Geislinger Straße 2 (an Stelle des abgerissenen Hauses Nr.3)

Die Familie Bernheimer

Aus Illereichen unweit von Memmingen waren die Vorfahren (Ur-Ur-Großeltern) von Eugen Bernheimer im Jahr 1778 nach Jebenhausen gezogen, wo sich seit einem Jahr jüdische Siedler unter dem Schutz der Ortsherrschaft von Liebenstein niederlassen konnten. Die Familie Bernheimer gehörte somit zu den alteingesessenen jüdischen Familien im Dorf, ein Prädikat, das auch nach der Übersiedlung in die Stadt Göppingen von Bedeutung war. Eugen Bernheimers Eltern Berta und Jakob Bernheimer gründeten 1857 noch in Jebenhausen eine Firma als ‚Branntwein- und Cigarrenhandel en gros‘ zogen aber schon 1864 nach Göppingen.

Hier erwarb Jakob Bernheimer die ehemalige Gaststätte ‚Zum Löwen‘ mit umliegendem Grundstück in der Gartenstraße 3, zeitweilig wohl auch das benachbarte Haus Nr. 2. Das Erdgeschoss von Nr. 3 wurde für die Geschäftsräume genutzt, im ersten Stock wohnte die große Familie, der zweite Stock wurde vermietet. ‚Große Familie‘: Berta und Jakob Bernheimer hatten 13 Kinder, von denen drei allerdings bei der Geburt starben. Eugen Bernheimer (1878 – 1970) war das jüngste der überlebenden Kinder.

Im Haus Bernheimer lebte 1890/91 ein später prominent gewordener Untermieter: der jugendliche Hermann Hesse, 1946 Nobelpreisträger für Literatur. Während seines Besuchs der Göppinger Lateinschule war er als Untermieter bei der Witwe Schaible im Haus Bernheimer einquartiert.

Das Haus Geislinger Str. 3 (vor dem Abbruch)

Weitere Prominenz ergab sich aus Eugen Bernheimers Verwandtschaft väterlicherseits: Eugens Cousine Pauline Koch, verh. Einstein (1858-1920), war die Mutter des Physik-Nobelpreisträgers Prof. Albert Einstein.

Die Familie Simon

Selma Simons Vater Adolf Simon war Ende des 19. Jahrhunderts zusammen mit seinem Zwillingsbruder Isidor von Jöhlingen/Baden nach Göppingen gezogen und hatte Hanna aus der ‚alteingesessenen‘ jüdischen Familie Dettelbacher geheiratet.

Hanna Simon, geb. Dettelbacher

Adolf und Hanna (Hannchen) Simon, geb. Dettelbacher wohnten zur Miete in der Göppinger Bahnhofstr. 26. In der Wühlestraße 23 betrieb Adolf mit seinem Bruder Isidor den Viehhandel. Selma (1893 – 1981) war die erste von vier Töchtern des Ehepaars und wie es in den Familien Simon üblich war, erhielt sie eine Berufsausbildung; sie qualifizierte sich als Sekretärin. Selmas Kindheit war vom frühen Tod der Mutter im Jahr 1901 überschattet. Das Verhältnis von Selma und ihren Schwestern zur Stiefmutter Frieda, geb. Heumann blieb konfliktreich.

Adolf Simon mit seinen vier Töchtern:
Frieda, Eugenie, Julie und Selma (von links)

Selma und Eugen Bernheimer

Selma und Eugen Bernheimer im Jahr ihrer Heirat

Als Selma Simon im Jahr 1920 Eugen Bernheimer heiratete, leitete dieser schon seit zehn Jahren mit Erfolg das Familienunternehmen, dessen Produkte immer mehr verfeinert worden waren. Eugen Bernheimer hatte zuerst die Realschule besucht und später, nachdem er im väterlichen Betrieb Berufserfahrung gesammelt hatte, eine Ausbildung zum Brennmeister absolviert. Das wichtigste Produkt der ‚Destillerie J. Bernheimer‘ war der Magenschnaps ‚Borato‘.

Werbeschild Borato aus den 20er-Jahren

Abgesehen vom Vertrieb der eigenen Spirituosen an Gaststätten in ganz Süddeutschland, ergänzte eine Tabakwaren-Verkaufsstätte in der Unteren Marktstrasse 4, ‚Havannahaus‘ genannt, das Einkommen der Familie.

Marktstraße 4 (‚Havannahaus‘)

Auch in der wirtschaftlich schwierigen Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, in dem Eugen als Soldat dienen musste, blieb das Unternehmen erfolgreich. Das Ehepaar Bernheimer konnte sich über die Geburt von drei Töchtern freuen: 1921 kam Beate zur Welt, 1922 Anneliese und 1924 Margot.

Die drei Schwestern Margot, Beate und Anneliese (von links) in Kostümen des Singspiels „Dreimäderlhaus“ (1930)

Die Leitung des Unternehmens teilten sich die Ehepartner, wie Hans Mayer (s. u. S. 13) erkundet hat:
„Während sich ein Kindermädchen bald um die Töchter kümmerte, arbeitete Selma in der Firma mit, war mit Korrespondenz, der Auftragsabwicklung, der Unterstützung der Buchhaltung und bei Abwesenheit ihres Ehemanns mit der Überwachung der zwei Einzelhandelsgeschäfte in der Geislinger Straße und in der Marktstraße betraut. Bald nach der Heirat erhielt sie deshalb die Einzelprokura. ( …) Im Durchschnitt hatte die Firma in den 1920er Jahren acht bis zehn Mitarbeiter.“

Im Buch von Rabbiner Aron Tänzer über das jüdische Leben in Jebenhausen und Göppingen findet sich der Hinweis, dass Eugen Bernheimer seit Juli 1927 dem Vorstand des ‚Israelitischen Männer Unterstützung-Vereins‘ angehörte. Ein weiteres Engagement der Familie in der Israelitischen Gemeinde ist nicht bekannt.

Aus dem Leben der drei Schwestern

Ein Höhepunkt im Jahr war für jüdische Kinder die Chanukka-Feier im Hotel Dettelbacher, wo auch selbst geschriebene Theaterstücke aufgeführt wurden. Bei der gut dokumentierten Aufführung ‚Prinzess Vergissmeinichts Hochzeit‘ aus dem Jahr 1929 übernahm Beate Bernheimer die bestimmt begehrte Rolle der Prinzessin Vergissmeinicht; ihre jüngere Schwester Anne musste sich mit der Rolle einer Blume begnügen.

Foto der Theateraufführung am 26.12.1929:
Anne Bernheimer kniend (2. von links), Beate Bernheimer stehend (2. von rechts)

Gemäß der Familientradition und der gutbürgerlichen Lebenssituation war zu erwarten, dass die drei Bernheimer-Töchter eine gute Schulbildung erhalten sollten. Im Brief, den Margot Karp, geb. Bernheimer im Jahr 2015 an ihre ehemalige Schulkameradin Marianne Riedinger schrieb, findet sich die Bestätigung:
„An einzelne Kinder oder Lehrer in der Volkschule kann ich mich nicht mehr so gut erinnern, aber ich habe lebhafte Erinnerungen daran, dass ich in den vier Jahren, in denen Herr Bühler unser Lehrer war, jeden Tag Angst hatte. Unter den wenigen Dokumenten, die ich noch habe, fand ich die Zeugnisse der Mädchenrealschule Göppingen: Auf der ersten Seite steht ‚eingetreten am 23. April 1935 in Klasse Ib, ausgetreten am 9. November 1938 aus Klasse IVb‘. Es gibt sogar einen Bericht für den ‚Herbst 1938‘ mit einem zusammenfassenden Urteil ‚Ist fleissig und zielbewusst‘. Die meisten jüdischen Kinder, die nicht mehr zur Schule gehen konnten, besuchten die sehr bescheidene Schule, die die Gemeinde mit einem Lehrer und einigen freiwilligen Helfern in dem nach der Zerstörung der Synagoge noch stehenden Gemeindehaus unterhielt. Ich war eines von ihnen. Meine beiden älteren Schwestern hatten Göppingen im Sommer 1938 verlassen; sie konnten nach der achten Klasse nicht mehr zur Schule gehen, und die Brüder meiner Mutter, die während der Depression in den 20er Jahren in die USA gegangen waren und in New York lebten, hatten dafür gesorgt, dass sie zu entfernten Verwandten nach Ohio zogen, um ihre Schulausbildung zu beenden. Beate war 17 und Anneliese 15.“

Die Familie Bernheimer in der Nazi-Zeit

Margot Karps Brief dokumentiert, welche Konsequenzen die Nazi-Diktatur für die Kinder der Familie hatte. Die Unterdrückungsmaßnahmen, unter denen die Familie und ihr Unternehmen litten, hatten schon im Jahr 1933 begonnen, als am 1. April zum Boykott ‚jüdischer‘ Geschäfte aufgerufen wurde. Ein Foto zeigt zwei SA-Posten vor dem Eingang des ‚Havannahauses‘.

Boykott des Havannahauses am 1. April 1933

1935 wurde das Gebäude von der Stadt abgerissen, ohne dass Eugen Bernheimer ein Ersatzraum angeboten wurde. In den nächsten Jahren litt der Geschäftserfolg unter den ständigen Schikanen des Regimes. Die Pogromnacht vom 9./10. November 1938 wurde auch für Eugen, Selma und Margot Bernheimer (die beiden älteren Kinder waren schon im Ausland) zum Horror. Eugen Bernheimer wurde verhaftet und am 12. November mit 26 weiteren Göppinger Männern in das KZ Dachau verbracht, wo er bis zum 29. November interniert war und erniedrigt wurde. Margot Bernheimer, die als 14-Jährige die Pogromnacht durchlitten hatte, beschrieb später ihre Erlebnisse und Gefühle auf eindrucksvolle Weise.

Die Haft im KZ Dachau muss für Eugen Bernheimer, der am 1. Weltkrieg als deutscher Soldat (Gefreiter) teilgenommen hatte, traumatisierend gewesen sein. Auch in späteren Jahren konnte er über diese schlimme Zeit nicht sprechen.

Selma, Margot und Eugen Bernheimer 1938

Der Zwangsverkauf des Betriebs und die Flucht

Mit der Internierung der jüdischen Männer im Konzentrationslager beabsichtigten die Nazis auch, die darunter befindlichen Betriebseigentümer zum Verkauf zu zwingen.
In einer Restitutionsakte schreibt Eugen Bernheimer nach dem Krieg dazu:
„Einer der Haupt-Interessenten war Erwin Riek, alter PG (= Parteimitglied der NSDAP) mit goldenem Partei-Abzeichen, damaliger Leiter von ‚Kraft durch Freude‘ in Göppingen, ein persönlicher Freund des damaligen Ober-Bürgermeisters Pack. Von der Parteileitung wurde dann (…) veranlasst, dass ich befreit wurde, um den sogenannten Verkauf meines Geschäftes & Anwesens zu betreiben. Wer vom Konzentrationslager nach Hause kam und verhüten wollte, nochmals interniert zu werden, hatte keine andere Wahl, als sich dem Zwang der Partei zu beugen und dem Mann sein Eigentum abzugeben, der von der Partei als Käufer vorgesehen war. Das war in meinem Falle Erwin Riek. Von Freiwilligkeit in meinem Falle konnte keine Rede sein, es geschah alles unter Zwang.“

Vom Verkaufserlös, der ohnehin unter Wert erfolgt war, blieb der Familie nach Begleichung verschiedener Zwangsabgaben nichts mehr übrig. Am 15. Mai 1939 konnten Selma, Eugen und Margot Bernheimer in die USA/New York flüchten – die beiden älteren Töchter waren schon seit 1938 in den Staaten. Margot Karp, geb. Bernheimer erinnerte sich 2013: „Wir durften Möbel und Kleidung abschicken, aber nichts Wertvolles, und jeder konnte nur 10 Mark mitnehmen“.

Die Jahre in New York

Die Familie Bernheimer hatte das Glück, in New York auf Verwandte zu treffen, die dort schon seit den 1920er Jahren lebten: So konnte die geflüchtete Familie zunächst bei Selmas Halbbruder Fred Simon wohnen. Eugen Bernheimer fand eine Arbeit als kaufmännischer Angestellter, auch die beiden älteren Töchter Anneliese und Beate konnten zu den (knappen) Familieneinkünften beitragen. Die jüngste Tochter Margot besuchte wieder eine Schule, es fehlte der Familie aber das Geld, sie trotz guter Abschlussnoten auf eine Universität zu schicken. Vergeblich versuchte Eugen Bernheimer das ‚Borato‘-Rezept an einen amerikanischen Spirituosenhersteller zu verkaufen.

Eugene und Selma Bernheim 1950

Im Jahr 1945 erhielten Selma und Eugen Bernheimer die US-amerikanische Staatsbürgerschaft und änderten ihren Familiennamen in ‚Bernheim‘. Anneliese, Beate und Margot Bernheimer erlernten Berufe, heirateten und bekamen Kinder. Eugene Bernheim (Eugen Bernheimer) starb im Jahr 1970, Selma im Jahr 1981. Inzwischen sind auch die drei Töchter hochbetagt gestorben.

Ann Schwartz, geb. Bernheimer, Margot Karp, geb. Bernheimer,
Bea Kandell, geb. Bernheimer im Jahr 2010 (von links)

Mit Margot Karp, geb. Bernheimer stand die Initiative Stolpersteine in engem Kontakt und wir verdanken ihr wichtige Erinnerungen aus ihrer Göppinger Kindheit und Jugend.

Restitution

Eugene Bernheim erhielt 1949 sein Haus in der Geislinger Str. 3 zurück; vom Warenlager und weiteren Gütern war aber kaum mehr etwas vorhanden. Die Geld-Abwertung in Folge der Währungsreform führte dazu, dass der beraubten Familie nur einige Tausend DM zurück erstattet wurden. Im Jahr 1952 verkaufte Eugene Bernheim das Haus mit Grundstück an die Stadt Göppingen, die das Haus in den 1970er Jahren abreißen ließ.

Ermordete Verwandte

Eugen Bernheimers ältere Schwestern Hermine Bernheimer und Rosa Frei, geb. Bernheimer lebten während der NS-Zeit in München. Beide wurden im Juni 1942 in das Ghetto KZ Theresienstadt deportiert, wo Hermine aufgrund der mörderischen Lebensverhältnisse am 7. Oktober 1943 starb. Vor einiger Zeit wurde ein Silberbecher aus dem Besitz von Hermine Bernheimer identifiziert. Die Angehörigen stifteten das Erinnerungsstück dem Jüdischen Museum Jebenhausen.

Rosa hatte das Glück, im Februar 1945 von der Schweiz frei gekauft zu werden. Die von der Lagerhaft geschwächte 85-Jährige starb aber im Mai 1946 in der Schweiz.

Rosa Frei (schlafend) nach der Ankunft in der Schweiz
1945: unbekannt, Rosa Frei, Beate Bernheimer, Hermine Bernheimer (von links)

Auch aus der Familie von Selma Bernheimer, geb. Simon gab es Opfer zu beklagen: Ihre in Göppingen lebende (angeheiratete) Tante Helene Simon sowie ihre Cousine Sofie Simon wurden von den Nazi-Deutschen ermordet, weiterhin entfernte Verwandte aus der Familie Dettelbacher.

Am 30. September 2023 wurden in Göppingen am Haus Geislinger Str. 2 fünf Stolpersteine für die geflohene Familie Bernheimer gelegt.

Feierliche Verlegung der Stolpersteine

Die Zeremonie wurde von den Cousinen Ellen Kandell, Naomi Karp und Rachel Schwartz mitgestaltet, deren Ansprachen hier zu lesen sind.

Rachel Schwartz, Naomi Karp und Ellen Kandell (von links)

Die Initiative Stolpersteine Göppingen e.V. dankt herzlich für das Vertrauen und für die Informationen und Fotos aus der Familie.

Weitere Informationen zur Familie Bernheimer und den von ihr hergestellten Spirituosen findet man in der Broschüre von Hans Mayer: Die Firma Bernheimer und der Göppinger Kräutergeist „Borato“ (ISBN 978-3-933844-68-2).

(31.01.2024 kmr)