter Herr aus München

Isidor Theodor Fränkl, der seinen ersten Vornamen wohl nicht schätzte und sich gern nur ‚Theodor‘ nannte, wurde im September 1885 als einziges Kind der ledigen Nanette Fränkl geboren. Als Beruf wird bei ihr zunächst ‚Ladnerin‘ genannt, später ‚Directrice‘, sie dürfte sich also als Verkaufskraft qualifiziert haben. 1924 starb sie 60 – jährig in München. Es ist denkbar, dass Isidor als Kind einer alleinerziehenden Mutter schon früh die einfühlsame und verantwortungsbewusste Lebenshaltung entwickelt hat, die ihn später auszeichnete. Er lernte den Beruf des Kaufmanns und zog anschließend von München weg, das Datum ist nicht bekannt. Unklar ist auch, ob er am Ersten Weltkrieg teil genommen hat, ein Beleg ließ sich nicht finden. Genau festgehalten ist aber der Tag, an dem er in Göppingen Mina Brauer heiratete: Es war der 21. Juli 1919, Trauzeugen waren Ludwig Reilinger, vermutlich ein Verwandter Minas sowie der katholische Göppinger Kaufmann Albin Greis.

Isidor Fränkl

Zu dieser Heirat können unterschiedliche Perspektiven eingenommen werden: Einerseits heiratete Isidor, der in den Restitutionsakten als „mittellos“ beschrieben wird, eine Frau mit einigem Besitz, andererseits musste oder wollte er auch das Kind seiner Frau und seine Schwiegermutter im Haus annehmen. Die berufliche Herausforderung dürfte nicht gering gewesen sein, schließlich übernahm er das Geschäft in der schweren Nachkriegszeit. Aus Gerichtsakten geht hervor, dass Isidor seit 1920 als Inhaber galt, Mina aber den Status einer Prokuristin besaß. Das Ladenlokal und die Wohnadresse wechselten mit dem Jahr 1920. Die Fränkls verkauften das Haus in der Marktstraße 5 in dessen ersten Stock sie auch gewohnt hatten, an Heinrich Hörlein und erwarben dafür ein kleineres Gebäude in der Marktstraße 1a, das heute noch steht. Über dem Ladenlokal nutzten die Eheleute drei Zimmer im ersten Stock und ein weiteres im Dachgeschoss. Als bürgerliche Familie beschäftigten sie ein Dienstmädchen, nämlich „die Tochter des Metzgers Hoyler aus Heiningen“.

In den Krisenjahren der Weimaer Republik geriet auch das Geschäft der Fränkls ins Schwanken: 1930 wurde ein Vergleichsverfahren eröffnet. Ein Gutachten der Handelskammer Reutlingen sagt aus:

„ Der Firmeninhaber gilt als fleißiger, ehrenwerter Geschäftsmann, der des Schutzes des Vergleichsverfahrens würdig ist. Es liegt kein persönliches Verschulden in der Vermögenszerrüttung vor. Die Zahlungsschwierigkeiten sind auf die Wirtschaftskrise zurückzuführen. Es ist keine böswillige Verzögerung des Vergleichsantrags festzustellen. Die Kammer schlug eine Vergleichsquote von 50% vor.“

Das Gericht folgte diesem Gutachten und das Vergleichsverfahren wurde im Oktober 1930 beendet. Leider konnte auch damit nicht der Bestand des Unternehmens gesichert werden, schon 1932 kam es zum Konkurs. Wie schon 12 Jahre davor mussten die Fränkls wieder ihr Haus verkaufen, die Marktstraße1a ging an die Firma Matheis. Mina und Isidor eröffneten ein neues Geschäft in der Kirchstraße 23, das Ladenlokal wurde aber gemietet, wahrscheinlich befand sich zunächst auch die Wohnung in diesem Haus. Zwischen April und September 1934 wohnte das Ehepaar, der Sohn Lothar hatte sich schon selbstständig gemacht, in der Lessingstr. 42, danach zogen sie in die Stuttgarterstraße 19. Das Ladengeschäft erlosch im Juni 1935. Isidor Fränkl beantragte noch einen Wandergewerbeschein, ob er ihn erhalten hat, ist nicht belegbar aber wenig wahrscheinlich.

Das erste Ladengeschäft (rechts im Bild)

Ausgestoßen

Wie lebten Mina und Isidor unter der NS – Herrschaft? Zumindest die Wohnsituation in der Stuttgarterstraße 19 kann man anhand der Restitutionsakten rekonstruieren: Sie bewohnten vier Zimmer im Parterre, drei hatten die Größen von 17qm, dazu ein kleineres mit 10qm. Eine Haus – Mitbewohnerin, Frau Luise Klingenstein gab über ihre ehemaligen Wohnungsnachbarn zu Protokoll: „ Zu dieser Zeit waren die Fränkls schon auf den Verkauf von Sachen angewiesen für den Lebensunterhalt“ So bot Frau Fränkl ihr eine Couch, eine Pelzjacke und eine goldene Taschenuhr an, Frau Klingenstein konnte ihr aber nichts abkaufen. Noch bot der Haushalt einen „gut bürgerlichen Eindruck“, zumindest aus der Sicht der Nachbarin Klingenstein. Weiter sagte sie aus: „Die Familie lebte sehr zurückgezogen und ich kann mir nicht denken, dass sie besondere Freundschaften pflegten. Ich bin fast der Meinung, dass ich die einzige war, die zu ihnen einen gewissen Kontakt hatte.“ Diese Aussage trifft wahrscheinlich zu, wenn man damit den Kontakt zu ‚arischen‘ Deutschen meint. Aus den Briefen, die an den nach Brasilien geflüchteten Sohn gerichtet waren, erfährt man aber, dass die Fränkls damals noch viele Kontakte zu jüdischen Freunden und Verwandten pflegten. Um ihr Einkommen aufzubessern vermietete das Ehepaar regelmäßig ein Zimmer an einen jüdischen Junggesellen, der von Frau Fränkl auch bekocht wurde. Isidor, der zur beruflichen Untätigkeit gezwungen war, fand neue Aufgaben:

„Der Ehemann half seiner Frau sehr viel im Haushalt, u.a. sah ich ihn wiederholt Teppiche klopfen“, erinnerte sich 1962 die ehemalige Nachbarin Emma Haug.

Vom August 1938 ist ein Briefwechsel mit dem Brasilianischen Konsulat in Berlin erhalten, in dem um Visa ersucht wurde, aber schon nach zwei Tagen kam eine Absage. Auch die Bemühungen des Sohns, von Brasilien aus die Flucht zu ermöglichen, scheiterten, wahrscheinlich weil das Geld für eine Bürgschaft nicht aufgebracht werden konnte.

Haus in der Stuttgarter Straße 19

Die ‚Reise‘ nach Dachau

Im Brief vom 9. Dezember 1938 kommt Isidors Haft im KZ Dachau zur Sprache:

„Vom l. (=lieben) Vater habe soeben auch einen Brief aus Dachau erhalten, und es ist schrecklich für ihn, er schreibt, ich soll dir Grüße senden, und du sollst die Auswanderung für uns beschleunigen. Zum Schluß schreibt l. Vater nochmals Extragrüße übers Meer und schreibe ihm. Eile tut not. Kannst dir denken, was man für Sorgen hat.“ Und: „War in Stuttgart bei Durlacher, Dr. Lamm ist wieder zuhaus, weil er Frontkämpfer war, sind schon viele entlassen, vielleicht kommt l. Vatter auch bald dran. Gott möge es …“

„Wir wollten fort um Preis „

Am 28. Dezember konnte Isidor das KZ Dachau verlassen und zwei Tage danach beruhigte er seinen Stiefsohn: “Liebster Lothar! Von der Reise G s D gesund zuhause angelangt, fand Deine l. Briefe vom 9.11. und 8.12.vor. Die angeforderten Dokumente wirst Du inzwischen in Händen haben. Hoffentlich bist Du gesund. Es ist nun unbedingt notwendig, sichere Nachricht in Händen zu haben, denn fort müssen wir von hier und wir wollen fort um jeden Preis. Wenn die Einreise in Südamerika von J(=Juden). nicht mehr erwünscht ist, sollen wir nach Nordamerika versuchen hineinzukommen? ( … ) Daß (ich) nach viel Aushalten noch gesund bin, beweist mein Reiseaufenthalt in den letzten 7 Wochen. Ich bin vollkommen gesund, G.s.D. ( = Gott sei Dank)“

In einem undatierten Brief (wahrscheinlich von Ende 1939) schreibt Isidor: „ Ob wir in unserer Wohnung bleiben können, ist fraglich. Das stellt sich heraus, wenn die Ausführungsbestimmungen zum Gesetz des Wohnens von J. da ist, meinte am Wohnungsamt Herr Pulvermüller. Es müssen so gut es geht, alle J. aus arischen Häusern heraus. Das ist der Anfang von Ghettoisierung.“

Tatsächlich musste das Ehepaar die Wohnung in der Stuttgarterstraße verlassen. In einem Brief vom Januar 1941 wird das ‚Judenhaus‘ Geislingerstraße 6 als Absender – Anschrift genannt.

Die verzweifelten Bemühungen, aus Nazi – Deutschland zu fliehen, scheiterten. Der letzte erhaltene Brief, der am 27. Juni 1941 geschrieben wurde, endet mit dem Nachsatz: „ N.B. Sollten wir verreisen müssen, so setzt von dort alle Hebel in Bewegung, daß unsere Einreise beschleunigt wird. Vater.“

Am ersten Dezember 1941 wurden Mina und Isidor Fränkl mit weiteren 38 Göppinger Jüdinnen und Juden von Stuttgart nach Riga deportiert. Sie überlebten noch die Winterkälte in der äußerst unzureichenden Behausung auf dem Gut Jungfernhof. Ihre Ermordung durch deutsche Erschießungskommandos erfolgte in den Tagen ab dem 26. März 1942 im Waldstück Bikernieki.

Aus Minas näherer Verwandtschaft wurde auch ihre jüngere Schwester Thekla Sander, geb. Reilinger in Riga ermordet. Minas Nichte Fanny Grete Sontheim und deren Gatte Hermann starben gewaltsam im Ghetto Lodz.

Lothar Brauers Flucht

Minas Sohn Lothar Brauer

Brasilien als Fluchtland? Lothar Brauers Tochter Vera Terra Brauer erklärte: „Zu dieser Zeit, 1936, war Brasilien eines der Länder, das bei der Auswanderung aus Deutschland sehr geholfen hat. Man musste jemand hier haben, der die Person aus Deutschland angefordert hat und derjenige musste einen Geldbetrag  deponieren. Dann hat die Person ein Visa bekommen. Mein Vater ist allerdings mit einem Touristenvisum eingereist, was einige Schwierigkeiten zur Folge hatte. Die Jüdische Gemeinde Sao Paulo hat ihm sehr geholfen. Leider hatte er kein Geld, meine Großeltern nach kommen zu lassen. Später erleichterte die brasilianischen Regierung nicht länger die Einreise von Juden.“

Lothar, der noch die portugiesische Sprache lernen musste, arbeitete zunächst in einer Mazzen – Bäckerei, dann in einem Restaurant. Etablieren konnte er sich später, als er zum Manager einer Farbenfabrik aufstieg. In seiner neuen Heimat lernte er Liselotte Gerson kennen, die 1939 als Neunzehnjährige aus Metternich bei Koblenz geflohen war. Im Januar 1946 heiratete das Paar in Sao Paulo und neun Monate später wurde ihr Sohn Manfred geboren, drei Jahre später die Tochter Vera. Leider starb Manfred Brauer mit knapp 20 Jahren.

Im Jahr 1984 folgten Lieselotte und Lothar Brauer der Einladung des damaligen Oberbürgermeisters Haller und besuchten Göppingen. Lothar Brauer starb im Jahr 2000, Lieselotte Brauer starb hochbetagt im April 2017 in Sao Paulo. Die Tochter Vera studierte Sprachen und arbeitete über zwanzig Jahre bei einem Weltkonzern als Sekretärin. Die Stolperstein – Initiative dankt Frau Vera Terra – Brauer herzlich für die vielen Dokumente aus ihrer Familie.

Lothar und Liselotte Brauer (1984 in Göppingen)

Am 25.11.2011 legte Gunter Demnig Stolpersteine zum Andenken an Mina und Isidor Fränkl vor dem Haus Stuttgarter Straße 19.

Kurt und Rolf Reilinger

Über das Schicksal von Lothar Brauers Cousins Kurt und Rolf Reilinger hat der Historiker Karl Kassenbrock geforscht. Beide waren Söhne von Minas älterem Bruder Samuel Reilinger und dessen nichtjüdischer Frau Juliane, die in Stuttgart lebten. Eine kurze Zusammenfassung seiner Erkenntnisse findet sich unterhalb dieses Texts. Wir danken Herrn Reilinger herzlich für diese Ergänzungen.

Kurt und Rolf (Roda) Reilinger – Mina Fränkls Neffen

Kurt Reilinger
Rolf Reilinger um 1964

Ebenfalls nicht vergessen werden sollten die Neffen von Mina Fränkl/Brauer geb. Reilinger. Minas Bruder Samuel Reilinger (*10.11.1866) hatte zwei spät geborene Söhne mit seiner katholischen Frau Juliana geb. Braun (*08.04.1880): Kurt Reilinger (*05.12.1917) und Rolf Reilinger (*06.07.1919). Für die Nationalsozialisten galten sie trotz der katholischen Mutter als Juden, da sie der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörten. Kurt Reilinger emigrierte 1939 in die Niederlande. Er ging in den Untergrund und war ein führendes Mitglied der niederländisch-jüdischen Westerweel-Gruppe, die zahlreiche junge Juden über Belgien und Frankreich nach Spanien brachte. 1944 wurde er verhaftet und in das KZ Buchenwald deportiert. Er überlebte in dem KZ-Außenlager „5.SS-Eisenbahnbaubrigade“ in Osnabrück, starb aber unmittelbar nach seiner Rückkehr in die Niederlande bei einem Verkehrsunfall am 16.09.1945. Rolf Reilinger emigrierte 1939 nach Palästina. Unter dem Namen Roda Reilinger war er als Künstler tätig. Unter anderem schuf er große Skulpturen, z.B. die „Arche Noah“ im Mollepark Aalborg in Dänemark und den „Brennenden Dornbusch“ vor der neuen Synagoge in Stuttgart. Er starb 2003 im Kibbuz Hasorea in Israel.

Karl Kassenbrock, Nov. 2018

Eine ausführlichere Darstellung zu Kurt und Rolf Reilinger veröffentlichte Karl Kassenbrock in den Osnabrücker Nachrichten  Nr. 123

(13.01.2019 kmr)