Bahnhofstr. 4

Im Jahr 1783 ließ sich das jüdische Ehepaar Seligmann Mendel, geb. 1756, und Fratige Michael, geb. 1758 als ‚Schutzjuden‘ in Jebenhausen nieder, wo eine jüdische Gemeinde seit 1777 bestand. Seligman und Fratige kamen aus Fürth/Bayern, doch dürfte Seligmann nicht von dort, sondern aus dem nicht weit entfernten Dettelbach (Kreis Kitzingen, nahe Würzburg) gestammt haben, denn er nahm in Jebenhausen den Familiennamen ‚Dettelbacher’ an. Die Dettelbachers gehörten damit zu den alteingesessen Jebenhäuser und später Göppinger jüdischen Familien. In Jebenhausen sind die Dettelbachers als Eigentümer mehrerer Häuser überliefert, die meisten liegen an der Boller Straße und existieren auch heute noch. Nur wenige Berufe standen den Juden in der Zeit vor der Emanzipation offen und so wurden sie Vieh – oder Pferdehändler, Weber, Wirtsleute, erst später fand sich auch ein Landwirt in der Dettelbacher-Familie.

Maier und Jette Dettelbacher und deren Kinder (von links):
Fanny, Sigmund, Moritz, Sophie und Flora 1864 (Quelle: Geni / Lisa Krain)

Ein Enkel der ersten Zuwanderer war der 1829 geborene Meier (Maier) Dettelbacher, er war Metzger von Beruf. Seine 5 Geschwister wanderten in die USA aus, Meier begnügte sich, nur über den Eichert – Hügel von Jebenhausen nach Göppingen zu ziehen, wo er im Göppinger Wochenblatt vom 13.August 1862 im höflichen Stil seiner Zeit kund tat:

„Göppingen Wohnungsveränderung und Empfehlung. Einem verehrlichen Publikum mache ich hiermit die ergebene Anzeige, daß ich meinen Wohnsitz von Jebenhausen nach Göppingen verlegte und darselbst in meinem von Herrn Schauffler erkauften Haus nächst dem Bahnhof wohne. Ich werde mein Geschäft als Metzger mit aller Umsicht fortführen, und empfehle mich bei Gebrauch von frischem Rind- und Kalbfleisch. Meier Dettelbacher Metzger.“

Mit dem Hinweis auf Rind- und Kalbfleisch verdeutlichte Herr Dettelbacher, dass er eine koschere Metzgerei führen wollte. Der Standort nahe dem 1847 erbauten Bahnhof war damals sicher eine 1a-Lage, das Geschäft scheint floriert zu haben und wahrscheinlich wurde das gekaufte Gebäude 1875 durch ein größeres ersetzt, das auch weitere Nutzungen erlaubte. Bald war zur ursprünglichen Metzgerei ein Restaurationsbetrieb hinzugekommen, der auch Gästezimmer anbot, sowie ein Saal, der für Feste und Aufführungen diente.

Meier Dettelbacher war mit Jette, geb. Sontheimer, verheiratet, das Ehepaar bekam zehn Kinder. Nur eines, der Sohn Max, folgte dem Beispiel seiner Onkel und Tanten und wanderte in die USA aus, der andere Sohn, Sigmund, sollte den Beruf des Vaters weiter führen und sich als Metzgermeister an der Gründung der Göppinger Innung beteiligen. Zwei Jungen und acht Mädchen, so sah die Nachkommenschaft von Jette und Meier aus, drei von ihnen sollten selbst Nachkommen haben.

Hotel Dettelbacher, früher Bauzustand

Frida: Organistin und Wirtin

Zu den ledig und kinderlos gebliebenen Nachkommen gehörte auch die Tochter Frida (Frieda), sie kam am 13. Juni 1868 als drittjüngstes Kind in Göppingen zur Welt. Nicht viel ist über ihr Leben bekannt. Hinter einer kleinen Notiz in Rabbiner Aron Tänzers Buch ‚Die Juden in Jebenhausen und Göppingen‘ verbirgt sich aber eine kleine ‚Kulturrevolution‘ im jüdischen Göppingen, an der Frida Teil hatte. Tänzer schreibt: „Als Organisten fungierten in den früheren Betsälen und in der Synagoge:

1870 – 1882 M. Grünewald

1882 – 1886 Musiklehrer Enderle

1887 – Greß

1888 – 1896 Frida Dettelbacher”

Gerade 20 Jahre alt, nach damaligem Recht noch nicht einmal volljährig und dazu noch als Frau, übernahm Frida das Amt der Organistin für acht Jahre. Ihre Vorgänger gehörten übrigens alle nicht der jüdischen Gemeinde an. An der Frage, ob die Orgel in eine Synagoge gehört, entzweiten sich damals die jüdischen Deutschen. Für die Orthodoxen war es eine peinliche Anpassung an die christliche Liturgie und ein Sakrileg, denn Instrumentalmusik (als Ausdruck der Lebensfreude) war ihrer Ansicht nach im jüdischen Gottesdienst fehl am Platz, hatte doch Trauer um den zerstörten Jerusalemer Tempel vorzuherrschen. Die Liberalen antworteten darauf mit pragmatischen Argumenten: Nur, wenn auch der jüdische Gottesdienst die Emotionen anspreche und Würde ausstrahle, sei sichergestellt, dass er auch (gern) besucht werde, und dafür eigne sich die Orgel ganz besonders. Nebenbei dürfte auch das Bekenntnis zum ‚Deutschsein‘ eine wesentliche Rolle gespielt haben, denn die Orgel galt als das Instrument der Deutsch-Lutherischen evangelischen Kirche. In der Familie stand Frida mit ihrer Neigung zur Musik nicht allein: Ihre Schwester Sophie war mit dem Göppinger Kantor Carl Bodenheimer verheiratet, ihr Neffe Julius Krämer war ebenfalls Kantor, ihre Nichte Klara Hanauer Klavierlehrerin.

Fridas Alltagsleben dürfte sich im Hotel Dettelbacher abgespielt haben, denn sie und ihre beiden ledigen jüngeren Schwestern Eleonore und Berta betrieben das Hotel und das Restaurant, die Metzgerei übernahm nach Sigmund Dettelbachers Tod im Jahr 1909 der nicht zur Familie gehörende Max Krämer.

Margot Karp, eine Großnichte von Frida Dettelbacher, konnte sich aus Kinderzeiten erinnern:„Ich glaube, dass Frida die größte der Dettelbacher-Schwestern war ‒ aber so, wie wir sie später gekannt haben, war sie gebückt und dünn. Wir verstanden es so, dass sie für die Küche im Hotel Dettelbacher verantwortlich war. Als wir kleine Kinder waren, wurde es uns manchmal erlaubt, dort einen Besuch zu machen. Wir bekamen Wellhölzer und durften Teig auswellen ‒ oder auch Erbsen enthülsen, also kleine Aufgaben, wo wir nicht allzu viel Schaden anstellen konnten. Oder wir haben ihr nur zugesehen, die verschiedene Gerichte versucht, und haben die Gerüche und die Atmosphäre dort sehr gern gehabt. Ich kann mich auch daran erinnern, wie wir die Würste von der Metzgerei im Hotel probieren durften und sie mit Wonne gegessen haben. Ich wurde einmal zum Mittagessen im Esszimmer eingeladen und durfte von der Speisekarte auswählen, was ich wollte ‒ ich konnte damals kaum lesen ‒ es war aber ein großes Erlebnis für mich. Anne (M. Karps Schwester, d. Verf.) und ich waren ab und zu in der Küche und wenn wir ungezogen waren, wurden wir aus der Küche verbannt. Unser größtes ‚Verbrechen‘ geschah, als wir in den Hinterhof des Hotels gelangt waren, wo ein Motorrad geparkt war (es gehörte entweder einem Angestellten oder einem Gast). Wir sind auf dem Sitz geklettert, das Motorrad ist dabei umgefallen und etwas ist daran kaputtgegangen. Die Tante Frida war wütend und vielleicht auch erschrocken und hat uns rausgeworfen und von da an waren wir für immer aus der Küche verbannt ‒ Soweit ich mich daran erinnere. Das Hotel Dettelbacher war der zentrale Mittelpunkt für die jüdische Gemeinde während der Nazi – Jahre: dort fanden all die Unterhaltungsaktivitäten der Gemeinde statt: Der Kegelverein, Merkuria, Purim – Spiele, Vorträge, Konzerte ‒ und nicht zu vergessen die nachmittäglichen Kaffeestündchen im Restaurant, als all die anderen uns verschlossen waren. Und ich glaube, dass die Tante Frida allem vorgestanden ist.”

Margot Karp

Margot Karps Erinnerungen werden auch aus anderen Quellen gestützt: Im Jahr 1936 wurde das Hotel von der Göppinger jüdischen Gemeinde gepachtet, das Gebäude wurde offiziell zum ‚Gemeindehaus‘, was es praktisch schon die Jahre zuvor gewesen war. Überliefert sind zum Beispiel die jährlichen Feierlichkeiten zum Chanukka-Fest, wo jüdische Kinder und Jugendliche mit Aufführungen glänzten. Wie kein anderes Gebäude neben der Synagoge wurde das ‚Dettelbacher‘ mit dem jüdischen Göppingen identifiziert, was aber nichtjüdische Gäste in besseren Zeiten nicht vom Besuch des Hauses abhielt. Zu Fridas 70. Geburtstag erschien im Stuttgarter‚Israelitischen Wochenblatt‘ eine Würdigung:„In stiller Zurückgezogenheit feierte am 13. Juni Frida Dettelbacher ihren 70. Geburtstag. Bis vor wenigen Jahren unterstand der Jubilarin das altbekannte Hotel ‚Dettelbacher‘, welches sie mit ihren Schwestern und dem mittlerweile ausgewanderte Max Krämer führte. Hier erfüllte sie seit ihren Jugendtagen ihre Lebensarbeit in nimmermüdem Fleiß. Wenn sich diese Gaststätte nicht nur innerhalb der Göppinger Gemeinde, sondern weit darüber hinaus stets des besten Zuspruchs erfreute, so war das nicht zuletzt Frida Dettelbachers Verdienst. Immer setzte sie ihre ganze Kraft dafür ein, daß Küche und Haus allen Wünschen der Gäste gerecht wurden. Mit aufrichtigem Bedauern wurde es deswegen auch vermerkt, als sie im Jahre 1936 ‒ schon 68 jährig ‒ in den wohlverdienten Ruhestand trat und den anstrengenden Wirtschaftsbetrieb jüngeren Händen anvertraute […].”

Zerstörungen in der Pogromnacht

Während der Pogromnacht am 9. November 1938 entlud sich der Judenhass der Nazis auch am ‚Hotel Dettelbacher‘, das innen und außen beschädigt wurde.

Hotel Dettelbacher, letzter Bauzustand

Inwieweit Frida Dettelbacher selbst gefährdet wurde, ist nicht bekannt, denn wir wissen nicht, ob sie zu der Zeit noch im Haus wohnte. Anni Kahn, später verheiratete Ostertag, die damals als Servierfräulein im Restaurant arbeitete und im Hotel wohnte, erinnerte sich an Schüsse auf das Gebäude.

Das Hotel nach der Zerstörung

Nach dem Tod ihrer Schwester Berta im Jahr 1933 war Frida Dettelbacher zur Hälfte Eigentümerin des Anwesens und des Gebäudes geworden, die andere Hälfte gehörte Max Krämer, der die Metzgerei betrieb. In dieser Konstellation kam es im Jahr 1939 zu den Verkaufsverhandlungen mit der Stadt Göppingen. Die beiden Eigentümer waren zu dieser Zeit mit Sicherheit in eine ökonomische Notlage geraten, denn mit der Flucht der jüdischen Göppinger nahm auch die Zahl der möglichen jüdischen Kunden und Gäste ab, und ‚Arier‘ durften das Haus ohnehin nicht mehr betreten. Der Verkauf des Anwesens am 29. März 1939 an die Stadt Göppingen kam demnach in einer Zwangssituation zustande. Schon am 16. Juni 1939 ließ die Stadt das Gebäude abreißen. Entgegen einer Zeitungsankündigung errichtete die Stadt aber kein neues Gebäude. Vermutlich ging es der Nazi-Stadtverwaltung mehr darum, ein Wahrzeichen des jüdischen Göppingens zu beseitigen als den Baugrund zu nutzen. Ähnlich verhielt sich die Stadt auch mit dem Grundstück der abgebrannten Synagoge. Eine Bauanfrage von privater Seite nach dem Krieg blieb folgenlos, da damals die Rückerstattung des Anwesens an die Erben Frida Dettelbachers noch nicht erfolgt war.

Das Grundstück heute
Der Stolperstein liegt in einem Fußgängerbereich

Von Schwester Sophie gepflegt

Wo wohnte Frida Dettelbacher, nachdem sie aus dem Hotel ausziehen musste? Einen Hinweis enthält der Brief vom 19. April 1942, den Hedwig Frankfurter an Emilie Levinger, einer Nichte Fridas schrieb: „[…] Ihre Tante Frieda ist Ihrer Mutter (= Sophie Bodenheimer, geb. Dettelbacher, ältere Schwester Fridas, d. Verf.) ein treuer Kamerad, der Liebe und Sorge für Nichten und Neffen von Herzen teilt. Sie bewohnen beide ein sehr großes Zimmer, das ‒ abgeteilt ‒ als Wohn- und Schlafzimmer dient und trotzdem sehr geräumig ist. Sie würden viel alte Bekannte an Möbeln, Bildern etc. finden und die Gemütlichkeit dieses Heims wahrnehmen.”Beschrieben wird damit ein Zimmer in der heutigen Mörikestraße 30, einem ‚Judenhaus‘, wohin die Schwestern und weitere Göppinger Jüdinnen und Juden zwangseingewiesen worden waren.

Schloss Dellmensingen – ein Ghetto für jüdische SeniorInnen

Schon wenige Wochen danach erfolgte der nächste erzwungene Umzug: Hedwig Frankfurter schreibt am 22. Juli 1942 an Thilde Gutmann:„Frieda Dettelbacher ist schwer krank und hat viel Schmerzen; sie und ihre Schwester sollen demnächst in ein Heim kommen.”

Schloss Dellmensingen

Bei diesem Heim handelt es sich um das Alte Schloss in Dellmensingen zwischen Ulm und Laupheim, das als Zwangsaltenheim für jüdische Menschen eingerichtet worden war. Die schwer kranke Frida Dettelbacher starb schon drei Tage nach der Einlieferung an Darmtuberkulose und wurde auf dem Laupheimer jüdischen Friedhof beerdigt. Keine Selbstverständlichkeit zu dieser Zeit!

Es war das Verdienst des Laupheimer Bürgers Sebastian Ganser. Der Landwirt, der sich politisch bei der katholischen Zentrums-Partei engagiert hatte, blieb auch während der NS-Herrschaft seinen Lebensidealen treu. Sein Enkel Markus Ganser führt aus: „Es wird berichtet, dass Ganser jüdische Familien bei der Flucht unterstützte. Als Leichenkutscher kümmerte er sich in Laupheim um die Überführung von Verstorbenen. Wiederholt machte er sich auch über die Ortsgrenzen hinaus auf den Weg, wenn jemand in den Zwangsunterkünften für Juden in Heggbach oder Dellmensingen verstorben war. So ermöglichte er wenigstens eine würdevolle Bestattung dieser NS-Opfer auf dem jüdischen Friedhof in Laupheim.“

Wann diese Beisetzung genau stattgefunden hat, konnte noch nicht bestimmt werden, der Grabstein wurde mit Sicherheit erst nach 1945 im Juli 1955 gesetzt. Initiator der Grabsteine war Helmut Steiner, ein jüdischer Laupheimer, der die NS- Zeit mit seiner Familie in St. Gallen / Schweiz überlebt hatte. Am 20. Novemer 1953 schrieb er an eine jüdische Treuhandgesellschaft:„ Das schlimmste aber ist, dass auf dem Friedhof so und so viele Opfer des Natioonalsozialismus beigesetzt sind. ( … ) . Mein Postulat, es mögen doch aus dem Vermögen, welches sich aus der Veräusserung des früheren Gemeindebesitzes ergibt, bescheidenen Grabsteine angeschafft werden, damit die Gräber jener Opfer in würdevoller Weise geehrt werden können ( … ). ( Dieses Dokument verdanken wir dem Archiv der Stadt Laupheim).

an die Erben Frida Dettelbachers
Grabstein auf dem Laupheimer Jüdischen Friedhof

Auch unter anderen politischen Rahmenbedingungen hätte Fridas Krankheit nach dem damaligen Stand der Medizin nicht geheilt werden können. Die erzwungenen Umzüge und die bedrückende Lebenssituation dürften auf jeden Fall Fridas letzte Lebenstage zusätzlich belastet haben.

Fridas Schwester Sophie Bodenheimer, die nicht zuletzt ihrer kranken Schwester zuliebe in Nazi-Deutschland geblieben war, starb 1943 an den mörderischen Lebensbedingungen im KZ Theresienstadt, ein Schicksal, das die Nazis auch für Frida Dettelbacher vorgesehen hatten.

Auch Fridas Nichten Jenny Krämer, die in Kassel lebte, und Frieda Fellheimer, in Nürnberg wohnhaft, wurden von den Nazis ermordet, beide waren Töchter von Flora Krämer, geb. Dettelbacher, einer acht Jahre älteren Schwester Fridas.

Frau Margot Karp, der wir so viele Erinnerungen an Frida Dettelbacher verdanken, wurde 1924 als Margot Bernheimer in Göppingen geboren, sie starb im Februar 2023 in New York.

Am zweiten Oktober 2013 wurde in Göppingen ein Stolperstein zur Erinnerung an Frida Dettelbacher gesetzt. Die Gedenkrede hielt Herr Frank Jacoby-Nelson, ein Großneffe von Frida Dettelbacher. Der Grund, auf dem das Hotel Dettelbacher gestanden hatte, ist heute Teil des neugestalteten Bahnhofsvorplatzes.

Rechts: Frank Jacoby-Nelson

(08.05.2023 kmr)